22. VI. 15

Daraus, daß unsere Diplomaten zehn Monate lang dem Treiben der italienischen {961} Regierung zugesehen haben, ohne allsogleich den Krieg an Italien veranlaßt zu haben, folgert törichterweise die „Arbeiter Ztg.;“, daß wohl auch sonst Frieden unter den Menschen gehalten werden könnte, wenn man nur ernstlich wollte! 1 Solche Stupiditäten nun, die täglich u. stündlich durch die Tatsachen der realen Welt widerlegt werden können – wie treffend äußert sich doch darüber schon das Sprichwort: „Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt“ – schickt die Arbeiter Ztg. nun in ihren Leserkreis hinaus, nur um in unverzeihlicher Eitelkeit den Vorzug ihrer Partei vor den übrigen u. zu erweisen u. zu betonen. Gewiss, vom Tisch weg zum Tisch hin, von der Phrase weg zur andern Phrase hin läßt sich sogar die eines Ewigkeit des eines Friedens beweisen; ! dDoppelt fatal ist es aber, daß dieselben Sozialdemokraten, die gewohnt sind „durchzuhalten“, wenn es blos gilt, um des Lohnes willen eine Bewegung zu arrangieren, auf einmal sentmental [sic] werden, wenn sich das ganze Vaterland anschickt, in der Verteidigung gegen die Gegner ebenso „durchhalten“ zu wollen. Für ihr eigen Teil begreifen sie zwar sogar, daß z. B. eine Lohnerhöhung, die nur ein Teil, obendrein der bescheidenste Teil der sozialen Frage ist, so daß sie die noch ausstehenden wichtigeren Fragen, wie sie sagen, erst nach Erledigung der Lohnfrage, von der sie abhängig sind, vorzubringen versprechen; begriffstützig [sic] aber werden sie auf einmal, wenn es gilt zu begreifen, daß es mit zur künftigen Verteidigung Deutschlands u. wohl auch aller germanische nr Stämme gehört, wenn Deutschland den Sieg sich mit der Annexion bestimmter feindlicher Teile, so z. B. der Rheinmündung bezahlt machen will. Wie kleinlich macht doch die Verfolgung eines kleine nren Zieles! Einen hHöheren Lohn Löhne durchzusetzen, ist, wie man sieht, eine viel kleinere Sache, als die Bedingungen zu überblicken, unter denen die Zukunft eines ganzen Reiches gesichert werden soll. Und gibt man zu, daß die Sicherung der Zukunft des Vaterlandes Voraussetzung sämtlicher Lohnerhöhungen sein muß, wie absurd u. sentimental klingen da {962} die Stimmen der Sozialdemokraten, die, wieder nur um mit Friedensliebe zu prahlen, gegen jede Annexion Stimmung machen, davon nicht zu sprechen, wie anmaßend es klingt, wenn Menschen, die sich allenfalls auf Lohnfragen verstehen, Probleme erörtern, die davon weit ab liegen.

*

Zuckerkandl teilt mir durch Brünauer mit, daß er leider verhindert ist, zu den letzten beiden Stunden zu kommen, daß er mir aber noch schreiben werde. —

Dagegen ersucht mich Brünauer, ihm die letzte Feiertagsstunde nach Möglichkeit einzubringen. Man besitzt eben nicht ungestraft eine Chokolaterie!

*

Abends, ½9h, zetern die Extraausgaben durch die Stadt: Lemberg erobert!!! 2 Unter dem Eindruck dieser übrigens schon längst erwarteten Botschaft beginnt die Stadt freudig, ja ausgelassen zu vibrieren u. wie aus dem Erdboden wachsen hier u. dort Demonstrantengruppen hervor, die durcheinander, gegeneinander ziehen u. das Spontane der Bewegung wohl sehr glücklich zum Ausdruck bringen. Gerade aber an diesen vielen zersplitterten Demonstrationen mochte man am besten erkennen, um wie viel wirksamer sich wohl eine von vornherein planmäßig festgelegte umfassende Demonstration darbietet. Nebenbei ein treffendes Beispiel dafür, daß allemal die Kunst mit Vorbedacht sondernd, gruppierend, an einem bestimmten Ziele festhaltend u. ihm entgegenarbeitend überlegen ist der Natur, die sich in Einzelzügen planlos gebärden u. als ihr einziges Ziel lediglich eben die Hervorbringung eines Einzel-Enthusiasmus bei Einzelindividuen kennt. Besonders krass trat dies zutage, als wir, einem Demonstantenzug [sic] zur deutschen Botschaft folgend, hörten, wie Teile derselben Gruppe verschiedene Nationalweisen gleichzeitig, ja in verschiedener Tonhöhe zu singen versuchten u. wie der ganze Zug, in Ermangelung eines wirklichen Führers, geradezu mit Mühe blos die Hurras u. ähnliches Geschrei von sich gab. Schade, daß die Menschen so wenig {963} begreifen, daß, was wir Ziel nennen, nur eine rein menschliche Erfindung ist, daher auch nicht ausschließlich blos mit natürlichen, sondern zugleich auch mit den gesteigerten Mitteln menschlichen Verstandes bestritten werden muß. Und ist daran nicht zu zweifeln, so versteht sich des weiteren auch von selbst, daß mit je mehr Mitteln auf das Ziel mit Absicht losgegangen wurde, dieses desto wirkungsvoller erreicht wird.

