Donnst. 5. 9.
[—] ⇧ Colli zurück! 1 [—] {48} a ⇧ Wedekinds „Frühlingserwachen” (nach Zeitungsberichten) 2 Es kann nicht Sache des dramatischen Dichters sein, die Natur u. ihre Kräfte allein auf die Bühne zu bringen. Was sollte denn eine dramatische Dichtung bedeuten, deren Kern z.B. in einer Erdbebenkatastrophe wurzelt? Ebensowenig aber sind auch jene Naturgewalten welche im Menschen sich ausdrücken, wie z.B. Pubertät Gegen- {48} b stand des Dramas. Alle Menschen sind sich darüber doch wohl einig, daß es kein Entrinnen vor ihnen gibt, u. daß es auch kein Verschulden bedeutet, wenn Einer ihnen erliegt, sofern nämlich die Natur selbst ihn nicht mit genügendem Widerstand dagegen ausgerüstet hat. Eine Anklage wider die Natur aber von seiten des Dichters, was soll diese den Menschen nützen? Zur Aufklärung einerseits überflüssig, ist sie andererseits zur Verbesserung der Lage leider zu ungenügend. Daher hatten von jeher die dramatischen Dichter das Verlangen, Menschen zu zeigen, die mindestens soweit reif geworden sind, daß sie auch schon das eigentümliche Secret, genannt „der freie Wille“ ausscheiden konnten. Mag dieses Secret ja auch nur wieder blos ein Stück Natur sein (also nicht ganz richtig ein freier Wille, vielmehr in Wahrheit wieder nur ein unfreier Wille,) so hat gerade die Ausbildung dieses kleinen u. kleinsten Ausschnittes der Natur in uns allein noch als Aufgabe einer Selbsterziehung oder der allgemeinen Erziehung der Menschheit zur Kultur zu gelten. Unseren Willen gegen die große, gewaltige Uebermacht der übrigen Natur in uns, wie den unserer Triebe u. Leidenschaften, immer kampffähiger zu machen, ist daher Aufgabe der grossen Dichter. Der Wille soll gleichsam gedehnt werden u. zw. auf Kosten der Triebe. Daher soll der Zuschauer vom Dichter nur Willensausschnitte zu sehen bekommen; nur daran allein kann er dann Nutzen ziehen, nur daran allein kann er sich erbauen, während die Betrachtung der Natur allein ihn ja gar nicht fördert u. nur eine leidige Tautologie seiner eigenen Erkenntnis bildet. Die Gefahren der Pubertät auf der Bühne zu zeigen, wie es Wedekind tut, ist somit undichterisch u. überflüssig. War doch jeder von uns in seinem Leben einmal {49} davon bedroht, ‒ u. niemand kann ihnen in aller Zukunft entgehen. Wo aber so wenig Wille gegenüber der Natur übrigbleibt, wie in einem solchen Falle, was soll dem Menschen vom eigenen Erlebnis auch noch eine Projection auf der Bühne taugen, da diese doch nur wieder unsere Hinfälligkeit zeigt, ohne einen möglichen Weg zur Hilfe u. daher ohne Trost? © Transcription Ian Bent, 2017 |
Thursday, September 5
[—] ⇧ The Collis have returned! 1 [—] {48} a ⇧ Wedekind's Spring Awakening (in light of newspaper reports) 2 It cannot be the job of the playwright to bring to the stage solely Nature and its powers. What then should be signified by a play the core of which is rooted, for example, in an earthquake catastrophe. But equally unsuited as subject matter {48} b for a play are also those forces of Nature that assert themselves in man, forces such as puberty. Everybody is surely in agreement that there is no escaping them, and that no fault is to be attributed to anyone who succumbs to them provided that Nature itself has not equipped him with adequate resistance against them. But what use to people is an accusation against Nature on the part of the playwright? On the one hand as enlightenment it is superfluous, while on the other hand for improving the situation it is woefully inadequate. Accordingly, playwrights have from time immemorial longed to show people who have matured at least sufficiently to be able to distinguish the peculiar secret known as "free will." Even though this secret may be nothing more than a product of Nature (hence it cannot quite correctly be called free will; in truth, much better would be to call it merely unfree