[13. ]
November
[This entry is not specifically dated, and could have been written on any day from 12th to 18th] ⇧ Das Böse trägt Widerlegung u. Bestrafung schon in sich selbst: Nicht der gute Mensch ist es also, der die Verfolgung des Bösen aus Gründen etwa der Moral der Religion u. staatlichen Ordnung für notwendig u. unerläßlich hält, vielmehr treibt es der Böse selbst dahin, daß sogar gegen den Willen des Guten seine Bestrafung erfolgen muß. Dieser scheinbar paradoxe Sachverhalt hängt damit zusammen, daß die Duldung seitens der betroffenen guten Menschen den Bösewicht nur desto übermutiger macht, u. ihm geradezu die Versuchung schafft, den geduldeten Missetaten neue hinzuzufügen. Erst die Summe des Schadens macht die Abwehr notwendig. Man denke, daß es selten z.B. einen Börsebesucher gegeben hat, der nach eingestrichenem großen Gewinn sich lediglich dem Genuß des Geldes hingegeben hätte, u. ebensowenig einen Einbrecher, der es blos beim ersten Einbruch bewenden ließe, sofern er ihm keine empfindliche Strafe zuzog. In diesem Sinne ist die Lehre Christi als eine durchaus falsche zu bezeichnen: der Bösewicht bleibt aggressiv auch noch, wenn man ihm die zweite Wange darbietet; 1 ja er vernichtet Leben u. Ehre, wenn man ihm nicht entgegen tritt. Würde es möglich sein schon mit der Duldung allein das Böse aus der Welt zu schaffen, so wäre es freilich zu empfehlen. Bei der unendlichen Aggressivität aber, die im Bösen liegt, ist jener Weg wohl der opportunste, u. klüg- {187} ste, auf dem das Gift auf rascheste Weise paralysiert wird. Wozu denn den langwierigen Prozess erst abwarten, durch den das Böse sich endlich selbst desavouiert? Oder anders: Wenn das Böse seiner Vernichtung sozusagen selbst entgegentreibt, wozu die Verlängerung des Weges u. Hinausschiebung des Vorganges? So behält denn die Lehre Moses gegenüber der Christis Recht, wenn sie predigt: Zahn um Zahn u. Aug um Auge! 2 Nur dieses Verfahren kürzt den Prozess ab, indem sich das Böse vernichtet. Fast neige ich dazu, das alte Testament aus eben diesem Grunde von zwei verschiedenen Epochen abzuleiten: von einer gesunderen älteren, in der noch Aug um Aug als praktische Moral galt, u. einer jüngeren, die sich zum Gebot Liebe deinen nächsten, wie dich selbst bekennt. Nur auf diese Weise läßt sich der Widerspruch der beiden konkurrierenden Moralgrundsätze des alten Testaments erklären, wenn man nicht anders sich damit helfen will, anzunehmen, daß in der Bestrafung des Bösewichts sich wohl auch eine Liebe zu ihm ausdrückt, die ihn auf den rechten Weg führen will, oder daß das Gebot der Nächstenliebe schon durch den Bösewicht selbst gegenstandslos gemacht, auch den zur Nächstenliebe Bereitwilligen von der Pflicht zur Liebe u. Duldung enthebt. *Uebrigens scheitert ja alle Religion u. insbesondere das Gebot der Nächstenliebe an dem Erwerbe der Menschen, der eine Uebervorteilung des Nächsten geradezu organisch in sich einschließt. Man denke nur: An 95% Prozent der Menschheit betreibt kaufmännischen Beruf, d.h. Handel u. Gewerbe u. wer weiß es nicht, daß damit als kaufmännische Moral die Anschauung verknüpft ist, so viel Vorteile als möglich aus den Kunden {188} herauszuschlagen. Man sage nicht, daß es einem einzelnen Kaufmanne möglich sei wäre, gegen den Strom zu schwimmen u. den Nutzen auf der Höhe des Gebotes der Nächstenliebe zu halten, denn ohne Zweifel würde er an der Konkurrenz der Erwerbsgenossen zugrunde gehen, die, durch Ausbeutung an Geldmitteln erstarkt, ihn einfach an die Wand drükken würden. Welche Religion aber vermöchte aus den Menschen höher geartete Wesen zu machen, die nicht immer blos handeln u. schachern. Was sollten denn jene 95 Prozent der Menschheit machen? Blüht nicht erst aus jener [recte jenem] Gelde die Möglichkeit hervor, die Kunst in die Welt zu setzten? *Alle Grundsätze der Moral würden besseren Glauben finden, wenn man ihre Begründung ihnen beigeben würden. Wir sollten dabei die großen Dichter zu Hilfe nehmen, die seit urewigen Zeiten die Moral nicht von Göttern oder Gott ableiten, sondern von eigenen inneren Notwendigkeiten, die ihnen allein