Downloads temporarily removed for testing purposes

22. XII. 13

Ein Hochstapler hat ein Schmuckstück verschluckt u. sich dadurch eine Blinddarmreitzung [sic] zugezogen; der beste Beweis dafür, daß es keine infektiöse Krankheit ist, sondern nur, wie ich immer behauptete, ein Fehlgehen des Darminhaltes.

*

Mona Lisa, die aus dem Pariser Louvre gestohlen wurde, ist wieder in Florenz gefunden u. nach Paris zurückbefördert worden. 1 Nun erst jetzt hat sich auch König Victor Emanuel das Bild angesehen, weil ja von ihm in der letzten Zeit – so viel Rede gewesen! Wieder ein Beweis dafür, daß Schönheit u. Wahrheit erst Ohrfeigen erhalten müssen, bevor man auf sie aufmerksam wird!

*

Im Leitartikel der heutigen Sonn- u. Montags Ztg. wird der Niedergang des Parlamentarismus auf die Corruption der politischen Parteien zurückgeführt, zugleich aber ohne Bewußtsein eines Widerspruchs das Gegenteil behauptet, daß die heutige Menschheit feinfühliger u. moralischer sei, als je eine frühere u. noch mehr große Menschen aufweise, als eine frühere Epoche, u. s. w. 2 – Solchen Unsinn kann nur ein Journalisten-Kopf zusammen reimen, der nicht sehen will, wie viel Corruption doch schon auch die Presse mit verschuldet.

*

Eine kleine Verworrenheit des jungen Weisse gibt mir Veranlassung, ihm über die Vorteile der Gründlichkeit aufzuklären, namentlich darüber, um wie viel kürzer ein gründliches Studium dauert, als ein im Irrtum sich bewegendes. Ich rechne vor: Die Grundlegung der Asdur-Sonate 3 nimmt 3½ Monate in Anspruch, also beiläufig 15 Stunden von meiner Seite, während ein Virtuose, auch einer höchsten Ranges, dasselbe Werk doch mindestens 2 Jahre studieren müßte, wobei er dann überdies erst recht nicht im Besitze des Werkes ist, so daß er, von Gewissensqualen gepeinigt, nach allen möglichen Ausgaben u. Vorträgen hinhorchen muß, um sich eventuell bessere Nuançen zuzuführen. Um wie viel kürzer also unsere gründliche Prozedur! Nicht ohne Bitterkeit erklärte ich ihm, wie {495} seltsamer Weise die Ungeduld sich wider die Gründlichkeit kehrt, niemals aber wider die Gründlichkeit im Irrtum. Wenn die Tochter z. B. bei Herrn Godowsky oder Leschetyzki Mmonatelang u. täglich viele Stunden dasselbe Stück übt, so sind, bei höheren Kosten, die Eltern des Fleisses u. Erfolgs der Tochter zufrieden, so sehr wirkt Mode u. die Witterung gemeinsamen [illeg]Niveaus auf die Eltern günstig beeinflussend ein. Kaum beanspruche aber ich für meine Zwecke auch nur die Hälfte der Zeit, so wendet sich ein gewisser stiller Unmut gegen die wohltätig kürzende Gründlichkeit u. man empfindet das Tempo als langsam. Darin drückt sich doch nur das Eine aus, daß wer z. B. mein eigenes Unterrichts-Tempo langsam findet, für Wahrheit nicht zuständig ist. Ich rechnete weiters vor u. sagte: Wären Sie in die Akademie gegangen, um Komposition zu lernen, so hätten Sie 6 Jahre dort zubringen müssen bei Harmonielehre, Kontrapunkt u. Formenlehre, ohne daß Sie je über das Schulmäßige hinausgekommen wären u. ohne daß Sie das erfahren hätten, was eigentlich das Genie unserer Meister ausmacht. Bei mir aber haben Sie Einsicht in die tiefsten Geheimnisse der Tonkunst gewonnen u. so etwas wie Ungeduld regt sich, eine Ungeduld, die sich in der Akademie nicht geregt hätte. So förderlich ist die Einstellung auf den Betrug sowohl für die den Betrügenden, als den Betrogenen. Wie traurig aber ist es, daß ich, Schülern so viel Schönes schenkend, auch noch die Methode zu verteidigen habe, die ihnen auch die materiellen Opfer schont!

