11. IV
Brief v. einem gewissen KDr. K. E. Neumann betreffs der Bdur-Variation im Finale der „IX.“. Wie schwer sich doch selbst geneigte Leser in das absolut Musikalische einfinden! Der Tonartwechsel u. dessen Sinn, die Einstellung der Variation trotz gegenteiligem äußeren Schein in der Partitur, kurz Momente, die das Bdur-Stück in das Ganze eingliedern helfen, wodurch letzteres an Uebersichtlichkeit gewinnt, genügt nicht u. bei aller Dankbarkeit für das Gebotene will der Briefschreiber doch noch etwas Metaphysik. Wie wenig mag er, freilich unbewußt, die eigentliche Bedeutung meiner Arbeit würdigen! 1 *Eulenberg: Vier Einacter „Ernste Schwänke“. 2 Bis auf den zweiten Schwank: „Die Geschwister“ streng nach dem Leben, ja mehr als das, sogar Schlüsselstücke. So bringt der erste Schwank das Gelingen einer Rembrandt-Fälschung, wobei der Kunsthändler, wie der Geheimrat deutlich Berlin entnommen sind. Der Titel des ersten Schwankes könnte ebenso gut der des dritten sein, indem in dem ein Apotheker ein Heilmittel creirt u. lanciert. Allerdings heben vielfach gelungene Verse diese Stückchen aus der journalistischen Sphäre, wohin sie eigentlich gehören. Das Thema des vierten Schwankes „die Wunderkur“ hat ungleich viel schlichter u. tiefer Schnitzler in seinem „Parazelsus“ dargestellt: Die Heilung einer Ehe dadurch, daß die Ursache des Zerwürfnisses erkannt u. schon durch die Erkenntnis allein beseitigt wird. Freilich kommen die Eheleute selbst – u. dies ist ja die Tragödie der meisten Ehen u. Freundschaften – nicht selbst auf die Ur- {331} sache, u. erst ein Dritter vollzieht die psychische Operation. Der gelungenste Schwank ist wohl der zweite „die Geschwister“, der eine ganz mutwillige Voraussetzung bringt. Eben diese Mutwilligkeit für die Ausführung erinnert an die Technik früherer künstlerisch stärkerer Epochen, insbesondere an Verwechslungskomödien bei von Shakespeare: Zweifel an der Wahrheit der gegebenen Voraussetzung bleiben Nebensache; es wäre schließlich dem Dichter möglich gewesen, realere Voraussetzung seiner Idee zu finden, aber für die Ausdruckskraft der letzteren waren ihm die drastischsten u. übertriebensten gerade gut genug. Es bleibt ja dem Zuhörer oder Leser unbenommen, die in bezug auf Realität etwas zu willkürliche Voraussetzung aus Eigenem zu mildern. Hauptsache ist ja der Nachdruck, den die Idee empfängt. Dieser Schwank mag am besten als „archaisierend“ bezeichnet werden, welche Künstlichkeit offenbar auf das Streben Eulenbergs zurückzuführen ist, den Klassikern eine Renaissance zu bieten. – Aus dem ersten Schwank: Die Welt will betrogen werden, S. 25:
Der Maler: „Der wahre Genius hat es nicht eilig“
—
{332} Aus dem Briefwechsel zwischen Tolstoi u. Shaw: 3 Tolstoi, 18. August 1908: „… hat mir besonders Ihre Art Civilisation u. Fortschritt zu beleuchten gefallen. Sie haben mit ihrer Behauptung sehr Recht, daß beide, wie sehr sie sich auch entwickeln mögen, doch die Lage der Menschheit niemals verändern könnten, wenn die Menschen selbst sich nicht veränderten. …. Sie sind nicht genug ernst. Man sollte niemals von Angelegenheiten, wie dem Sinn des menschlichen Daseins u. den Ursachen der Verdorbenheit unseres Zeitalters scherzend sprechen. Aus ihrem Buch erkenne ich die Sucht in Erstaunen zu setzen, die Leser durch große Gelehrsamkeit, Talent u. Geist zu verblüffen. ….. Shaw: 14 Februar 1910. …. Wir schämen uns alle dessen, was die Grundlage unserer Selbstachtung sein sollte. … Wir ermahnen die Menschen gut zu sein, ohne ihnen dafür einen tieferen Grund anzugeben, als die Meinung anderer Menschen, die ihnen weder sympathisch, noch Respekt verdienend erscheinen, sondern selbst noch lächerlich vorkommen. …. Es will mir scheinen, daß der eigentliche Grund dafür, daß wir uns weigern den Ratschlägen unserer Väter nachzukommen darin liegt: – daß wir – alle unter uns unseren Vätern nicht ähnlich sein wollen. War es doch die Absicht des Universums, uns nach dem Bild Gottes u. nicht nach dem unserer Väter zu formen. ….. Warum sollten Lachen u. Humor ausgeschlossen sein? Nehmen Sie an, die Welt wäre einfach nur ein Spaß Gottes; sollte man dann nicht trachten, aus einem schlechten Spaß einen guten zu machen? Tolstoi’s Antwort: 15. April 1910. ….. u. deshalb gestehe ich Ihnen offen ein, daß mich die Schlußworte Ihres Briefes äußerst peinlich berührten. … *{333} © Transcription Marko Deisinger. |
April 11.