zugrunde liegen. Wie leicht ließe sich nachweisen, daß z.B. die Lüge nicht etwa deshalb verboten ist wurde, weil es so subjektive Ansicht des Schöpfers war, sondern nur, weil sich schon von alters her ihr Unpraktisches erwiesen hat. Man kann fast von einem kom[m]erziellen Werte der Wahrheit sprechen, die den Verkehr von Mensch zu Mensch erleichtert u. so auch Geldvorteile schafft. Nur in einer Hinsich möchte ich die Lüge dennoch ausnahmsweise gestatten u. empfehlen: dieses ist dann der Fall, wenn man der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen will, ihre Glaubwürdigkeit aber durch eigene Einsichtslosigkeit des Empfängers der Wahrheit ge- {189} fährdet sich. Da doch nur darauf Rücksicht genommen werden muß, daß die Wirkung der Wahrheit sich äußere, so ist es bei einem solchen Hindernis durchaus geboten, auf dem Umwege über eine Lüge den Geist des Empfängers für die endgiltige Entgegennahme der Wahrheit vorzubereiten, etwa so: Ich wäre, von jemand gebeten worden, irgend einen großen Vorteil durch meine Beziehungen zuzuwenden, u. es erwiese sich, daß ich beim besten Willen dem Wunsche nicht entsprechen konnte, weil es auch jenen Personen, die die Hauptrolle spielen, ebensowenig möglich ist, die Angelegenheit günstig zu erledigen. Wenn ich nun in einem solchen Falle sofort vom wahren Sachverhalte Mitteilung mache, so laufe ich Gefahr, daß mir dieser einfach nicht geglaubt u. lediglich Unfreundlichkeit, Trägheit bei mir angenommen würde; dagegen muß den Eindruck der Wahrheit fördern, wenn ein erster Brief meinerseits die Aktion vermeldet u. zugleich die Andeutung eines möglichen Miserfolges, bis ein zweiter Brief die Erfolglosigkeit, u. diesmal glaubwürdig, darstellt. Daraus folgt, daß es auch bei der Wahrheit um ihre Wirkung als Wahrheit zu tun ist, u. nicht um sie selbst. Die Wahrheit soll wirken u. nicht blos wirkungslos gesprochen oder geschrieben werden. Was im ersten Gebot des Dakalogs von Gott selbst heißt: Du sollst meinen Namen nicht eitel aussprechen, 3 gilt auch von der Wahrheit: auch sie darf nicht eitel geübt werden! *Der Widerspruch, daß selbst gut veranlagte Personen, Frauen oder Kinder, mit ihrem Betragen mehr Vorteile minder würdigen Gatten oder Vätern, als würdigen darbieten, erklärt sich folgendermaßen: Strenge bleibt {190} Strenge, gleichviel, ob sie im Dienste hoher Ideen ein Bismark, oder z.B. ein griechischer Bandit übt; sie ist unter allen Umständen ein Hindernis für den Willen eines anderen. So kommt denn also selbst dem Unwürdigsten Mann oder Vater die Strenge zugute, mit der er Frau oder Kinder niederhält, wobei es völlig gleichgiltig ist, ob sich im gegebenen Fall die Frau oder das Kind im Rechte befindet. Strenge u. deren Folgen sind einfach psychisch-physische Fakta. Betrachten wir dagegen die Güte eines würdigen Gatten oder Vaters, so gestattet sie mindestens einige Willens- u. Aktionsfreiheit der Frau, bezw. dem Kinde. Hiebei geschieht eben auch das Unvermeidliche, daß vermöge der Unreife unter Umständen Frau u. Kind irregehen, durch die Güte des Gatten, bezw. Vaters gleichsam in Freiheit gesetzt, wollen dann Frau oder Kind, selbst irregehend, ihre Freiheit just gegen den gGütigen behaupten, ohne zu bedenken, daß dieses gerade für sie selbst von Nachteil ist. Wehe nun, wenn die Liebe des Mannes oder Vaters zugleich die Schwäche in sich birgt, den Schaden von Frau u. Kind nicht fernhalten zu können. Es ist im Grunde Pflicht gerade des Gütigen, zugleich auch die Strenge zu besitzen, die Irrungen gut zu machen, zu denen ja seine eigene Güte die erste Gelegenheit bietet. Allerdings sei noch bemerkt, daß der Vorteil, den die Strenge für den unwürdigen Gatten oder Vater abwirft, durchaus nicht zu überschätzen sei; denn wahrhaftig, niemals hat je ein dumpfer Gehorsam Wohllaut in das Verhältnis vom Mann zur Frau, vom Vater zum Kinde, gebracht. *© Transcription Ian Bent, 2020 |
November [13]