*

© Transcription Marko Deisinger.

June 22, 1915.

From the fact that our diplomats have been ten months watching the activities of the Italian government {961} without immediately giving the signal for war against Italy, the Arbeiter-Zeitung foolishly deduces that peace among men could be maintained if only they seriously wished it! 1 Such stupidities, which daily and hourly are contradicted by the facts of the real world – how trenchantly the proverb expresses itself about this: "The best person cannot live in peace if his wicked neighbor doesn't want him to" – the Arbeiter-Zeitung is now broadcasting to its readership, only prove and emphasize, with unforgivable vanity, the advantage of their party over the others. For sure, from one table to the next, from one phrase to the next, the eternity of a peace can be proved! But it is doubly fatal that these same social democrats, who are used to "hanging on" when it is merely a question of instigating an action on behalf of their wages, can suddenly become sentimental when the entire fatherland likewise sets about "hanging on" to defend themselves against their opponents. For their own part they even understand that, for example, an increase in wages is only part, moreover the most modest part, of the social question, so that they promise to address other, more important matters, as they say, only after they have settled the matter of wages on which those matters depend. But they suddenly become thick-headed when it comes to understanding that the future defense of Germany and indeed of all Germanic tribes depends on Germany's victory being rewarded with the annexation of certain enemy territories, for example the Rhein estuary. How petty the pursuit of a more modest goal proves to be! To succeed in obtaining higher wages is, as one sees, a much more modest matter than to take stock of the conditions under which the future of an entire realm is to be secured. And if one admits that securing the future of the fatherland must be a precondition of all wage rises, how absurd and sentimental {962} the voices of the social democrats sound when they again merely boast of their love of freedom and voice their opposition to annexation – to say nothing of how presumptuous people, who are at most competent in matters of wages, sound when they discuss problems that are far removed from them.

*

Zuckerkandl tells me, via Brünauer, that he is unfortunately unable to come to his last two lessons, but that he will still write to me. —

By contrast, Brünauer asks me to "include" the lesson falling on a holiday for him, if possible. One can own a chocolate factory and still be punished!

*

In the evening, around 8:30, the extra editions clamor throughout the city: "Lemberg conquered"!!! 2 Under the impact of this news, which was moreover so long awaited, the city begins to vibrate with joy, indeed with exuberance; and groups of demonstrators gather here and there, as if coming from below ground, pushing through each other, against each other, expressing the spontaneity of movement with great happiness. But precisely from these many fragmented demonstrations, one can best recognize how much more effective a comprehensive demonstration, designed at the outset by a plan, would have proved to be. A trenchant illustration, it may be noted in passing, of how at all times art, by carefully dividing, grouping and adhering to a specific goal and working towards it, is superior to nature, which behaves without plan one step at a time, and has as its only goal merely the bringing forth of an enthusiasm of single individuals. This manifested itself in an especially blatant way when we followed a demonstration to the German embassy and heard how parts of the same group were trying to sing various national hymns at the same time, even at different pitch levels, and how the entire procession, without having a real leader, delivered – with difficulty – only shouts of "Hurrah" and similar screams. It is a pity that the people understand so little {963} that what we call a goal is only a purely human invention, and that it therefore cannot be arrived at exclusively by natural means, but also needs at the same time needs the enhanced means of human understanding. And if that is not to be doubted, then it is also further self-evident that, the greater the means that are applied to the goal, the more effectively it will be reached.

*

© Translation William Drabkin.

