10. Sept. 13.
Per Südbahn nach Wien! Seit Jahren warnten mich all’ meine Instinkte vor dem Gebrauch dieser Reiseroute! Die Gewissenlosigkeit der Direktion, die, um zu Dividenden zu gelangen, sich keine Skrupel daraus machte, nur allzu oft Menschen vom Leben abzuschreiben, hatte in mir eine Art Ekel hervorgerufen. Da indessen schon lange Zeit hindurch nichts über derlei Abschreibungen mehr verlautete, so wagten wir es ausnahmsweise einmal, uns der Südbahn anzuvertrauen. Besser wäre freilich gewesen, dem ersten Instinkt treu zu bleiben! Da werden im Cursbuch direkte Wagen bis Wien angekündigt, wodurch man sich bewogen fühlt, diesen Zug direkt bis Wien gehend anzunehmen. Weit gefehlt! Blos zwei Waggons gehen direkt nach Wien, der Zug als solcher aber über Klagenfurt nach Triest. Also es reduziert sich die Ankündigung im Cursbuch auf einen direkten Zug nach Triest, mit eingeschobenenschalteten direkten Waggons nach Wien. Mein Gepäckträger, der vom wahren Sachverhalt u. mindestens doch vom Vorhandensein direkter Wagen bis Wien schon aus der Praxis unterrichtet sein muß, setzt mich, nicht etwa in Eile, sondern bei guter Muße, in einen beliebigen, nur gerade nicht in den nach Wien gehenden direkten Wagen! Kaum eingestiegen erfahren wir vom Schaffner, daß wir doch in den direkten Wagen übersiedeln müssen, wenn wir eben nicht nach Triest fahren wollen!! In Franzensfeste erfolgt die Uebersiedlung in den direkten Wagen. Aus eben diesem direkten Wagen werden wir aber hinauskomplimentirt in Villach, weil – die Ax chsen heißgelaufen waren! Der Wagen, der die weiteste Tour hat, ist ältesten Datums u. von unverläßlichster Konstruktion! {415} Trotz großem Wagenpark wird in Villach beileibe nicht ein neuer Wagen eingeschoben, sondern wir werden in ein anderes Coupé des eben um einen Wagen verminderten Zuges transportirt. Nebenbei: Inzwischen hat der Zug der Linie Villach–Leoben den Bahnhof verlassen, also gerade derjenige Zug, dem die beiden direkten Wagen hätten angeschlossen werden sollen! — Im Zug treffen wir unseren Zahnarzt Dr. N. u. [illeg]hinter Villach auch Dr. Gelber. Die Gesellschaft beider bringt uns um die Möglichkeit einer Lektüre, welcher Verlust umso unangenehmer fällt, als die meinerseits nicht ohne Anstrengung den beiden Herren gegebenen Anregungen u. Winke für das Leben, zumal für das eheliche, doch nur ins Leere fallen müssen. — In Meidling überrascht uns wieder ein echter Südbahnzug, denn – die Ax chsen des Wagens[,] in dem wir uns befinden[,] sind schon wieder heißgelaufen!! Ueber die Misere des Brandgeruchs hilft der Kondukteur mit echt Wienerischer südbahnmäßiger Gemütlichkeit hinweg: „No ja, in 3 Minuten sein mir eh in Wien“! — Die Mühen u. Quälereien, denen wir bei der Ueberladung des Gepäcks ausgesetzt sind, legen uns doch eine Aenderung unserer Taktik für die Zukunft nahe! *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 10, 1913.
To Vienna via the Southern Railway! For years all my instincts warned me about traveling by this route! The unscrupulousness of the management, which has no compunction about writing people off in order that they may pay dividends to their shareholders, had elicited in me a kind of disgust. Since in the meantime nothing more was heard about such dismissals for quite a long time, we dared, for a change, to entrust ourselves to the Southern Railway once more. It would of course have been better to remain true to our first instinct! Direct train carriages to Vienna are indicated in the timetable, as a result of which one feels induced to suppose that this train goes straight to Vienna. Far from it! Only two carriages go directly to Vienna; the train, as such, goes by way of Klagenfurt to Trieste. Thus the indication in the timetable amounts to a direct train to Trieste, with carriages attached that go directly to Vienna. My baggage handler, who ought to have been educated about the true state of affairs and at least known from experience of the existence of direct carriages to Vienna, puts me – not in any hurry, but at his leisure – in any random one, only just not one of the carriages that that are going directly to Vienna! Scarcely had we gotten aboard, we learn from the conductor that we must move into the direct carriages if we do not want to travel to Trieste!! In Franzensfeste the transfer into [one of] the direct carriages takes place. However, in Villach we are ushered out of this very carriage because – the axles were overheating! The carriage that has the longest distance to travel is of the oldest date and the most unreliable construction! {415} In spite of there being a large railway yard in Villach, by no means is a new carriage attached; instead, we are moved into another coupé on the very same train, which was now one carriage shorter. Moreover, in the meantime the train on the Villach–Leoben line had left the station, that is, the very train to which the two direct carriages should have been coupled! — In the train we meet our dentist, Dr. N, and after Villach also Dr. Gelber. The company of both prevents the possibility of reading – a loss which turns out to be all the more unpleasant as the suggestions and proposals I gave the two gentleman, not without effort, about their lives, especially their married lives, could only fall on deaf ears. — In Meidling, another genuine Southern Railway train overtakes us – the axles of the carriage in which we find ourselves have again overheated!! The conductor sees us through the misery of the smell of fire with genuine Viennese, Southern Railway-style congeniality: "All right, then, in three minutes we shall be arriving in Vienna"! — The troubles and tortures to which we have been exposed by the excess weight of our luggage suggests to us a change of tactics for the future! *