will), nonetheless precisely the cultivating of this small, this most insignificant fragment of Nature must, in us alone, constitute a task of self-education, or of the general education of mankind, toward culture. The task of the great playwrights is therefore to make our will, as too that of our impulses and passions, evermore fit for action against the vast, overwhelming power of the rest of Nature in us. Our will should, so to speak, be extended, even at the cost of our impulses. Accordingly, the spectator should be allowed by the playwright to see only fragments of the will; by that alone can he draw benefit, by that alone can he be edified, whereas the observation of Nature alone fosters absolutely nothing in him, and only offers a tiresome tautology of what he already knows. To display the dangers of puberty on the stage, as Wedekind does, is therefore unpoetic and superfluous. Was any of us ever in his life {49} threatened by them ‒ and no one can at any future time avoid them. Where, however, so little will remains in the face of Nature, as in such a case, what value is there still for man in a projection on the stage of his own life experience, since the latter shows again only our frailty without any possible way to help and accordingly without comfort? © Translation Ian Bent, 2017 |
Donnst. 5. 9.
[—] ⇧ Colli zurück! 1 [—] {48} a ⇧ Wedekinds „Frühlingserwachen” (nach Zeitungsberichten) 2 Es kann nicht Sache des dramatischen Dichters sein, die Natur u. ihre Kräfte allein auf die Bühne zu bringen. Was sollte denn eine dramatische Dichtung bedeuten, deren Kern z.B. in einer Erdbebenkatastrophe wurzelt? Ebensowenig aber sind auch jene Naturgewalten welche im Menschen sich ausdrücken, wie z.B. Pubertät Gegen- {48} b stand des Dramas. Alle Menschen sind sich darüber doch wohl einig, daß es kein Entrinnen vor ihnen gibt, u. daß es auch kein Verschulden bedeutet, wenn Einer ihnen erliegt, sofern nämlich die Natur selbst ihn nicht mit genügendem Widerstand dagegen ausgerüstet hat. Eine Anklage wider die Natur aber von seiten des Dichters, was soll diese den Menschen nützen? Zur Aufklärung einerseits überflüssig, ist sie andererseits zur Verbesserung der Lage leider zu ungenügend. Daher hatten von jeher die dramatischen Dichter das Verlangen, Menschen zu zeigen, die mindestens soweit reif geworden sind, daß sie auch schon das eigentümliche Secret, genannt „der freie Wille“ ausscheiden konnten. Mag dieses Secret ja auch nur wieder blos ein Stück Natur sein (also nicht ganz richtig ein freier Wille, vielmehr in Wahrheit wieder nur ein unfreier Wille,) so hat gerade die Ausbildung dieses kleinen u. kleinsten Ausschnittes der Natur in uns allein noch als Aufgabe einer Selbsterziehung oder der allgemeinen Erziehung der Menschheit zur Kultur zu gelten. Unseren Willen gegen die große, gewaltige Uebermacht der übrigen Natur in uns, wie den unserer Triebe u. Leidenschaften, immer kampffähiger zu machen, ist daher Aufgabe der grossen Dichter. Der Wille soll gleichsam gedehnt werden u. zw. auf Kosten der Triebe. Daher soll der Zuschauer vom Dichter nur Willensausschnitte zu sehen bekommen; nur daran allein kann er dann Nutzen ziehen, nur daran allein kann er sich erbauen, während die Betrachtung der Natur allein ihn ja gar nicht fördert u. nur eine leidige Tautologie seiner eigenen Erkenntnis bildet. Die Gefahren der Pubertät auf der Bühne zu zeigen, wie es Wedekind tut, ist somit undichterisch u. überflüssig. War doch jeder von uns in seinem Leben einmal {49} davon bedroht, ‒ u. niemand kann ihnen in aller Zukunft entgehen. Wo aber so wenig Wille gegenüber der Natur übrigbleibt, wie in einem solchen Falle, was soll dem Menschen vom eigenen Erlebnis auch noch eine Projection auf der Bühne taugen, da diese doch nur wieder unsere Hinfälligkeit zeigt, ohne einen möglichen Weg zur Hilfe u. daher ohne Trost? © Transcription Ian Bent, 2017 |