22. VI. 15

Daraus, daß unsere Diplomaten zehn Monate lang dem Treiben der italienischen {961} Regierung zugesehen haben, ohne allsogleich den Krieg an Italien veranlaßt zu haben, folgert törichterweise die „Arbeiter Ztg.;“, daß wohl auch sonst Frieden unter den Menschen gehalten werden könnte, wenn man nur ernstlich wollte! 1 Solche Stupiditäten nun, die täglich u. stündlich durch die Tatsachen der realen Welt widerlegt werden können – wie treffend äußert sich doch darüber schon das Sprichwort: „Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt“ – schickt die Arbeiter Ztg. nun in ihren Leserkreis hinaus, nur um in unverzeihlicher Eitelkeit den Vorzug ihrer Partei vor den übrigen u. zu erweisen u. zu betonen. Gewiss, vom Tisch weg zum Tisch hin, von der Phrase weg zur andern Phrase hin läßt sich sogar die eines Ewigkeit des eines Friedens beweisen; ! dDoppelt fatal ist es aber, daß dieselben Sozialdemokraten, die gewohnt sind „durchzuhalten“, wenn es blos gilt, um des Lohnes willen eine Bewegung zu arrangieren, auf einmal sentmental [sic] werden, wenn sich das ganze Vaterland anschickt, in der Verteidigung gegen die Gegner ebenso „durchhalten“ zu wollen. Für ihr eigen Teil begreifen sie zwar sogar, daß z. B. eine Lohnerhöhung, die nur ein Teil, obendrein der bescheidenste Teil der sozialen Frage ist, so daß sie die noch ausstehenden wichtigeren Fragen, wie sie sagen, erst nach Erledigung der Lohnfrage, von der sie abhängig sind, vorzubringen versprechen; begriffstützig [sic] aber werden sie auf einmal, wenn es gilt zu begreifen, daß es mit zur künftigen Verteidigung Deutschlands u. wohl auch aller germanische nr Stämme gehört, wenn Deutschland den Sieg sich mit der Annexion bestimmter feindlicher Teile, so z. B. der Rheinmündung bezahlt machen will. Wie kleinlich macht doch die Verfolgung eines kleine nren Zieles! Einen hHöheren Lohn Löhne durchzusetzen, ist, wie man sieht, eine viel kleinere Sache, als die Bedingungen zu überblicken, unter denen die Zukunft eines ganzen Reiches gesichert werden soll. Und gibt man zu, daß die Sicherung der Zukunft des Vaterlandes Voraussetzung sämtlicher Lohnerhöhungen sein muß, wie absurd u. sentimental klingen da {962} die Stimmen der Sozialdemokraten, die, wieder nur um mit Friedensliebe zu prahlen, gegen jede Annexion Stimmung machen, davon nicht zu sprechen, wie anmaßend es klingt, wenn Menschen, die sich allenfalls auf Lohnfragen verstehen, Probleme erörtern, die davon weit ab liegen.

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Zuckerkandl teilt mir durch Brünauer mit, daß er leider verhindert ist, zu den letzten beiden Stunden zu kommen, daß er mir aber noch schreiben werde. —

Dagegen ersucht mich Brünauer, ihm die letzte Feiertagsstunde nach Möglichkeit einzubringen. Man besitzt eben nicht ungestraft eine Chokolaterie!

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Abends, ½9h, zetern die Extraausgaben durch die Stadt: Lemberg erobert!!! 2 Unter dem Eindruck dieser übrigens schon längst erwarteten Botschaft beginnt die Stadt freudig, ja ausgelassen zu vibrieren u. wie aus dem Erdboden wachsen hier u. dort Demonstrantengruppen hervor, die durcheinander, gegeneinander ziehen u. das Spontane der Bewegung wohl sehr glücklich zum Ausdruck bringen. Gerade aber an diesen vielen zersplitterten Demonstrationen mochte man am besten erkennen, um wie viel wirksamer sich wohl eine von vornherein planmäßig festgelegte umfassende Demonstration darbietet. Nebenbei ein treffendes Beispiel dafür, daß allemal die Kunst mit Vorbedacht sondernd, gruppierend, an einem bestimmten Ziele festhaltend u. ihm entgegenarbeitend überlegen ist der Natur, die sich in Einzelzügen planlos gebärden u. als ihr einziges Ziel lediglich eben die Hervorbringung eines Einzel-Enthusiasmus bei Einzelindividuen kennt. Besonders krass trat dies zutage, als wir, einem Demonstantenzug [sic] zur deutschen Botschaft folgend, hörten, wie Teile derselben Gruppe verschiedene Nationalweisen gleichzeitig, ja in verschiedener Tonhöhe zu singen versuchten u. wie der ganze Zug, in Ermangelung eines wirklichen Führers, geradezu mit Mühe blos die Hurras u. ähnliches Geschrei von sich gab. Schade, daß die Menschen so wenig {963} begreifen, daß, was wir Ziel nennen, nur eine rein menschliche Erfindung ist, daher auch nicht ausschließlich blos mit natürlichen, sondern zugleich auch mit den gesteigerten Mitteln menschlichen Verstandes bestritten werden muß. Und ist daran nicht zu zweifeln, so versteht sich des weiteren auch von selbst, daß mit je mehr Mitteln auf das Ziel mit Absicht losgegangen wurde, dieses desto wirkungsvoller erreicht wird.

