23.
Bernard Shaw’s „Fanny’s erstes Stück“. 1 Vor- und Nachspiel haben eine entfernte Aehnlichkeit mit jenen 1. u. 5. Acten, die Shakespeare zur Umrahmung eines dramatischen Kerns öfter gebracht hat, z. B. im „Kaufmann v. Venedig“. Dem Hauptstück selbst fehlt es im Grunde an einer wirklichen Handlung oder besser an einer Pointe, der alle Teile der Handlung zustreben würden. Vielmehr werden aus Anlaß verschiedener Vorkommnisse Ansichten ausgesprochen, die Shaw derart heimlich ironisiert, daß man nicht recht in der Lage ist, seinen eigenen Standpunkt kennen zu lernen. Was nur menschliche Gehirne an Absurdität des Denkens, Fühlens, an Unmoral, Untüchtigkeit, Unwahrhaftigkeit u. s. f. in verschiedenen Lagen u. Epochen des Lebens hervorbringen, alles das stellt er mit einer verblüffenden Treue auf die Bühne, wo er den Kampf der Dumm heit en {235} gegen einander forttoben läßt, ohne selbst das Wort in diesem Streite zu ergreifen. Während bei Ibsen mindestens aus der Konstruktion des Dramas sich seine Stellung zum Problem abstrahiren läßt, führt Shaw seine Redeschlacht so, daß seine eigene Welt der Anschauungen nicht zu Tage tritt. Nur aus der Vehemenz, mit der er die Dummheiten aufeinanderprallen läßt, ohne Lichtblick, ohne Aussicht auf Besserung, läßt sich zwar nicht auf eine allzu tiefe Denkkraft, wohl aber eine ungeheuerer Sschmerzvolle Verzweiflung über das Menschengeschlecht schließen. Es scheint, als würde Shaw es besonders bitter empfinden, daß zu den Menschen kein Weg führt. Ob das Genie eine That, ein Werk setzt, ob ein Held sein Leben lebt, ob es in Worten oder in Vorbildern geschieht, stets wird der Schein zur Wahrheit u. die Wahrheit zum Schein; Religionen sind mißverstandene Worte eines moralischen Genies; Geschichtsdarstellung ist Mißverständnis geschichtlicher Personen u. Vorgänge u. keine Aussicht ist vorhanden, daß je alle Entstellungen weichen. Ob die Verkündigung der Wahrheit in Schönheit, in der Poesie, in der Feierlichkeit der Phylosophie, der Erhabenheit der Prophetie, ob sie im Zorn großer Männer, im Spott u. Sarkasmus überlegener Geister erfolgt – nicht Schönheit, nicht Feierlichkeit, nicht Ernst, Zorn, Witz bringen die Wahrheit den Menschen näher! Es scheint, als wäre die Dosis Bewußtseins ihnen zu gering von der Natur zugemessen, als daß sie der Wahrheit teilhaftig werden könnten. Shaw scheint es dennoch bitter ernst zu sein um die unglückliche Veranlagung des menschlichen Geschlechts, scheint aber nicht zu ahnen, daß auch der Weg des Sarkasmus, den er einschlägt, ihn nicht zum Ziele führen kann. Schließlich hört sich die Welt seine Spiele an u. läßt sie von sich abgleiten, wie sie den schönsten Schiller u. Goethe, den gewaltigsten Shakespeare, den donnerndsten Nietzsche von sich abgleiten läßt, {236} indem sie sie in leere Begriffe u. Phrasen umformt, die gleichsam außerhalb ihrer Seele, irgendwo in der Vorstellungswelt Unterkunft finden. Also auch Shaw befindet sich unter den u Unglücklichen, die seit urewigen Zeiten der Menschheit zurufen: morituri te salutant! 2 Hie u. da scheint freilich auch Shaw das Vergebliche seiner Bestrebungen zu erkennen u. da ist es, als wollte er sich selber hohnlächeln u. verspotten. In dieser höchsten Verzweiflung bringt er gleichsam sich selbst zum Opfer, um tiefer blickende Geister verstehen zu machen, daß er selbst daran weiß, wie wenig es nütze, ob er seine Figuren, oder sich selbst verspotte. Es Ihn unterhält der Anblick der idiotischen Menschheit, die nicht einmal diese beiden Prozeduren auseinander halten kann u. sich bloß jeglichen Witz eben nur als Witz gefallen läßt. Sein Geist scheint mir indessen, wie ich schon sagte[,] nicht fähig, die letzte Ursache menschlicher Misere zu definieren. Müßte er ehrlich erklären, weshalb z. B. in „Fanny’s erstes Stück“ die Jugend ebenso im Unrecht ist wie das Alter, Unsitte ebenso, wie die Sitte, Religion, wie die Freigeisterei u. s. f., so könnte er unmöglich das Stück so ge halten staltet haben, als er es hält tut ! (Auch bei Ibsen waltet derselbe Fehler!) Dagegen ist das volle Bewußstein positiv regulirender kategorischer Imperativ auf dem Gebiete der Moral, das unsere großen Dichter ihre Stücke entschiedener nach der Richtung des Guten neigen ließ. Sie lassen den Zuhörer nicht im Unklaren darüber, was allein gut sei u. aus welchem Grunde. Sie arbeiten an der Rettung des Menschengeschlechts, ohne sich bittere Gedanken über die Rettungslosigkeit zu machen. Dagegen ist Shaw zu sehr blos [sic] von der Rettungslosigkeit erfüllt u. daher verhindert, die rettenden Gedanken hinauszuschicken! *{237}© Transcription Marko Deisinger. |
23.