*

Auch die Beichte stumpft ab, so daß man desto eifriger auf die Beichte hin sündigt, jemehr man sich davon überzeugt, daß man die Absolution erhält. Wäre es anders damit, so hätte die Menschheit bis heute wahrlich ein besseres Gesicht angenommen. Mutatis mutandis läßt sich dasselbe das selbe auch von jener angeblich wohltätigen Macht sprechen, die der Oeffentlichkeit (Presse) zugeschrieben wird; auch gegen diese Oeffentlichkeit stumpft die Menschheit {496} allmälig ab, so daß sie dadurchrüber durchaus nicht besser wird, weil wenn man ihre schmutzige Wäsche öffentlich wäscht!

*

© Transcription Marko Deisinger.

December 22, 1913.

An impostor swallowed a piece of jewelry, and as a result suffered an inflammation of the appendix; the best proof that this is not an infectious disease but rather, as I always maintained, the result of the content of the intestine going astray.

*

The Mona Lisa, which was stolen from the Paris Louvre, has been found again in Florence and returned to Paris. 1 Only now has King Victor Emanuel looked at the picture, since in recent times so much has indeed been said about him! Yet another proof that beauty and truth must first be given a slap in the face before one takes note of them!

*

In the lead article of today's Sonn- und Montags-Zeitung, the decline of parliamentary democracy is attributed to the corruption of the political parties; but at the same time, without being aware of a contradiction, the opposite is claimed, that today's humanity is more sensitive and ethical than at any time in the past, and has produced more great persons than in any past epoch, and so on. 2 – Such nonsense can only be put together in the head of a journalist, who cannot see how much corruption for which the press, too, is itself responsible.

*

A little confusion on the part of young Weisse gives me occasion to explain the advantages of thoroughness, in particular, in connection with how much shorter a thorough study lasts than one that proceeds in error. I calculate: the foundations of the Sonata in A flat major 3 require 3½ months, that is, approximately 15 lessons on my part; whereas a virtuoso, even one of the highest rank, must study the same work for at least two years, at which point he is moreover not yet even in possession of the work, so that, tormented by pangs of conscience, must pay attention to all editions and performances so that he may be able to incorporate better nuances. How much shorter, then, is our thorough procedure! It was not without bitterness that I explained to him how, {495} strangely, impatience turns against thoroughness, but never against the thoroughness in error. If, for example, one's daughter studies with Mr. Godowsky or Leschetizky for months on end, and practices the same piece for many hours, then the parents who incur greater costs will be satisfied with their daughter's industry and success, given that fashion and the sensing of common levels will have a favorable influence on her parents. But although I hardly require even half that time, a certain unspoken discontent turns itself against the beneficially shortening thoroughness, and one feels that the tempo [of my tuition] is too slow. In this only one thing, however, is expressed: that anyone who, for instance, finds my own teaching tempo slow shows no concern for truth. I calculated further and said: if you had gone to the Academy to learn composition, you would have to spend six years there studying harmony, counterpoint and form without getting beyond a textbook education, and without having experienced what the genius of our masters really amounts to. With me, however, you have gained insight into the deepest secrets of music; and thus something like impatience comes to the fore, which it would not have done at the Academy. The disposition towards deception is as advantageous to the deceiver as it is to the deceived. But how sad it is that, though I have given my pupils so many beautiful things, I must even defend the method that spares them material sacrifice!

*

Even the act of confession is dulled, so that one sins all the more zealously with confession in mind the more that one is convinced that one will receive absolution. Were things otherwise, then humanity would by now really have put on a better front. Mutatis mutandis the same applies also to that apparently benevolent power that is ascribed to public opinion (the press); against this public opinion, humanity is on every occasion dulled, {496} so that it does not at all become better when its dirty laundry is washed in public!

*

© Translation William Drabkin.

22. XII. 13

Ein Hochstapler hat ein Schmuckstück verschluckt u. sich dadurch eine Blinddarmreitzung [sic] zugezogen; der beste Beweis dafür, daß es keine infektiöse Krankheit ist, sondern nur, wie ich immer behauptete, ein Fehlgehen des Darminhaltes.