[This entry is not specifically dated, and could have been written on any day from 12th to 18th] ⇧ Evil harbors refutation and punishment within itself: it is thus not the good person who considers the pursuit of evil to be necessary and imperative on grounds perhaps of morality, religion, and civic order; it is, rather, evil itself that insures -- even against the will of the good person -- that its punishment must be administered. This apparently paradoxical state of affairs is coupled to the fact that tolerance on the part of the good people affected only makes the villain all the more insolent and directly tempts him to add to the misdeeds already tolerated. Only the amount of damage makes defense necessary. Just think: it has seldom been the case that, e.g., a visitor to the Stock Exchange after gaining a large one-time win merely revels in the enjoyment of money; and no more so does a burglar after his first burglary merely leave it at that just so long as he has incurred no serious punishment. On this, Christ's teaching must be declared thoroughly wrong: the villain remains aggressive even when the other cheek is turned to him. 1 Indeed, he annihilates life and honor if he is not confronted. If it were possible by means of tolerance alone to rid the world of evil, then that would obviously be recommended. But in view of the unrelenting aggression intrinsic to evil, the most opportune and the cleverest {187} way is in fact that by which the poison is most quickly paralyzed. Why then wait out the wearisome process whereby evil finally disavows itself? Or put another way: if evil so to speak impels itself toward its own annihilation, why drag out the process and postpone the event? So the teaching of Moses holds good over against the teaching of Christ in preaching: "Tooth for tooth, eye for eye"! 2 This method alone curtails the process in which evil annihilates itself. For precisely this reason, I am almost inclined to derive the Old Testament from two different epochs: from a healthier, older one in which "eye for eye" is valid as practical morality, and a newer one that adheres to the commandment "Love thy neighbor as thyself." Only in this fashion can the discrepancy between the two concurrent moral bases of the Old Testament be explained, if one is not to resort to the assumption that in punishing the villain a love is expressed toward him, [a love] that seeks to lead him on to the right path, or that the command of neighborly love is itself made invalid already by the villain, and also releases the one who is willing to [accept] neighbourly love from the duty to love and tolerance. *Incidentally, all religion and in particular the commandment to love one's neighbour comes to grief on the acquisitive nature of man, which has an inbuilt, almost organic tendency to defraud his neighbor. Just think: about 95% of humanity is engaged in commerce, i.e. trade and industry; and who does not know that, when it comes to commercial morality, this is allied to the attitude of grasping as many advantages as possible from one's customers? {188} Let it not be said that it is would be possible for a business man on his own to swim against the current and maintain profits while continuing to observe the commandment to love one's neighbor; for without doubt he would be dragged down by the rivalry of his competitors who, strengthened by the disbursing of funds, would simply drive him to the wall. But what religion would be capable of making a higher order of existence out of people who never engage in trading and petty dealing? What then should those 95% of humanity do? Has not the possibility just arisen of bringing art into the world as a result of that money? *All principles of morality would more readily meet with belief if they were accompanied by their justifications. We ought thereby to invoke help from the great poets who from time immemorial have derived their morality not from gods, or from a single God, but from their own inner necessities, which alone underlie them. How easily it is proved that, e.g., the lie is was not actually forbidden because it was so subjective a view on the part of the Creator, but only because from the most ancient of times it has proven impractical. One can almost speak of a commercial value