28. +5°, bewölkt u. kühl.
— Frau D. zu Tisch u. im Caféhaus. — — Der Reiche: Eine uns bekannte Dame hat, wie ich von Lie-Liechen höre, zu Kriegsbeginn sich mit kondensierter Milch bis zu einem Grade versorgt, daß sie viele Monate ihr Auskommen damit fand. Sie kaufte die Milch aus Gründen der Vorsicht; sie hörte von drohender Milchnot. Doch wie immer die Gründe gelautet haben mögen, der Effekt bleibt einzig u. allein der, daß ein wohlhabender Mensch durch rechtzeitigen Ankauf u. durch Anhäufung von Lebensmitteln die Möglichkeit gewinnt, nicht nur der Entbehrung, sondern auch der Teuerung auszuweichen, wobei er zum Ueberfluss auch noch an Zeit spart, die in Zeiten der Not die Beschaffung der Lebensmittel erfordert. Nicht nur also, daß der Reiche seine Einkünfte aus den Händen der Armen empfängt, benützt er das Geschenk dazu, um billiger u. mehr, obendrein mit Ersparnis an Zeit selbst noch dann zu essen, wenn die Armen die Lebensmittel längst nicht mehr erlangen können. Die Ironie will es, daß der Reiche, alle Tage bis zum Ueberfluß gesättigt, von den hungernden Armen Schutz seines Eigentums u. seines Magens fordert, u. wieder nur aus Angst, er könnte etwa durch verlorene Feldzüge um die Fülle des Geldes oder des Magens kommen. Also im Grunde läuft der Krieg darauf hinaus, daß die Armen alle Mittel aufbieten, um jede Angst von den Reichen bezüglich ihrer Zukunft fernzuhalten. Was Wäre es allenfalls noch verständlich wäre, wenn die Reichen durch Verluste herabgekommen in der Reihe der Armen bereits stünden, wo dann u. wenn die Armen u. Armgewordenen Schulter an Schulter um die Eroberung einer besseren Zukunft kämpfen würden, so versinkt dagegen in die Untiefe von Irrsinn, wenn man bedenkt, daß die an Gegenwart u. Zukunft armen Armen sich lediglich um die Sicherstellung der Zukunft der Reichen, die doch mindestens die Gegen- {209} wart genießen, zu mühen haben u. daß während dieser aufopferungsvollen Mühen der Reiche dem Armen alle Nahrung wegfrißt, u. mehr als das, sich sogar unabkömmlich erklärt, um es wegfressen zu können. Wenn der Staat an der Notwendigkeit von Religionen, sei es von Staatsreligionen oder von gesetzlich zugelassenen, festhält weil er der Ansicht ist, dem Armen müsse mindestens dieser Trost einer Anweisung auf ein besseres Jenseits gegeben werden, so nützt auf die Dauer die Simulation des Staates freilich wenig, denn er ist es selbst, der alle Grundbedingungen der Religion sie am meisten dadurch untergräbt u. erschüttert, daß er dem Reichen Amt, Ehre u. Würden u. alle Macht zubilligt. Auf der einen Seite also ein Moses, der gegen das goldene Kalb wettert, ein Christus, der gegen die Krämer seine Stimme erhebet, u. hier auf der anderen Seite ein Idiot von einem Staat, der sich das Unmögliche zu lösen herausnimmt, die Religion Christus oder Moses predigen zu lassen, zugleich aber die von Moses u. Christus Verachteten dennoch in Ehren zu halten. *De mr Reichen, der selbst täglich tausend Einbrüche in die Physis u. Psyche u. den Geldbeutel der Armen verübt, kommt kennt als Taschendieb oder Einbrecher nur de rnjenige[n] vor, der (nicht ohne Mut) in einen Laden eindringt. Ihr eigener Raub gilt ihnen als legitim, wobei sie vergessen, daß sie als Rechtsordnung fälschlicherweise nur dasjenige bezeichnet haben, was nicht nur nach der Auffassung von Verbrechern, sondern auch von nach der unserer größten Denkern niemals als wirkliche Rechtsordnung gegolten hat u. auch nicht gelten kann. Die Reichen, die das Geld hatten, hatten leider auch die Macht Gesetze zu schaffen u. da begreift es sich, daß sie ihr eigenes größeres Verbrechertum mit Rechtsordnung schminkten, die kleinen Verbrechen aber der Uebrigen für Rechtsunordnung erklärten. Diese Technik der Gesetzgebung erinnert ja auch an die Ehegesetzgebung, in der die Männer ihren eigenen Charakterlosigkeiten die Würde von gesetzlich erlaubte nr oder mindestens geduldeter Handlungen anzulegen wußten, während sie dieselben Handlungen, wenn sie von Frauen wider {210} sie verübt worden, als Infamien u. Verbrechen wider Sitte u. dgl. ausschreien u. bestrafen. — — Mit Christus hat es zu heißen: Aus Liebe zur Menschheit verachte man den WarenKrämer u. den Neuigkeitshändler krämer, den Journalisten. — *Journalisten: Ludwig Geiger: „Geschichte des geistigen Lebens der preussischen Hauptstadt Berlin 1688–1840.