Letter from a certain Dr. K. E. Neumann concerning the variation in B flat major in the finale of the Ninth Symphony . How difficult indeed it is for the self-motivated reader to come to terms with the absolute in music! The change of harmony and its meaning, the character of the variation in spite of a contrary outward appearance in the score – in short, moments that help the B flat major piece fit into the whole, whereby the whole gains in clarity; all this is insufficient. And in spite of all the gratitude he expresses for what was offered, my correspondent would still want some metaphysics. How little is he capable, admittedly without realizing it, of judging the true significance of my work! 1 *Eulenberg: four one-act plays, Serious Farces. 2 Except for the second farce, The Siblings, strictly true to life – indeed more than that, even works of major importance. Thus the first farce concerns the successful Rembrandt forgery, whereby the art dealer and the privy councilor are obviously taken from [an incident that occurred in] Berlin. The title of the first farce could just as well be that of the third, in which a pharmacist creates and launches an elixir. At any rate, these little pieces often take lines from the sphere of journalism, where they actually belong. The theme of the fourth farce, The Magic Cure, has been treated much more cleverly and deeply by Schnitzler in his Paracelsus: the healing of a marriage whereby the origin of the quarrel is recognized and already resolved by recognition alone. Of course the married couple – and this is indeed the tragedy of most marriages and friendships – do not themselves recognize the cause; {331} only a third person is able to achieve the psychic operation. The most successful farce is probably the second, The Siblings, which is based on a thoroughly mischievous premise. This very mischievousness in the realization is reminiscent of the technique of earlier, artistically stronger eras, especially Shakespearean comedies of mistaken identity: doubts about the truth of the given premise remain secondary matters: it would in the end have been possible for the poet to find a more realistic premise for his idea, but for the power of expression of that idea, the most drastic and exaggerated are quite good enough. The theatergoer or reader is of course at liberty to temper in his own way the somewhat too arbitrary premise, viewed from the perspective of reality. But the main thing is the emphasis that the idea receives. This farce may, at best, be described as "archaizing," an artificiality that is evidently traceable to Eulenberg's efforts at offering a renaissance to the classics. – From the first farce, The World Wants to be Betrayed, p. 25:
THE PAINTER: The true genius is not in a hurry.
—
{332} From the correspondence between Tolstoy and Shaw. 3 Tolstoy, August 18, 1908: "… I particularly enjoyed your way of shedding light on civilization and progress. You are quite right in maintaining that the two, however much they may develop, can never change the condition of humanity so long as people themselves do not change. … They are not sufficiently serious. One should never speak jokingly of matters such as the meaning of human existence and the causes of the degeneracy of our age. From your book I recognize the craving to surprise, to baffle readers by great learnedness, talent and intellect. … Shaw, February 14, 1910. …. We are ashamed of all those things which ought to be the basis of our self-esteem. … We urge people to be good, without indicating to them a better reason for this than the opinion of other people that are neither agreeable to them nor appear to have earned their respect, but rather themselves still appear ludicrous. … It seems to me that the actual reason why we hesitate to follow the advice of our fathers is this: that we, all of us, do not want to be like our fathers. But it was the intention of the universe that we should be formed according to the image of God and not according to that of our fathers. … Why should laughter and humor be excluded? Suppose that the world were simply a jest on God's part; should one not then aspire to make a good joke from a bad one? Tolstoy's answer: April 15, 1910. … and therefore I freely admit to you that the closing words of your letter touched me extremely painfully. … *{333} © Translation William Drabkin. |
11. IV