of truth that makes dealings between one man and another easier and thus also creates monetary advantages. Only in one respect might I nevertheless allow and advocate, as an exception, the use of a lie: this is when one is in the situation of wanting to help the truth to break through, but its credibility is endangered by the lack of insight on the part of the recipient of that truth. {189} Since all that is required is to insure that the effect of the truth be conveyed, then where such an obstruction occurs it is absolutely legitimate to prepare the mind of the recipient by the circumventory use of a lie in order to achieve the ultimate acceptance of the truth. Suppose I were requested by someone to use my connections in order to obtain some great advantage, and it turned out that, with the best will, I was unable to comply with the wish because it was not possible for those who play the principal role to handle the matter favorably. Now, if I, in such a case, immediately make known the true situation, I run the risk that this would simply not be believed and that it would be seen as unfriendliness or lazinesss on my part; on the other hand it must promote the impression of truth if a first letter from me reports the action and at the same time hints at possible unsuccess, and then a second letter confirms failure and this time credibly so. It follows from this that even where truth is concerned it is a question of its effect as truth, and not of truth itself. Truth should have effect, and not just be spoken and written without effect. That which is said in the first commandment of the Decalogue by God himself -- "You shall not speak my name in vain," 3 -- is valid also of truth: it, too, should not be practised in vain! *The contradiction, that even well disposed persons -- women and children -- offer more advantages with their [good] behaviour to less worthy husbands and fathers [respectively] than to worthy ones, may be explained as follows: severity remains {190} severity, no matter whether it is a Bismarck who practises it in the service of higher ideas, or e.g. a Greek bandit; it is under all circumstances an obstacle to the will of another person. Thus it is that severity, by means of which a wife or child is held in submission, is of advantage to even the most unworthy husband or father, whether or not in a given instance the wife or child is in the right. Severity and its consequences are simply psychical-physical facts of life. If, on the other hand, we consider the goodness of a worthy husband or father, then it at least makes for a degree of free will and freedom of action on the part of the wife or child. With this arises also the inevitable possibility that, owing to immaturity, wife and child might go astray. Set free, so to speak, as a result of the goodness of husband or father, wife or child, in themselves going astray, assert their freedom from the good man, without thinking that this is precisely their own disadvantage. Woe be it, though, if the love of husband or father at the same time harbors within itself the weakness of not being able to shield wife or child from harm. It is fundamentally the duty of the good man at the same time to possess the severity to make good the aberrations to which his own goodness itself offers the first opportunity. However, let it be noted that the advantage severity yields for the unworthy husband or father is emphatically not to be overrated; for in truth never has blind obedience at any time brought euphony to the relationship from husband to wife or from father to child. *© Translation Ian Bent, 2020 |
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November