Bernard Shaw’s Fanny’s First Play. 1 Prologue and epilogue bear a distant similarity to those first and fifth acts that Shakespeare often uses to frame a dramatic core, e.g. in The Merchant of Venice. The main piece itself is, in essence, lacking true dramatic action – or, better expressed, a crux about which all the parts of the dramatic action would strive. Rather, as a result of a variety of incidents, points of view are expressed that Shaw covertly ironizes in such a way that one is not able to recognize his own point of view: that which merely human brains conceive in absurdity of thinking and feeling, in immorality, incompetence, untruthfulness, etc., in various situations and at various times in their lives, all that he presents with uncanny fidelity on the stage, where he lets the struggle among the stupid ones {235} run riot against each other without taking a stand in this struggle himself. Whereas with Ibsen one is at least able to extract his position on the problem from the construction of the drama, Shaw conducts his battle of words in such a way that his own world of opinions never sees the light of day. It is only from the vehemence with which he lets the stupidities collide with one another, without any ray of hope, without prospect of improvement, that one can extrapolate not so much a profound mental capacity but rather a more immensely painful despair about the human race. It appears as if Shaw would find it especially bitter that no path leads to humanity. Whether the genius does a deed or creates a work, whether a hero lives his life, whether it occurs in words or in examples, appearance becomes truth and truth becomes appearance. Religions are misunderstood words of a moral genius; the portrayal of history is the misunderstanding of historical personages and events; and there is no prospect of all these misrepresentations ever being resolved. Whether the proclamation of truth in beauty, in poetry, in the solemnity of philosophy, or the transcendence of prophesy, whether it takes place in the wrath of great men, in the ridicule and sarcasm of superior spirits – not beauty, nor solemnity, nor seriousness, wrath, [or] wit will bring the truth closer to the people! It seems as if the code of consciousness has been measured out to them by Nature too meagerly for them to be able to be blessed with truth. Shaw seems nevertheless to be bitterly serious about the unhappy predisposition of the human race, yet he appears not to realize that the path of sarcasm, on which he strikes out, cannot lead him to the goal. To conclude, the world listens to his plays and lets itself slip away from them, as they let slip away the most beautiful Schiller and Goethe, the most powerful Shakespeare, the most thundering Nietzsche, {236} by reshaping them in empty concepts and phrases that find refuge, so to speak, outside of its soul, somewhere in the imagination. Thus Shaw, too, finds himself among the unhappy ones who from time immemorial have called out to mankind: "Those who are about to die salute you!" 2 From time to time, admittedly, even Shaw appears to recognize the futility of his efforts, and it seems then that he wishes to mock and ridicule himself. In this supreme moment of despair, he makes a sacrifice of himself, so to speak, to make those intellects who look more deeply into the matter capable of understanding that he himself realizes how little use it is if he mocks his characters or himself. He is entertained by the sight of idiotic humanity, which is not even capable of distinguishing these two procedures, and which is amused by every joke merely as a joke. His intellect thus seems, as I have already said, incapable of defining the ultimate cause of human misery. If he honestly had to explain why in Fanny’s First Play the youth is just as much at fault as the elderly, bad habits as much as tradition, religion as much as free-spiritedness, etc., then it would be impossible to have conceived the play as he does! (With Ibsen, too, the same mistake prevails!) Contrast this with the complete consciousness [of] a positively regulating categorical imperative in the field of morality, in which our great poets inclined their plays in the direction of that which is good. They did not leave their audience unclear about that which alone was good, and for which reason. They worked towards the salvation of the human race, without expressing bitter thoughts about its being beyond redemption. By contrast, Shaw is quite simply preoccupied with the irredeemable, and is thus prevented from transmitting the redemptive ideas! *{237}© Translation William Drabkin. |
23.