*

Mona Lisa, die aus dem Pariser Louvre gestohlen wurde, ist wieder in Florenz gefunden u. nach Paris zurückbefördert worden. 1 Nun erst jetzt hat sich auch König Victor Emanuel das Bild angesehen, weil ja von ihm in der letzten Zeit – so viel Rede gewesen! Wieder ein Beweis dafür, daß Schönheit u. Wahrheit erst Ohrfeigen erhalten müssen, bevor man auf sie aufmerksam wird!

*

Im Leitartikel der heutigen Sonn- u. Montags Ztg. wird der Niedergang des Parlamentarismus auf die Corruption der politischen Parteien zurückgeführt, zugleich aber ohne Bewußtsein eines Widerspruchs das Gegenteil behauptet, daß die heutige Menschheit feinfühliger u. moralischer sei, als je eine frühere u. noch mehr große Menschen aufweise, als eine frühere Epoche, u. s. w. 2 – Solchen Unsinn kann nur ein Journalisten-Kopf zusammen reimen, der nicht sehen will, wie viel Corruption doch schon auch die Presse mit verschuldet.

*

Eine kleine Verworrenheit des jungen Weisse gibt mir Veranlassung, ihm über die Vorteile der Gründlichkeit aufzuklären, namentlich darüber, um wie viel kürzer ein gründliches Studium dauert, als ein im Irrtum sich bewegendes. Ich rechne vor: Die Grundlegung der Asdur-Sonate 3 nimmt 3½ Monate in Anspruch, also beiläufig 15 Stunden von meiner Seite, während ein Virtuose, auch einer höchsten Ranges, dasselbe Werk doch mindestens 2 Jahre studieren müßte, wobei er dann überdies erst recht nicht im Besitze des Werkes ist, so daß er, von Gewissensqualen gepeinigt, nach allen möglichen Ausgaben u. Vorträgen hinhorchen muß, um sich eventuell bessere Nuançen zuzuführen. Um wie viel kürzer also unsere gründliche Prozedur! Nicht ohne Bitterkeit erklärte ich ihm, wie {495} seltsamer Weise die Ungeduld sich wider die Gründlichkeit kehrt, niemals aber wider die Gründlichkeit im Irrtum. Wenn die Tochter z. B. bei Herrn Godowsky oder Leschetyzki Mmonatelang u. täglich viele Stunden dasselbe Stück übt, so sind, bei höheren Kosten, die Eltern des Fleisses u. Erfolgs der Tochter zufrieden, so sehr wirkt Mode u. die Witterung gemeinsamen [illeg]Niveaus auf die Eltern günstig beeinflussend ein. Kaum beanspruche aber ich für meine Zwecke auch nur die Hälfte der Zeit, so wendet sich ein gewisser stiller Unmut gegen die wohltätig kürzende Gründlichkeit u. man empfindet das Tempo als langsam. Darin drückt sich doch nur das Eine aus, daß wer z. B. mein eigenes Unterrichts-Tempo langsam findet, für Wahrheit nicht zuständig ist. Ich rechnete weiters vor u. sagte: Wären Sie in die Akademie gegangen, um Komposition zu lernen, so hätten Sie 6 Jahre dort zubringen müssen bei Harmonielehre, Kontrapunkt u. Formenlehre, ohne daß Sie je über das Schulmäßige hinausgekommen wären u. ohne daß Sie das erfahren hätten, was eigentlich das Genie unserer Meister ausmacht. Bei mir aber haben Sie Einsicht in die tiefsten Geheimnisse der Tonkunst gewonnen u. so etwas wie Ungeduld regt sich, eine Ungeduld, die sich in der Akademie nicht geregt hätte. So förderlich ist die Einstellung auf den Betrug sowohl für die den Betrügenden, als den Betrogenen. Wie traurig aber ist es, daß ich, Schülern so viel Schönes schenkend, auch noch die Methode zu verteidigen habe, die ihnen auch die materiellen Opfer schont!