[This entry is not specifically dated, and could have been written on any day from 12th to 18th] ⇧ Das Böse trägt Widerlegung u. Bestrafung schon in sich selbst: Nicht der gute Mensch ist es also, der die Verfolgung des Bösen aus Gründen etwa der Moral der Religion u. staatlichen Ordnung für notwendig u. unerläßlich hält, vielmehr treibt es der Böse selbst dahin, daß sogar gegen den Willen des Guten seine Bestrafung erfolgen muß. Dieser scheinbar paradoxe Sachverhalt hängt damit zusammen, daß die Duldung seitens der betroffenen guten Menschen den Bösewicht nur desto übermutiger macht, u. ihm geradezu die Versuchung schafft, den geduldeten Missetaten neue hinzuzufügen. Erst die Summe des Schadens macht die Abwehr notwendig. Man denke, daß es selten z.B. einen Börsebesucher gegeben hat, der nach eingestrichenem großen Gewinn sich lediglich dem Genuß des Geldes hingegeben hätte, u. ebensowenig einen Einbrecher, der es blos beim ersten Einbruch bewenden ließe, sofern er ihm keine empfindliche Strafe zuzog. In diesem Sinne ist die Lehre Christi als eine durchaus falsche zu bezeichnen: der Bösewicht bleibt aggressiv auch noch, wenn man ihm die zweite Wange darbietet; 1 ja er vernichtet Leben u. Ehre, wenn man ihm nicht entgegen tritt. Würde es möglich sein schon mit der Duldung allein das Böse aus der Welt zu schaffen, so wäre es freilich zu empfehlen. Bei der unendlichen Aggressivität aber, die im Bösen liegt, ist jener Weg wohl der opportunste, u. klüg- {187} ste, auf dem das Gift auf rascheste Weise paralysiert wird. Wozu denn den langwierigen Prozess erst abwarten, durch den das Böse sich endlich selbst desavouiert? Oder anders: Wenn das Böse seiner Vernichtung sozusagen selbst entgegentreibt, wozu die Verlängerung des Weges u. Hinausschiebung des Vorganges? So behält denn die Lehre Moses gegenüber der Christis Recht, wenn sie predigt: Zahn um Zahn u. Aug um Auge! 2 Nur dieses Verfahren kürzt den Prozess ab, indem sich das Böse vernichtet. Fast neige ich dazu, das alte Testament aus eben diesem Grunde von zwei verschiedenen Epochen abzuleiten: von einer gesunderen älteren, in der noch Aug um Aug als praktische Moral galt, u. einer jüngeren, die sich zum Gebot Liebe deinen nächsten, wie dich selbst bekennt. Nur auf diese Weise läßt sich der Widerspruch der beiden konkurrierenden Moralgrundsätze des alten Testaments erklären, wenn man nicht anders sich damit helfen will, anzunehmen, daß in der Bestrafung des Bösewichts sich wohl auch eine Liebe zu ihm ausdrückt, die ihn auf den rechten Weg führen will, oder daß das Gebot der Nächstenliebe schon durch den Bösewicht selbst gegenstandslos gemacht, auch den zur Nächstenliebe Bereitwilligen von der Pflicht zur Liebe u. Duldung enthebt. *Uebrigens scheitert ja alle Religion u. insbesondere das Gebot der Nächstenliebe an dem Erwerbe der Menschen, der eine Uebervorteilung des Nächsten geradezu organisch in sich einschließt. Man denke nur: An 95% Prozent der Menschheit betreibt kaufmännischen Beruf, d.h. Handel u. Gewerbe u. wer weiß es nicht, daß damit als kaufmännische Moral die Anschauung verknüpft ist, so viel Vorteile als möglich aus den Kunden {188} herauszuschlagen. Man sage nicht, daß es einem einzelnen Kaufmanne möglich sei wäre, gegen den Strom zu schwimmen u. den Nutzen auf der Höhe des Gebotes der Nächstenliebe zu halten, denn ohne Zweifel würde er an der Konkurrenz der Erwerbsgenossen zugrunde gehen, die, durch Ausbeutung an Geldmitteln erstarkt, ihn einfach an die Wand drükken würden. Welche Religion aber vermöchte aus den Menschen höher geartete Wesen zu machen, die nicht immer blos handeln u. schachern. Was sollten denn jene 95 Prozent der Menschheit machen? Blüht nicht erst aus jener [recte jenem] Gelde die Möglichkeit hervor, die Kunst in die Welt zu setzten? *Alle Grundsätze der Moral würden besseren Glauben finden, wenn man ihre Begründung ihnen beigeben würden. Wir sollten dabei die großen Dichter zu Hilfe nehmen, die seit urewigen Zeiten die Moral nicht von Göttern oder Gott ableiten, sondern von eigenen inneren Notwendigkeiten, die ihnen allein zugrunde liegen. Wie leicht ließe sich nachweisen, daß z.B. die Lüge nicht etwa deshalb verboten ist wurde, weil es so subjektive Ansicht des Schöpfers war, sondern nur, weil sich schon von alters her ihr Unpraktisches erwiesen hat. Man kann fast von einem kom[m]erziellen Werte der Wahrheit sprechen, die den Verkehr von Mensch zu Mensch erleichtert u. so auch Geldvorteile schafft. Nur in einer Hinsich möchte ich die Lüge