31. VIII. 21
In Amstetten wird ein Speisewagen angekoppelt, der uns Gelegenheit zu einem Frühstück gibt. — Gespräch mit einem jungen, einem wohlhabenden Hause entstammenden Studiosus, in dem ich unter Beifall zweier zur Wiener Messe reisender Schweizer Kaufleute die Ueberschätzung des Westens zu dämpfen suche. — In Wien langen wir gegen ¼11h an; ein Einspänner lehnt uns wegen des Koffers ab, wir müssen daher einen Zweispänner benutzen: 550 Kronen. Die Wohnung finden wir unversehrt u. wir geben der Hausbesorgerin die versprochenen 1000 Kronen. Nun sind wir in unserem Heim. Zum erstenmal konnten wir beide in dieselbe Wohnung, dieselben Zimmer uns begeben nach so vielen Jahren des Auseinandergerissenseins, eine Erfüllung, die umso glücklicher macht, als sie so schwer erworben wurde. Was werden nicht Kräfte gespart, Lie-Liechen u. mir, die wir nun in bessere Zwecke münden lassen können; hätte ich doch z. B. die Fülle der Arbeit nicht leisten können, die ich tatsächlich im Juni geleistet habe, wenn wir nicht zur Vereinigung gelangt wären. Daß der Tag des Glückes so spät gekommen ist, in meinen Leben ja zum erstenmal, muß im Grunde wehmütig stimmen. Desto kräftiger dringt das verlangen vor, die Jahre ordentlich zu nutzen, zum Wohle der Menschheit u. der Kunst. In den ersten Wochen des Hierseins konnten wir beide noch gar nicht zum Bewußtsein u. zum Genusse des Glückes kommen, so arg hatten uns die Schwierigkeiten des Umzugs, vom Vorausgegangenen gar nicht zu sprechen, zugerichtet; wir waren immerzu in Bewegung, gleichsam Treibriemen, u. es mangelte uns an Besinnungsmöglichkeit. Nun winkt uns endlich der Lohn für so viel Entbehrung u. Mühe. Und um eine Zeit, da andern Menschen das Glück schon zu entgleiten pflegt oder durch {2386} Gewohnheit sich abgenützt hat, stehen wir dem Glück mit frischen neuen Nerven gegenüber, bereit es in uns so voll einströmen zu lassen, als es nur wird haben wollen. In der Tat entspricht unsere Wohnung allen Bedürfnissen, die wir nur hegen. Sie gibt bequeme Möglichkeit zur Arbeit, mir u. Lie-Liechen, zur Ruhe, zum Genuss, sie hat Räume u. Winkel, die sich mit der Zeit hoffentlich mit Segen bedecken werden. — Zu Tisch bei Turetzky, der sich unserer Rückkunft freut ohne zu ahnen, wie bald wir ihm, hoffentlich für immer, verloren gehen. Einen Blick auch ins Caféhaus. Zur Waage in der Apotheke: 70.9 u. 91.7! — Der Schwenkhahn wird gebracht. — Abends erscheint das Mädchen. —© Transcription Marko Deisinger. |
August 31, 1921
In Amstetten a restaurant car is coupled, affording us the opportunity to have breakfast. — Conversation with a young student stemming from a well-to-do home, in which, to the accompaniment of applause from two Swiss businessmen travelling to the Vienna Trade Fair, I seek to dampen his overestimation of the West. — At about 10:15 we arrive in Vienna; a one-horse carriage refuses to take us because of our suitcase, therefore we have to take a carriage and pair: 550 Kronen. We find the apartment unscathed and give the lady concierge the promised 1,000 Kronen. Now we are in our home. For the first time we can both betake ourselves to the same apartment, the same room, after so many years of being torn apart, a fulfillment which makes us all the happier because it has been so difficult to achieve. What forces would not have better been spared Lie-Liechen and myself, forces we will now be able to channel to higher purpose; for example I could not have accomplished the abundance of work I managed in June had we not succeeded in attaining union. That our day of happiness has come so late, in my life for the very first time, must at heart engender melancholy. That is why our desire to use our years properly, for the good of mankind and for the arts, is all the more powerful. In the first weeks of being here, neither of us were able to attain any consciousness or enjoyment of our happiness, such had been the buffeting we had taken, on account the difficulties of the removal, not to mention everything that preceded it; we were incessantly in motion, as if on a conveyor belt, devoid of an opportunity for reflection. Now the wages for so much deprivation and toil were beckoning. And at a time when other people’s happiness has a habit of derailing, or out of {2386} routine has become threadbare, we are standing so close to happiness with nerves afresh and new, ready for it to flow as fully towards us as happiness would have it. In fact, our apartment fulfils all the requirements we could muster. It gives me and Lie-Liechen the opportunity for work in comfort, for quietude, for pleasure; it has rooms and corners which, with the passing of time, will hopefully be carpeted with [our] blessings. — For lunch at Turetzky, who rejoices in our return without divining how soon we will be lost to him, hopefully forever! A glance into the coffee-house. To the scales at the pharmacists: 70.9 and 91.7 kilos! — The swivel tap is brought. — In the evening our maid appears. —© Translation Stephen Ferguson. |