Brief v. einem gewissen KDr. K. E. Neumann betreffs der Bdur-Variation im Finale der „IX.“. Wie schwer sich doch selbst geneigte Leser in das absolut Musikalische einfinden! Der Tonartwechsel u. dessen Sinn, die Einstellung der Variation trotz gegenteiligem äußeren Schein in der Partitur, kurz Momente, die das Bdur-Stück in das Ganze eingliedern helfen, wodurch letzteres an Uebersichtlichkeit gewinnt, genügt nicht u. bei aller Dankbarkeit für das Gebotene will der Briefschreiber doch noch etwas Metaphysik. Wie wenig mag er, freilich unbewußt, die eigentliche Bedeutung meiner Arbeit würdigen! 1 *Eulenberg: Vier Einacter „Ernste Schwänke“. 2 Bis auf den zweiten Schwank: „Die Geschwister“ streng nach dem Leben, ja mehr als das, sogar Schlüsselstücke. So bringt der erste Schwank das Gelingen einer Rembrandt-Fälschung, wobei der Kunsthändler, wie der Geheimrat deutlich Berlin entnommen sind. Der Titel des ersten Schwankes könnte ebenso gut der des dritten sein, indem in dem ein Apotheker ein Heilmittel creirt u. lanciert. Allerdings heben vielfach gelungene Verse diese Stückchen aus der journalistischen Sphäre, wohin sie eigentlich gehören. Das Thema des vierten Schwankes „die Wunderkur“ hat ungleich viel schlichter u. tiefer Schnitzler in seinem „Parazelsus“ dargestellt: Die Heilung einer Ehe dadurch, daß die Ursache des Zerwürfnisses erkannt u. schon durch die Erkenntnis allein beseitigt wird. Freilich kommen die Eheleute selbst – u. dies ist ja die Tragödie der meisten Ehen u. Freundschaften – nicht selbst auf die Ur- {331} sache, u. erst ein Dritter vollzieht die psychische Operation. Der gelungenste Schwank ist wohl der zweite „die Geschwister“, der eine ganz mutwillige Voraussetzung bringt. Eben diese Mutwilligkeit für die Ausführung erinnert an die Technik früherer künstlerisch stärkerer Epochen, insbesondere an Verwechslungskomödien bei von Shakespeare: Zweifel an der Wahrheit der gegebenen Voraussetzung bleiben Nebensache; es wäre schließlich dem Dichter möglich gewesen, realere Voraussetzung seiner Idee zu finden, aber für die Ausdruckskraft der letzteren waren ihm die drastischsten u. übertriebensten gerade gut genug. Es bleibt ja dem Zuhörer oder Leser unbenommen, die in bezug auf Realität etwas zu willkürliche Voraussetzung aus Eigenem zu mildern. Hauptsache ist ja der Nachdruck, den die Idee empfängt. Dieser Schwank mag am besten als „archaisierend“ bezeichnet werden, welche Künstlichkeit offenbar auf das Streben Eulenbergs zurückzuführen ist, den Klassikern eine Renaissance zu bieten. – Aus dem ersten Schwank: Die Welt will betrogen werden, S. 25:
Der Maler: „Der wahre Genius hat es nicht eilig“
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{332} Aus dem Briefwechsel zwischen Tolstoi u. Shaw: 3 Tolstoi, 18. August 1908: „… hat mir besonders Ihre Art Civilisation u. Fortschritt zu beleuchten gefallen. Sie haben mit ihrer Behauptung sehr Recht, daß beide, wie sehr sie sich auch entwickeln mögen, doch die Lage der Menschheit niemals verändern könnten, wenn die Menschen selbst sich nicht veränderten. …. Sie sind nicht genug ernst. Man sollte niemals von Angelegenheiten, wie dem Sinn des menschlichen Daseins u. den Ursachen der Verdorbenheit unseres Zeitalters scherzend sprechen. Aus ihrem Buch erkenne ich die Sucht in Erstaunen zu setzen, die Leser durch große Gelehrsamkeit, Talent u. Geist zu verblüffen. ….. Shaw: 14 Februar 1910. …. Wir schämen uns alle dessen, was die Grundlage unserer Selbstachtung sein sollte. … Wir ermahnen die Menschen gut zu sein, ohne ihnen dafür einen tieferen Grund anzugeben, als die Meinung anderer Menschen, die ihnen weder sympathisch, noch Respekt verdienend erscheinen, sondern selbst noch lächerlich vorkommen. …. Es will mir scheinen, daß der eigentliche Grund dafür, daß wir uns weigern den Ratschlägen unserer Väter nachzukommen darin liegt: – daß wir – alle unter uns unseren Vätern nicht ähnlich sein wollen. War es doch die Absicht des Universums, uns nach dem Bild Gottes u. nicht nach dem unserer Väter zu formen. ….. Warum sollten Lachen u. Humor ausgeschlossen sein? Nehmen Sie an, die Welt wäre einfach nur ein Spaß Gottes; sollte man dann nicht trachten, aus einem schlechten Spaß einen guten zu machen? Tolstoi’s Antwort: 15. April 1910. ….. u. deshalb gestehe ich Ihnen offen ein, daß mich die Schlußworte Ihres Briefes äußerst peinlich berührten. … *{333} © Transcription Marko Deisinger. |
April 11.