dennoch ausnahmsweise gestatten u. empfehlen: dieses ist dann der Fall, wenn man der Wahrheit zum Durchbruch verhelfen will, ihre Glaubwürdigkeit aber durch eigene Einsichtslosigkeit des Empfängers der Wahrheit ge- {189} fährdet sich. Da doch nur darauf Rücksicht genommen werden muß, daß die Wirkung der Wahrheit sich äußere, so ist es bei einem solchen Hindernis durchaus geboten, auf dem Umwege über eine Lüge den Geist des Empfängers für die endgiltige Entgegennahme der Wahrheit vorzubereiten, etwa so: Ich wäre, von jemand gebeten worden, irgend einen großen Vorteil durch meine Beziehungen zuzuwenden, u. es erwiese sich, daß ich beim besten Willen dem Wunsche nicht entsprechen konnte, weil es auch jenen Personen, die die Hauptrolle spielen, ebensowenig möglich ist, die Angelegenheit günstig zu erledigen. Wenn ich nun in einem solchen Falle sofort vom wahren Sachverhalte Mitteilung mache, so laufe ich Gefahr, daß mir dieser einfach nicht geglaubt u. lediglich Unfreundlichkeit, Trägheit bei mir angenommen würde; dagegen muß den Eindruck der Wahrheit fördern, wenn ein erster Brief meinerseits die Aktion vermeldet u. zugleich die Andeutung eines möglichen Miserfolges, bis ein zweiter Brief die Erfolglosigkeit, u. diesmal glaubwürdig, darstellt. Daraus folgt, daß es auch bei der Wahrheit um ihre Wirkung als Wahrheit zu tun ist, u. nicht um sie selbst. Die Wahrheit soll wirken u. nicht blos wirkungslos gesprochen oder geschrieben werden. Was im ersten Gebot des Dakalogs von Gott selbst heißt: Du sollst meinen Namen nicht eitel aussprechen, 3 gilt auch von der Wahrheit: auch sie darf nicht eitel geübt werden! *Der Widerspruch, daß selbst gut veranlagte Personen, Frauen oder Kinder, mit ihrem Betragen mehr Vorteile minder würdigen Gatten oder Vätern, als würdigen darbieten, erklärt sich folgendermaßen: Strenge bleibt {190} Strenge, gleichviel, ob sie im Dienste hoher Ideen ein Bismark, oder z.B. ein griechischer Bandit übt; sie ist unter allen Umständen ein Hindernis für den Willen eines anderen. So kommt denn also selbst dem Unwürdigsten Mann oder Vater die Strenge zugute, mit der er Frau oder Kinder niederhält, wobei es völlig gleichgiltig ist, ob sich im gegebenen Fall die Frau oder das Kind im Rechte befindet. Strenge u. deren Folgen sind einfach psychisch-physische Fakta. Betrachten wir dagegen die Güte eines würdigen Gatten oder Vaters, so gestattet sie mindestens einige Willens- u. Aktionsfreiheit der Frau, bezw. dem Kinde. Hiebei geschieht eben auch das Unvermeidliche, daß vermöge der Unreife unter Umständen Frau u. Kind irregehen, durch die Güte des Gatten, bezw. Vaters gleichsam in Freiheit gesetzt, wollen dann Frau oder Kind, selbst irregehend, ihre Freiheit just gegen den gGütigen behaupten, ohne zu bedenken, daß dieses gerade für sie selbst von Nachteil ist. Wehe nun, wenn die Liebe des Mannes oder Vaters zugleich die Schwäche in sich birgt, den Schaden von Frau u. Kind nicht fernhalten zu können. Es ist im Grunde Pflicht gerade des Gütigen, zugleich auch die Strenge zu besitzen, die Irrungen gut zu machen, zu denen ja seine eigene Güte die erste Gelegenheit bietet. Allerdings sei noch bemerkt, daß der Vorteil, den die Strenge für den unwürdigen Gatten oder Vater abwirft, durchaus nicht zu überschätzen sei; denn wahrhaftig, niemals hat je ein dumpfer Gehorsam Wohllaut in das Verhältnis vom Mann zur Frau, vom Vater zum Kinde, gebracht. *© Transcription Ian Bent, 2020 |
November [13]
[This entry is not specifically dated, and could have been written on any day from 12th to 18th] ⇧ Evil harbors refutation and punishment within itself: it is thus not the good person who considers the pursuit of evil to be necessary and imperative on grounds perhaps of morality, religion, and civic order; it is, rather, evil itself that insures -- even against the will of the good person -- that its punishment must be administered. This apparently paradoxical state of affairs is coupled to the fact that tolerance on the part of the good people affected only makes the villain all the more insolent and directly tempts him to add to the misdeeds