Thursday, September 5
[—] ⇧ The Collis have returned! 1 [—] {48} a ⇧ Wedekind's Spring Awakening (in light of newspaper reports) 2 It cannot be the job of the playwright to bring to the stage solely Nature and its powers. What then should be signified by a play the core of which is rooted, for example, in an earthquake catastrophe. But equally unsuited as subject matter {48} b for a play are also those forces of Nature that assert themselves in man, forces such as puberty. Everybody is surely in agreement that there is no escaping them, and that no fault is to be attributed to anyone who succumbs to them provided that Nature itself has not equipped him with adequate resistance against them. But what use to people is an accusation against Nature on the part of the playwright? On the one hand as enlightenment it is superfluous, while on the other hand for improving the situation it is woefully inadequate. Accordingly, playwrights have from time immemorial longed to show people who have matured at least sufficiently to be able to distinguish the peculiar secret known as "free will." Even though this secret may be nothing more than a product of Nature (hence it cannot quite correctly be called free will; in truth, much better would be to call it merely unfree will), nonetheless precisely the cultivating of this small, this most insignificant fragment of Nature must, in us alone, constitute a task of self-education, or of the general education of mankind, toward culture. The task of the great playwrights is therefore to make our will, as too that of our impulses and passions, evermore fit for action against the vast, overwhelming power of the rest of Nature in us. Our will should, so to speak, be extended, even at the cost of our impulses. Accordingly, the spectator should be allowed by the playwright to see only fragments of the will; by that alone can he draw benefit, by that alone can he be edified, whereas the observation of Nature alone fosters absolutely nothing in him, and only offers a tiresome tautology of what he already knows. To display the dangers of puberty on the stage, as Wedekind does, is therefore unpoetic and superfluous. Was any of us ever in his life {49} threatened by them ‒ and no one can at any future time avoid them. Where, however, so little will remains in the face of Nature, as in such a case, what value is there still for man in a projection on the stage of his own life experience, since the latter shows again only our frailty without any possible way to help and accordingly without comfort? © Translation Ian Bent, 2017 |
Footnotes1 The Collis: unknown. They had visited Schenker in Steinach am Brenner on July 14. A postscript to an undated letter to Moriz Violin (= OJ 6/4, [38]), but apparently written on September 4, reads: "Colli noch nicht da!" ("The Collis are not yet back."). 2 Frank Wedekind: Frühlings Erwachen: Eine Kindertragödie (1890/91), Wedekind's first major play, premiered in Berlin on November 20, 1906, and performed at the Theater an der Wien on September 4 and 5, 1907. The main theme of the play is puberty and sexual curiosity, psychological instability and social intolerance. Schenker's essay is clearly in reaction to Raoul Auernheimer's "Frühlingserwachen," Feuilleton, Neue freie Presse, 15457, September 3, 1907, pp. 1‒3, and reviews in other papers. The essay is placed at the end of the diary month on pp. 48a, 48b and 49, and is undated as to the day, but has been editorially placed here under the entry for September 5 to allow for reviews to have appeared and been read by Schenker. This item also appears in Series B of Schenker's diary on pp. 17‒19, undated as to day, in Heinrich's hand and heavily revised by him. The essay is quoted almost entire in Federhofer, Heinrich Schenker nach Tagebüchern ... (1985), pp. 297‒98. |