[“] 1 „Gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts tauchen die ersten Kunstberichte u. Theaterkritiken auf.“ — Alexander v. Weilen „Kritik des Schauspiels in der Wiener Zeitung.“ 2 „Eine Zeitung hat nichts mit der Kritik gemein“, so meldet das „Wiener Diarium“ im Jahre 1768. — *Sommerzeit: 3 Die Trägheit der Städter hat einen Grad erreicht, der schließlich einer Korrektur im Sinne der Landbewohner bedurfte. Es ist eigentlich recht betrübend, daß man erst die Erziehung der Städter zur Sonne mit einem solchen Gewaltakt wider die Uhr erzwingen muß. Wäre die Uhr nicht auch nur eine Erfindung der Menschen, so müßte man eigentlich recht empört sein darüber, daß man zu solchen Gewaltmitteln greift, um Millionen von Städtern eine obendrein gesundheitsschädliche Unart auszutreiben. Daß sich nicht nur einzelne Häuser in dieser Weise zur wahren Sommerordnung erziehen, sondern gleich mehrere Staaten, macht mir selbst die ganze Angelegenheit recht possierlich. Für mich persönlich bedeutet sie gerade nur so viel, als ich Frühaufsteher nun mit zu den Spätaufstehern gezählt werde, oder, wie Lie-Liechen es ausdrückt, daß ich früher zum Frühstück komme. — *Einstimmig behaupten alle Frauen, daß sie die Schönheit ihres Körpers durchaus nicht etwa um erotischer Wirkungen pflegen, vielmehr nur sich selbst zuliebe oder, wie sie {211} sagen, um der Schönheit selbst willen. Man darf dann aber freilich die Frauen nicht fragen, warum sie um der Schönheit willen dann nicht ebenso die Schönheit des Geistes pflegen? *Der Reiche: Mit Geld erkauft sich der Reiche sogar das Recht, sowohl sich selbst als andere mit angeblicher Menschenfreundlichkeit anzulügen. Wie das möglich ist? Sehr einfach erklärt sich dieses dadurch, daß seine Menschenfreundlichkeit, wie sie sich in der Plünderung der Armen ausdrückt, nach dem Stande der gegenwärtigen Gesetzgebung ja legalen Charakter hat, so daß er wegen seiner Verbrechen nicht bestraft werden kann. Unbestraft u. auf die sogenannte Rechtsordnung gestützt, wirft sich der Reiche in die Brust u. nennt sich einfach einen Menschenfreund. Daß er selbst eine solche Rechtsordnung erst geschaffen, daß also schon in der Rechtsordnung das Verbrechen liegt, das wird freilich der Reiche niemals begreifen, wenigstens so lange nicht Geld u. Macht von Recht getrennt wird. — *Menschen die Pflanzen lieben, wissen ihrer Liebe zu ihnen fast immer den richtigen Inhalt zu geben, in dem indem sie den Pflanzen Licht, Luft u. Wasser nach deren eigenem Bedarf geben. Keinem Pflanzenfreundwird würde es je einfallen, etwa aus überspannter Zärtlichkeit die Blumen mit mehr Wasser zu begießen, als sie brauchen, schon einfach aus dem Grunde, weil er sie verlieren würde. Zu so einfachen Erwägungen aber kommen die Menschen, wenn sie Menschen lieben, noch lange nicht. Beinahe sieht es unter ihnen erst so aus, als würden sie unter Liebe nur jene verworrenen u. gierige Leidenschaft verstehen, die sich u. den Geliebten zu Tode liebt. Daß man da nicht von wirklicher Liebe sprechen darf, liegt auf der Hand. Nur eben der Mangel an wirklicher Liebe bringt den Wahn falscher Liebesallüren auf, die nur über den Mangel ebenso hinwegtäuschen sollen, wie etwa Hosenbügelfalten über den Mangel an Vornehmheit der Seele. — *{212} © Transcription Marko Deisinger. |
28. +5°, cloudy and cool.