© Translation William Drabkin. |
10. Sept. 13.
Per Südbahn nach Wien! Seit Jahren warnten mich all’ meine Instinkte vor dem Gebrauch dieser Reiseroute! Die Gewissenlosigkeit der Direktion, die, um zu Dividenden zu gelangen, sich keine Skrupel daraus machte, nur allzu oft Menschen vom Leben abzuschreiben, hatte in mir eine Art Ekel hervorgerufen. Da indessen schon lange Zeit hindurch nichts über derlei Abschreibungen mehr verlautete, so wagten wir es ausnahmsweise einmal, uns der Südbahn anzuvertrauen. Besser wäre freilich gewesen, dem ersten Instinkt treu zu bleiben! Da werden im Cursbuch direkte Wagen bis Wien angekündigt, wodurch man sich bewogen fühlt, diesen Zug direkt bis Wien gehend anzunehmen. Weit gefehlt! Blos zwei Waggons gehen direkt nach Wien, der Zug als solcher aber über Klagenfurt nach Triest. Also es reduziert sich die Ankündigung im Cursbuch auf einen direkten Zug nach Triest, mit eingeschobenenschalteten direkten Waggons nach Wien. Mein Gepäckträger, der vom wahren Sachverhalt u. mindestens doch vom Vorhandensein direkter Wagen bis Wien schon aus der Praxis unterrichtet sein muß, setzt mich, nicht etwa in Eile, sondern bei guter Muße, in einen beliebigen, nur gerade nicht in den nach Wien gehenden direkten Wagen! Kaum eingestiegen erfahren wir vom Schaffner, daß wir doch in den direkten Wagen übersiedeln müssen, wenn wir eben nicht nach Triest fahren wollen!! In Franzensfeste erfolgt die Uebersiedlung in den direkten Wagen. Aus eben diesem direkten Wagen werden wir aber hinauskomplimentirt in Villach, weil – die Ax chsen heißgelaufen waren! Der Wagen, der die weiteste Tour hat, ist ältesten Datums u. von unverläßlichster Konstruktion! {415} Trotz großem Wagenpark wird in Villach beileibe nicht ein neuer Wagen eingeschoben, sondern wir werden in ein anderes Coupé des eben um einen Wagen verminderten Zuges transportirt. Nebenbei: Inzwischen hat der Zug der Linie Villach–Leoben den Bahnhof verlassen, also gerade derjenige Zug, dem die beiden direkten Wagen hätten angeschlossen werden sollen! — Im Zug treffen wir unseren Zahnarzt Dr. N. u. [illeg]hinter Villach auch Dr. Gelber. Die Gesellschaft beider bringt uns um die Möglichkeit einer Lektüre, welcher Verlust umso unangenehmer fällt, als die meinerseits nicht ohne Anstrengung den beiden Herren gegebenen Anregungen u. Winke für das Leben, zumal für das eheliche, doch nur ins Leere fallen müssen. — In Meidling überrascht uns wieder ein echter Südbahnzug, denn – die Ax chsen des Wagens[,] in dem wir uns befinden[,] sind schon wieder heißgelaufen!! Ueber die Misere des Brandgeruchs hilft der Kondukteur mit echt Wienerischer südbahnmäßiger Gemütlichkeit hinweg: „No ja, in 3 Minuten sein mir eh in Wien“! — Die Mühen u. Quälereien, denen wir bei der Ueberladung des Gepäcks ausgesetzt sind, legen uns doch eine Aenderung unserer Taktik für die Zukunft nahe! *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 10, 1913.
To Vienna via the Southern Railway! For years all my instincts warned me about traveling by this route! The unscrupulousness of the management, which has no compunction about writing people off in order that they may pay dividends to their shareholders, had elicited in me a kind of disgust. Since in the meantime nothing more was heard about such dismissals for quite a long time, we dared, for a change, to entrust ourselves to the Southern Railway once more. It would of course have been better to remain true to our first instinct! Direct train carriages to Vienna are indicated in the timetable, as a result of which one feels induced to suppose that this train goes straight to Vienna. Far from it! Only two carriages go directly to Vienna; the train, as such, goes by way of Klagenfurt to Trieste. Thus the indication in the timetable amounts to a direct train to Trieste, with carriages attached that go directly to Vienna. My baggage handler, who ought to have been educated about the true state of affairs and at least known from experience of the existence of direct carriages to Vienna, puts me – not in any hurry, but at his leisure – in any random one, only just not one of the carriages that that are going directly to Vienna! Scarcely had we gotten aboard, we learn from the conductor that we must move into the direct carriages if we do not want to travel to Trieste!! In Franzensfeste the transfer into [one of] the direct carriages takes place. However, in Villach we are ushered out of this very carriage because – the axles were overheating! The carriage that has the longest distance to travel is of the oldest date and the most unreliable construction! {415} In spite of there being a large railway yard in Villach, by no means is a new carriage attached; instead, we are moved into another coupé on the very same train, which was now one carriage shorter. Moreover, in the meantime the train on the Villach–Leoben line had left the station, that is, the very train to which the two direct carriages should have been coupled! — In the train we meet our dentist, Dr. N, and after Villach also Dr. Gelber. The company of both prevents the possibility of reading – a loss which turns out to be all the more unpleasant as the suggestions and proposals I gave the two gentleman, not without effort, about their lives, especially their married lives, could only fall on deaf ears. — In Meidling, another genuine Southern Railway train overtakes us – the axles of the carriage in which we find ourselves have again overheated!! The conductor sees us through the misery of the smell of fire with genuine Viennese, Southern Railway-style congeniality: "All right, then, in three minutes we shall be arriving in Vienna"! — The troubles and tortures to which we have been exposed by the excess weight of our luggage suggests to us a change of tactics for the future! *
© Translation William Drabkin. |