*

Auch die Beichte stumpft ab, so daß man desto eifriger auf die Beichte hin sündigt, jemehr man sich davon überzeugt, daß man die Absolution erhält. Wäre es anders damit, so hätte die Menschheit bis heute wahrlich ein besseres Gesicht angenommen. Mutatis mutandis läßt sich dasselbe das selbe auch von jener angeblich wohltätigen Macht sprechen, die der Oeffentlichkeit (Presse) zugeschrieben wird; auch gegen diese Oeffentlichkeit stumpft die Menschheit {496} allmälig ab, so daß sie dadurchrüber durchaus nicht besser wird, weil wenn man ihre schmutzige Wäsche öffentlich wäscht!

*

© Transcription Marko Deisinger.

December 22, 1913.

An impostor swallowed a piece of jewelry, and as a result suffered an inflammation of the appendix; the best proof that this is not an infectious disease but rather, as I always maintained, the result of the content of the intestine going astray.

*

The Mona Lisa, which was stolen from the Paris Louvre, has been found again in Florence and returned to Paris. 1 Only now has King Victor Emanuel looked at the picture, since in recent times so much has indeed been said about him! Yet another proof that beauty and truth must first be given a slap in the face before one takes note of them!

*

In the lead article of today's Sonn- und Montags-Zeitung, the decline of parliamentary democracy is attributed to the corruption of the political parties; but at the same time, without being aware of a contradiction, the opposite is claimed, that today's humanity is more sensitive and ethical than at any time in the past, and has produced more great persons than in any past epoch, and so on. 2 – Such nonsense can only be put together in the head of a journalist, who cannot see how much corruption for which the press, too, is itself responsible.

*

A little confusion on the part of young Weisse gives me occasion to explain the advantages of thoroughness, in particular, in connection with how much shorter a thorough study lasts than one that proceeds in error. I calculate: the foundations of the Sonata in A flat major 3 require 3½ months, that is, approximately 15 lessons on my part; whereas a virtuoso, even one of the highest rank, must study the same work for at least two years, at which point he is moreover not yet even in possession of the work, so that, tormented by pangs of conscience, must pay attention to all editions and performances so that he may be able to incorporate better nuances. How much shorter, then, is our thorough procedure! It was not without bitterness that I explained to him how, {495} strangely, impatience turns against thoroughness, but never against the thoroughness in error. If, for example, one's daughter studies with Mr. Godowsky or Leschetizky for months on end, and practices the same piece for many hours, then the parents who incur greater costs will be satisfied with their daughter's industry and success, given that fashion and the sensing of common levels will have a favorable influence on her parents. But although I hardly require even half that time, a certain unspoken discontent turns itself against the beneficially shortening thoroughness, and one feels that the tempo [of my tuition] is too slow. In this only one thing, however, is expressed: that anyone who, for instance, finds my own teaching tempo slow shows no concern for truth. I calculated further and said: if you had gone to the Academy to learn composition, you would have to spend six years there studying harmony, counterpoint and form without getting beyond a textbook education, and without having experienced what the genius of our masters really amounts to. With me, however, you have gained insight into the deepest secrets of music; and thus something like impatience comes to the fore, which it would not have done at the Academy. The disposition towards deception is as advantageous to the deceiver as it is to the deceived. But how sad it is that, though I have given my pupils so many beautiful things, I must even defend the method that spares them material sacrifice!

*

Even the act of confession is dulled, so that one sins all the more zealously with confession in mind the more that one is convinced that one will receive absolution. Were things otherwise, then humanity would by now really have put on a better front. Mutatis mutandis the same applies also to that apparently benevolent power that is ascribed to public opinion (the press); against this public opinion, humanity is on every occasion dulled, {496} so that it does not at all become better when its dirty laundry is washed in public!

*

© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 The theft of Leonardo da Vinci’s Mona Lisa on August 21, 1911, caused a media sensation. Two years went by before the thief was identified as Vincenzo Peruggia, an Italian patriot who worked at the Louvre and believed that da Vinci's painting belonged in an Italian museum.

2 Austriacus, "Der Verfall des Parlamentarismus," Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, No. 51, December 22, 1913, 51st year, pp. 1–2.

3 Either Beethoven's Op. 26 or, more probably, his Op. 110, as Schenker has been working on the Erläuterungsausgabe of Op. 110.