already tolerated. Only the amount of damage makes defense necessary. Just think: it has seldom been the case that, e.g., a visitor to the Stock Exchange after gaining a large one-time win merely revels in the enjoyment of money; and no more so does a burglar after his first burglary merely leave it at that just so long as he has incurred no serious punishment. On this, Christ's teaching must be declared thoroughly wrong: the villain remains aggressive even when the other cheek is turned to him. 1 Indeed, he annihilates life and honor if he is not confronted. If it were possible by means of tolerance alone to rid the world of evil, then that would obviously be recommended. But in view of the unrelenting aggression intrinsic to evil, the most opportune and the cleverest {187} way is in fact that by which the poison is most quickly paralyzed. Why then wait out the wearisome process whereby evil finally disavows itself? Or put another way: if evil so to speak impels itself toward its own annihilation, why drag out the process and postpone the event? So the teaching of Moses holds good over against the teaching of Christ in preaching: "Tooth for tooth, eye for eye"! 2 This method alone curtails the process in which evil annihilates itself. For precisely this reason, I am almost inclined to derive the Old Testament from two different epochs: from a healthier, older one in which "eye for eye" is valid as practical morality, and a newer one that adheres to the commandment "Love thy neighbor as thyself." Only in this fashion can the discrepancy between the two concurrent moral bases of the Old Testament be explained, if one is not to resort to the assumption that in punishing the villain a love is expressed toward him, [a love] that seeks to lead him on to the right path, or that the command of neighborly love is itself made invalid already by the villain, and also releases the one who is willing to [accept] neighbourly love from the duty to love and tolerance. *Incidentally, all religion and in particular the commandment to love one's neighbour comes to grief on the acquisitive nature of man, which has an inbuilt, almost organic tendency to defraud his neighbor. Just think: about 95% of humanity is engaged in commerce, i.e. trade and industry; and who does not know that, when it comes to commercial morality, this is allied to the attitude of grasping as many advantages as possible from one's customers? {188} Let it not be said that it is would be possible for a business man on his own to swim against the current and maintain profits while continuing to observe the commandment to love one's neighbor; for without doubt he would be dragged down by the rivalry of his competitors who, strengthened by the disbursing of funds, would simply drive him to the wall. But what religion would be capable of making a higher order of existence out of people who never engage in trading and petty dealing? What then should those 95% of humanity do? Has not the possibility just arisen of bringing art into the world as a result of that money? *All principles of morality would more readily meet with belief if they were accompanied by their justifications. We ought thereby to invoke help from the great poets who from time immemorial have derived their morality not from gods, or from a single God, but from their own inner necessities, which alone underlie them. How easily it is proved that, e.g., the lie is was not actually forbidden because it was so subjective a view on the part of the Creator, but only because from the most ancient of times it has proven impractical. One can almost speak of a commercial value of truth that makes dealings between one man and another easier and thus also creates monetary advantages. Only in one respect might I nevertheless allow and advocate, as an exception, the use of a lie: this is when one is in the situation of wanting to help the truth to break through, but its credibility is endangered by the lack of insight on the part of the recipient of that truth. {189} Since all that is required is to insure that the