Bernard Shaw’s „Fanny’s erstes Stück“. 1 Vor- und Nachspiel haben eine entfernte Aehnlichkeit mit jenen 1. u. 5. Acten, die Shakespeare zur Umrahmung eines dramatischen Kerns öfter gebracht hat, z. B. im „Kaufmann v. Venedig“. Dem Hauptstück selbst fehlt es im Grunde an einer wirklichen Handlung oder besser an einer Pointe, der alle Teile der Handlung zustreben würden. Vielmehr werden aus Anlaß verschiedener Vorkommnisse Ansichten ausgesprochen, die Shaw derart heimlich ironisiert, daß man nicht recht in der Lage ist, seinen eigenen Standpunkt kennen zu lernen. Was nur menschliche Gehirne an Absurdität des Denkens, Fühlens, an Unmoral, Untüchtigkeit, Unwahrhaftigkeit u. s. f. in verschiedenen Lagen u. Epochen des Lebens hervorbringen, alles das stellt er mit einer verblüffenden Treue auf die Bühne, wo er den Kampf der Dumm heit en {235} gegen einander forttoben läßt, ohne selbst das Wort in diesem Streite zu ergreifen. Während bei Ibsen mindestens aus der Konstruktion des Dramas sich seine Stellung zum Problem abstrahiren läßt, führt Shaw seine Redeschlacht so, daß seine eigene Welt der Anschauungen nicht zu Tage tritt. Nur aus der Vehemenz, mit der er die Dummheiten aufeinanderprallen läßt, ohne Lichtblick, ohne Aussicht auf Besserung, läßt sich zwar nicht auf eine allzu tiefe Denkkraft, wohl aber eine ungeheuerer Sschmerzvolle Verzweiflung über das Menschengeschlecht schließen. Es scheint, als würde Shaw es besonders bitter empfinden, daß zu den Menschen kein Weg führt. Ob das Genie eine That, ein Werk setzt, ob ein Held sein Leben lebt, ob es in Worten oder in Vorbildern geschieht, stets wird der Schein zur Wahrheit u. die Wahrheit zum Schein; Religionen sind mißverstandene Worte eines moralischen Genies; Geschichtsdarstellung ist Mißverständnis geschichtlicher Personen u. Vorgänge u. keine Aussicht ist vorhanden, daß je alle Entstellungen weichen. Ob die Verkündigung der Wahrheit in Schönheit, in der Poesie, in der Feierlichkeit der Phylosophie, der Erhabenheit der Prophetie, ob sie im Zorn großer Männer, im Spott u. Sarkasmus überlegener Geister erfolgt – nicht Schönheit, nicht Feierlichkeit, nicht Ernst, Zorn, Witz bringen die Wahrheit den Menschen näher! Es scheint, als wäre die Dosis Bewußtseins ihnen zu gering von der Natur zugemessen, als daß sie der Wahrheit teilhaftig werden könnten. Shaw scheint es dennoch bitter ernst zu sein um die unglückliche Veranlagung des menschlichen Geschlechts, scheint aber nicht zu ahnen, daß auch der Weg des Sarkasmus, den er einschlägt, ihn nicht zum Ziele führen kann. Schließlich hört sich die Welt seine Spiele an u. läßt sie von sich abgleiten, wie sie den schönsten Schiller u. Goethe, den gewaltigsten Shakespeare, den donnerndsten Nietzsche von sich abgleiten läßt, {236} indem sie sie in leere Begriffe u. Phrasen umformt, die gleichsam außerhalb ihrer Seele, irgendwo in der Vorstellungswelt Unterkunft finden. Also auch Shaw befindet sich unter den u Unglücklichen, die seit urewigen Zeiten der Menschheit zurufen: morituri te salutant! 2 Hie u. da scheint freilich auch Shaw das Vergebliche seiner Bestrebungen zu erkennen u. da ist es, als wollte er sich selber hohnlächeln u. verspotten. In dieser höchsten Verzweiflung bringt er gleichsam sich selbst zum Opfer, um tiefer blickende Geister verstehen zu machen, daß er selbst daran weiß, wie wenig es nütze, ob er seine Figuren, oder sich selbst verspotte. Es Ihn unterhält der Anblick der idiotischen Menschheit, die nicht einmal diese beiden Prozeduren auseinander halten kann u. sich bloß jeglichen Witz eben nur als Witz gefallen läßt. Sein Geist scheint mir indessen, wie ich schon sagte[,] nicht fähig, die letzte Ursache menschlicher Misere zu definieren. Müßte er ehrlich erklären, weshalb z. B. in „Fanny’s erstes Stück“ die Jugend ebenso im Unrecht ist wie das Alter, Unsitte ebenso, wie die Sitte, Religion, wie die Freigeisterei u. s. f., so könnte er unmöglich das Stück so ge halten staltet haben, als er es hält tut ! (Auch bei Ibsen waltet derselbe Fehler!) Dagegen ist das volle Bewußstein positiv regulirender kategorischer Imperativ auf dem Gebiete der Moral, das unsere großen Dichter ihre Stücke entschiedener nach der Richtung des Guten neigen ließ. Sie lassen den Zuhörer nicht im Unklaren darüber, was allein gut sei u. aus welchem Grunde. Sie arbeiten an der Rettung des Menschengeschlechts, ohne sich bittere Gedanken über die Rettungslosigkeit zu machen. Dagegen ist Shaw zu sehr blos [sic] von der Rettungslosigkeit erfüllt u. daher verhindert, die rettenden Gedanken hinauszuschicken! *{237}© Transcription Marko Deisinger. |
23.