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© Transcription Marko Deisinger.

June 22, 1915.

From the fact that our diplomats have been ten months watching the activities of the Italian government {961} without immediately giving the signal for war against Italy, the Arbeiter-Zeitung foolishly deduces that peace among men could be maintained if only they seriously wished it! 1 Such stupidities, which daily and hourly are contradicted by the facts of the real world – how trenchantly the proverb expresses itself about this: "The best person cannot live in peace if his wicked neighbor doesn't want him to" – the Arbeiter-Zeitung is now broadcasting to its readership, only prove and emphasize, with unforgivable vanity, the advantage of their party over the others. For sure, from one table to the next, from one phrase to the next, the eternity of a peace can be proved! But it is doubly fatal that these same social democrats, who are used to "hanging on" when it is merely a question of instigating an action on behalf of their wages, can suddenly become sentimental when the entire fatherland likewise sets about "hanging on" to defend themselves against their opponents. For their own part they even understand that, for example, an increase in wages is only part, moreover the most modest part, of the social question, so that they promise to address other, more important matters, as they say, only after they have settled the matter of wages on which those matters depend. But they suddenly become thick-headed when it comes to understanding that the future defense of Germany and indeed of all Germanic tribes depends on Germany's victory being rewarded with the annexation of certain enemy territories, for example the Rhein estuary. How petty the pursuit of a more modest goal proves to be! To succeed in obtaining higher wages is, as one sees, a much more modest matter than to take stock of the conditions under which the future of an entire realm is to be secured. And if one admits that securing the future of the fatherland must be a precondition of all wage rises, how absurd and sentimental {962} the voices of the social democrats sound when they again merely boast of their love of freedom and voice their opposition to annexation – to say nothing of how presumptuous people, who are at most competent in matters of wages, sound when they discuss problems that are far removed from them.

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Zuckerkandl tells me, via Brünauer, that he is unfortunately unable to come to his last two lessons, but that he will still write to me. —

By contrast, Brünauer asks me to "include" the lesson falling on a holiday for him, if possible. One can own a chocolate factory and still be punished!

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In the evening, around 8:30, the extra editions clamor throughout the city: "Lemberg conquered"!!! 2 Under the impact of this news, which was moreover so long awaited, the city begins to vibrate with joy, indeed with exuberance; and groups of demonstrators gather here and there, as if coming from below ground, pushing through each other, against each other, expressing the spontaneity of movement with great happiness. But precisely from these many fragmented demonstrations, one can best recognize how much more effective a comprehensive demonstration, designed at the outset by a plan, would have proved to be. A trenchant illustration, it may be noted in passing, of how at all times art, by carefully dividing, grouping and adhering to a specific goal and working towards it, is superior to nature, which behaves without plan one step at a time, and has as its only goal merely the bringing forth of an enthusiasm of single individuals. This manifested itself in an especially blatant way when we followed a demonstration to the German embassy and heard how parts of the same group were trying to sing various national hymns at the same time, even at different pitch levels, and how the entire procession, without having a real leader, delivered – with difficulty – only shouts of "Hurrah" and similar screams. It is a pity that the people understand so little {963} that what we call a goal is only a purely human invention, and that it therefore cannot be arrived at exclusively by natural means, but also needs at the same time needs the enhanced means of human understanding. And if that is not to be doubted, then it is also further self-evident that, the greater the means that are applied to the goal, the more effectively it will be reached.

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Kriegerische und friedliche Diplomatie," Arbeiter-Zeitung, No. 171, June 22, 1915, 27th year, pp. 1-2.

2 "Lemberg erobert! Durch unserer zweite Armee nach hartem Kampfe erobert," Neue Freie Presse, No. 18258, June 22, 1915, second special edition, p. 1. "Lemberg – erobert! Von unserer zweiten Armee," Die Zeit, June 22, 1915, extra edition, p. 1.