31. VIII. 21
In Amstetten wird ein Speisewagen angekoppelt, der uns Gelegenheit zu einem Frühstück gibt. — Gespräch mit einem jungen, einem wohlhabenden Hause entstammenden Studiosus, in dem ich unter Beifall zweier zur Wiener Messe reisender Schweizer Kaufleute die Ueberschätzung des Westens zu dämpfen suche. — In Wien langen wir gegen ¼11h an; ein Einspänner lehnt uns wegen des Koffers ab, wir müssen daher einen Zweispänner benutzen: 550 Kronen. Die Wohnung finden wir unversehrt u. wir geben der Hausbesorgerin die versprochenen 1000 Kronen. Nun sind wir in unserem Heim. Zum erstenmal konnten wir beide in dieselbe Wohnung, dieselben Zimmer uns begeben nach so vielen Jahren des Auseinandergerissenseins, eine Erfüllung, die umso glücklicher macht, als sie so schwer erworben wurde. Was werden nicht Kräfte gespart, Lie-Liechen u. mir, die wir nun in bessere Zwecke münden lassen können; hätte ich doch z. B. die Fülle der Arbeit nicht leisten können, die ich tatsächlich im Juni geleistet habe, wenn wir nicht zur Vereinigung gelangt wären. Daß der Tag des Glückes so spät gekommen ist, in meinen Leben ja zum erstenmal, muß im Grunde wehmütig stimmen. Desto kräftiger dringt das verlangen vor, die Jahre ordentlich zu nutzen, zum Wohle der Menschheit u. der Kunst. In den ersten Wochen des Hierseins konnten wir beide noch gar nicht zum Bewußtsein u. zum Genusse des Glückes kommen, so arg hatten uns die Schwierigkeiten des Umzugs, vom Vorausgegangenen gar nicht zu sprechen, zugerichtet; wir waren immerzu in Bewegung, gleichsam Treibriemen, u. es mangelte uns an Besinnungsmöglichkeit. Nun winkt uns endlich der Lohn für so viel Entbehrung u. Mühe. Und um eine Zeit, da andern Menschen das Glück schon zu entgleiten pflegt oder durch {2386} Gewohnheit sich abgenützt hat, stehen wir dem Glück mit frischen neuen Nerven gegenüber, bereit es in uns so voll einströmen zu lassen, als es nur wird haben wollen. In der Tat entspricht unsere Wohnung allen Bedürfnissen, die wir nur hegen. Sie gibt bequeme Möglichkeit zur Arbeit, mir u. Lie-Liechen, zur Ruhe, zum Genuss, sie hat Räume u. Winkel, die sich mit der Zeit hoffentlich mit Segen bedecken werden. — Zu Tisch bei Turetzky, der sich unserer Rückkunft freut ohne zu ahnen, wie bald wir ihm, hoffentlich für immer, verloren gehen. Einen Blick auch ins Caféhaus. Zur Waage in der Apotheke: 70.9 u. 91.7! — Der Schwenkhahn wird gebracht. — Abends erscheint das Mädchen. —© Transcription Marko Deisinger. |
August 31, 1921
In Amstetten a restaurant car is coupled, affording us the opportunity to have breakfast. — Conversation with a young student stemming from a well-to-do home, in which, to the accompaniment of applause from two Swiss businessmen travelling to the Vienna Trade Fair, I seek to dampen his overestimation of the West. — At about 10:15 we arrive in Vienna; a one-horse carriage refuses to take us because of our suitcase, therefore we have to take a carriage and pair: 550 Kronen. We find the apartment unscathed and give the lady concierge the promised 1,000 Kronen. Now we are in our home. For the first time we can both betake ourselves to the same apartment, the same room, after so many years of being torn apart, a fulfillment which makes us all the happier because it has been so difficult to achieve. What forces would not have better been spared Lie-Liechen and myself, forces we will now be able to channel to higher purpose; for example I could not have accomplished the abundance of work I managed in June had we not succeeded in attaining union. That our day of happiness has come so late, in my life for the very first time, must at heart engender melancholy. That is why our desire to use our years properly, for the good of mankind and for the arts, is all the more powerful. In the first weeks of being here, neither of us were able to attain any consciousness or enjoyment of our happiness, such had been the buffeting we had taken, on account the difficulties of the removal, not to mention everything that preceded it; we were incessantly in motion, as if on a conveyor belt, devoid of an opportunity for reflection. Now the wages for so much deprivation and toil were beckoning. And at a time when other people’s happiness has a habit of derailing, or out of {2386} routine has become threadbare, we are standing so close to happiness with nerves afresh and new, ready for it to flow as fully towards us as happiness would have it. In fact, our apartment fulfils all the requirements we could muster. It gives me and Lie-Liechen the opportunity for work in comfort, for quietude, for pleasure; it has rooms and corners which, with the passing of time, will hopefully be carpeted with [our] blessings. — For lunch at Turetzky, who rejoices in our return without divining how soon we will be lost to him, hopefully forever! A glance into the coffee-house. To the scales at the pharmacists: 70.9 and 91.7 kilos! — The swivel tap is brought. — In the evening our maid appears. —© Translation Stephen Ferguson. |