Bernard Shaw’s Fanny’s First Play. 1 Prologue and epilogue bear a distant similarity to those first and fifth acts that Shakespeare often uses to frame a dramatic core, e.g. in The Merchant of Venice. The main piece itself is, in essence, lacking true dramatic action – or, better expressed, a crux about which all the parts of the dramatic action would strive. Rather, as a result of a variety of incidents, points of view are expressed that Shaw covertly ironizes in such a way that one is not able to recognize his own point of view: that which merely human brains conceive in absurdity of thinking and feeling, in immorality, incompetence, untruthfulness, etc., in various situations and at various times in their lives, all that he presents with uncanny fidelity on the stage, where he lets the struggle among the stupid ones {235} run riot against each other without taking a stand in this struggle himself. Whereas with Ibsen one is at least able to extract his position on the problem from the construction of the drama, Shaw conducts his battle of words in such a way that his own world of opinions never sees the light of day. It is only from the vehemence with which he lets the stupidities collide with one another, without any ray of hope, without prospect of improvement, that one can extrapolate not so much a profound mental capacity but rather a more immensely painful despair about the human race. It appears as if Shaw would find it especially bitter that no path leads to humanity. Whether the genius does a deed or creates a work, whether a hero lives his life, whether it occurs in words or in examples, appearance becomes truth and truth becomes appearance. Religions are misunderstood words of a moral genius; the portrayal of history is the misunderstanding of historical personages and events; and there is no prospect of all these misrepresentations ever being resolved. Whether the proclamation of truth in beauty, in poetry, in the solemnity of philosophy, or the transcendence of prophesy, whether it takes place in the wrath of great men, in the ridicule and sarcasm of superior spirits – not beauty, nor solemnity, nor seriousness, wrath, [or] wit will bring the truth closer to the people! It seems as if the code of consciousness has been measured out to them by Nature too meagerly for them to be able to be blessed with truth. Shaw seems nevertheless to be bitterly serious about the unhappy predisposition of the human race, yet he appears not to realize that the path of sarcasm, on which he strikes out, cannot lead him to the goal. To conclude, the world listens to his plays and lets itself slip away from them, as they let slip away the most beautiful Schiller and Goethe, the most powerful Shakespeare, the most thundering Nietzsche, {236} by reshaping them in empty concepts and phrases that find refuge, so to speak, outside of its soul, somewhere in the imagination. Thus Shaw, too, finds himself among the unhappy ones who from time immemorial have called out to mankind: "Those who are about to die salute you!" 2 From time to time, admittedly, even Shaw appears to recognize the futility of his efforts, and it seems then that he wishes to mock and ridicule himself. In this supreme moment of despair, he makes a sacrifice of himself, so to speak, to make those intellects who look more deeply into the matter capable of understanding that he himself realizes how little use it is if he mocks his characters or himself. He is entertained by the sight of idiotic humanity, which is not even capable of distinguishing these two procedures, and which is amused by every joke merely as a joke. His intellect thus seems, as I have already said, incapable of defining the ultimate cause of human misery. If he honestly had to explain why in Fanny’s First Play the youth is just as much at fault as the elderly, bad habits as much as tradition, religion as much as free-spiritedness, etc., then it would be impossible to have conceived the play as he does! (With Ibsen, too, the same mistake prevails!) Contrast this with the complete consciousness [of] a positively regulating categorical imperative in the field of morality, in which our great poets inclined their plays in the direction of that which is good. They did not leave their audience unclear about that which alone was good, and for which reason. They worked towards the salvation of the human race, without expressing bitter thoughts about its being beyond redemption. By contrast, Shaw is quite simply preoccupied with the irredeemable, and is thus prevented from transmitting the redemptive ideas! *{237}© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 George Bernard Shaws’ comedy was performed in Siegfried Trebitsch’s translation (Fannys erstes Stück) at the Johann Strauss Theater by a visiting theater company, the Kleines Theater (Berlin). 2 Ave, Imperator, morituri te salutant: a well-known Latin phrase, used by Suetonius in De vita Caesarum. |