effect of the truth be conveyed, then where such an obstruction occurs it is absolutely legitimate to prepare the mind of the recipient by the circumventory use of a lie in order to achieve the ultimate acceptance of the truth. Suppose I were requested by someone to use my connections in order to obtain some great advantage, and it turned out that, with the best will, I was unable to comply with the wish because it was not possible for those who play the principal role to handle the matter favorably. Now, if I, in such a case, immediately make known the true situation, I run the risk that this would simply not be believed and that it would be seen as unfriendliness or lazinesss on my part; on the other hand it must promote the impression of truth if a first letter from me reports the action and at the same time hints at possible unsuccess, and then a second letter confirms failure and this time credibly so. It follows from this that even where truth is concerned it is a question of its effect as truth, and not of truth itself. Truth should have effect, and not just be spoken and written without effect. That which is said in the first commandment of the Decalogue by God himself -- "You shall not speak my name in vain," 3 -- is valid also of truth: it, too, should not be practised in vain! *The contradiction, that even well disposed persons -- women and children -- offer more advantages with their [good] behaviour to less worthy husbands and fathers [respectively] than to worthy ones, may be explained as follows: severity remains {190} severity, no matter whether it is a Bismarck who practises it in the service of higher ideas, or e.g. a Greek bandit; it is under all circumstances an obstacle to the will of another person. Thus it is that severity, by means of which a wife or child is held in submission, is of advantage to even the most unworthy husband or father, whether or not in a given instance the wife or child is in the right. Severity and its consequences are simply psychical-physical facts of life. If, on the other hand, we consider the goodness of a worthy husband or father, then it at least makes for a degree of free will and freedom of action on the part of the wife or child. With this arises also the inevitable possibility that, owing to immaturity, wife and child might go astray. Set free, so to speak, as a result of the goodness of husband or father, wife or child, in themselves going astray, assert their freedom from the good man, without thinking that this is precisely their own disadvantage. Woe be it, though, if the love of husband or father at the same time harbors within itself the weakness of not being able to shield wife or child from harm. It is fundamentally the duty of the good man at the same time to possess the severity to make good the aberrations to which his own goodness itself offers the first opportunity. However, let it be noted that the advantage severity yields for the unworthy husband or father is emphatically not to be overrated; for in truth never has blind obedience at any time brought euphony to the relationship from husband to wife or from father to child. *© Translation Ian Bent, 2020 |
Footnotes1 From the Sermon on the Mount: Matthew 5:39 (Luther Bible): "wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar." ("If someone strikes you on the right cheek, turn to him the other also."). Also Luke 6:29. 2 II Moses = Exodus 21:24 (Luther Bible): "Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß." ("Eye for eye, tooth for tooth, hand for hand, foot for foot."), cf. Matthew 5:38: "Auge um Auge, Zahn um Zahn." ("Eye for eye, tooth for tooth.") 3 Decalogue, i.e. the Ten Commandments: II Moses = Exodus 20:7 (also V Moses = Deuteronomy 5:11) (Luther Bible): "Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen mißbraucht." (You shall not misuse the name of the Lord your God, for the Lord will not hold anyone guiltless who misuses his name.") The commandments are grouped differently in the various sources: this commandment is most commonly either the third or the second of the ten. |