Letter from a certain Dr. K. E. Neumann concerning the variation in B flat major in the finale of the Ninth Symphony . How difficult indeed it is for the self-motivated reader to come to terms with the absolute in music! The change of harmony and its meaning, the character of the variation in spite of a contrary outward appearance in the score – in short, moments that help the B flat major piece fit into the whole, whereby the whole gains in clarity; all this is insufficient. And in spite of all the gratitude he expresses for what was offered, my correspondent would still want some metaphysics. How little is he capable, admittedly without realizing it, of judging the true significance of my work! 1 *Eulenberg: four one-act plays, Serious Farces. 2 Except for the second farce, The Siblings, strictly true to life – indeed more than that, even works of major importance. Thus the first farce concerns the successful Rembrandt forgery, whereby the art dealer and the privy councilor are obviously taken from [an incident that occurred in] Berlin. The title of the first farce could just as well be that of the third, in which a pharmacist creates and launches an elixir. At any rate, these little pieces often take lines from the sphere of journalism, where they actually belong. The theme of the fourth farce, The Magic Cure, has been treated much more cleverly and deeply by Schnitzler in his Paracelsus: the healing of a marriage whereby the origin of the quarrel is recognized and already resolved by recognition alone. Of course the married couple – and this is indeed the tragedy of most marriages and friendships – do not themselves recognize the cause; {331} only a third person is able to achieve the psychic operation. The most successful farce is probably the second, The Siblings, which is based on a thoroughly mischievous premise. This very mischievousness in the realization is reminiscent of the technique of earlier, artistically stronger eras, especially Shakespearean comedies of mistaken identity: doubts about the truth of the given premise remain secondary matters: it would in the end have been possible for the poet to find a more realistic premise for his idea, but for the power of expression of that idea, the most drastic and exaggerated are quite good enough. The theatergoer or reader is of course at liberty to temper in his own way the somewhat too arbitrary premise, viewed from the perspective of reality. But the main thing is the emphasis that the idea receives. This farce may, at best, be described as "archaizing," an artificiality that is evidently traceable to Eulenberg's efforts at offering a renaissance to the classics. – From the first farce, The World Wants to be Betrayed, p. 25:
THE PAINTER: The true genius is not in a hurry.
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{332} From the correspondence between Tolstoy and Shaw. 3 Tolstoy, August 18, 1908: "… I particularly enjoyed your way of shedding light on civilization and progress. You are quite right in maintaining that the two, however much they may develop, can never change the condition of humanity so long as people themselves do not change. … They are not sufficiently serious. One should never speak jokingly of matters such as the meaning of human existence and the causes of the degeneracy of our age. From your book I recognize the craving to surprise, to baffle readers by great learnedness, talent and intellect. … Shaw, February 14, 1910. …. We are ashamed of all those things which ought to be the basis of our self-esteem. … We urge people to be good, without indicating to them a better reason for this than the opinion of other people that are neither agreeable to them nor appear to have earned their respect, but rather themselves still appear ludicrous. … It seems to me that the actual reason why we hesitate to follow the advice of our fathers is this: that we, all of us, do not want to be like our fathers. But it was the intention of the universe that we should be formed according to the image of God and not according to that of our fathers. … Why should laughter and humor be excluded? Suppose that the world were simply a jest on God's part; should one not then aspire to make a good joke from a bad one? Tolstoy's answer: April 15, 1910. … and therefore I freely admit to you that the closing words of your letter touched me extremely painfully. … *{333} © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Schenker published Neumann's letter in the "Miscellanea" of Der Tonwille, issues 8/9 (Eng. edn, vol. 2, p. 120; Ger. edn, pp. 52–53), on the occasion of the Ninth Symphony's centennial year (1924) and nine years after the death of his correspondent, a celebrated Indologist and the first scholar to translate the Buddha's writings into a European language. 2 Herbert Eulenberg, Ernste Schwänke. Vier Einakter [Serious Farces: Four One-act Plays] (Leipzig. Kurt Wolff, 1913). 3 "Tolstoï et Shaw d'après leur échange de lettres," originally published in La grande revue (10 March 1912), pp. 122–28, signed "E. H.–K." The German translation which Schenker quotes here has not been traced. |