— Mrs. Deutsch at lunch and in the coffee house. — — The rich: a lady who is known to us, so I hear from Lie-Liechen, began hoarding condensed milk at the start of the war up to the point that she would have a supply lasting many months. She bought the milk for precautionary reasons; she heard of the threat of a milk shortage. But whatever reasons may have been given, the effect is only this: that a well-to-do person, by the timely purchase and stockpiling of provisions, gains the possibility not only of avoiding going without but also protecting themself against a price rise, whereby, to top it all, they also save the time that is required to obtain provisions in times of shortage. Thus it is not merely that the rich person gets his earnings from the hands of the poor, he uses this gift to eat more, and more cheaply, moreover saving time, even when the poor people have for a long time been unable to obtain the provisions. The irony of it all is that the rich man, satiated at all times to the point of overabundance, demands protection of his property and his stomach from the poor, and only out of the fear that, from a lost military campaign, he might perhaps lose the fullness of his wealth or stomach. And so, basically, the war is taking a course such as the poor offer every means to keep at a distance, out of fear of the rich with respect to their future. Were it at any rate still understandable if the rich, having been brought down by losses, stood among the poor, and the poor and the impoverished fought shoulder to shoulder to gain a better future, that would, however, sink to the depths of madness if those who are always poor simply went to the trouble of securing the future of the rich – who are at least enjoying the present – {209} and that during these sacrificial efforts the rich would eat up all the food of the poor and, more than that, would even declare themselves unavailable [for service] in order that they might eat it all up. If the state upholds the importance of religions, whether state religions or those that are legally permitted, because it is of the view that the poor must at least be given the consolation of a signpost pointing to a better hereafter, then the state’s pretenses will of course be of little use in the long run, since it is the state itself that is most responsible for undermining and destroying the basic conditions of religion, by awarding to rich people office, honor and distinctions. On one side we have a Moses who rails against the Golden Calf, a Christ who raises his voice against the peddlers; and here on the other side an idiot of a state that presumes to solve the impossible: to let the religion of Christ or Moses be preached but at the same time nonetheless uphold the honor of those who are despised by Moses and Christ. *The rich man, who daily makes a thousand invasions into the body and psyche of the poor, and into his purse, understands a pickpocket or burglar as only those who (not without courage) break into a shop. Their own theft seems legitimate to them, whereby they forget that they have mistakenly regarded as a legal system only that which would never have been understood as a true legal system neither by criminals nor by our greatest thinkers, and also cannot be so understood. The rich people, who had the money, unfortunately had the power to create laws; and that explains why they covered up their own, greater criminality as legal order but declared the lower forms of criminality, committed by the others, as legal disorder. This technique of legislation indeed brings to mind marriage law, in which men could attribute to their own character failings the dignity of legally permitted (or at least tolerated) actions; whereas they decry and punish the same actions, when practiced against them by women, {210} as infamies and crimes against custom and suchlike. — Following Christ, one should say: out of love for humanity, one should show contempt for the merchants of goods and for the merchants of news, the journalists. — *Journalists: Ludwig Geiger, History of the Intellectual Life of the Prussian Capital Berlin, 1688–1840: 1 "Towards the end of the eighteenth century, the first reports on the arts and theatre reviews begin to appear." — Alexander von Weilen, "Theater Criticism in the Wiener Zeitung ": 2 "A newspaper has nothing in common with criticism," reports the Wiener Diarium in 1768. — *Summer time: 3 the indolence of city dwellers has reached a level that ultimately requires a correction in the interests of the countryfolk. It is actually quite dispiriting that one must actually use such forceful means to educate the townsfolk towards the sun with such an act of violence against the clock. Even if the clock were not merely a human invention, one would truly have to be incensed about taking such extreme measures to drive out what is, moreover, an unhealthy habit of millions of townsfolk. That not only individual houses train themselves in this way for a true summer order, but also several nations, makes the entire matter seem utterly ludicrous to me. For me personally, it signifies only this: that I, as an early riser, must now be reckoned among the late risers or, as Lie-Liechen puts it, that I must come to breakfast sooner. — *All women unanimously maintain that they by no means cultivate the beauty of their body for, say, erotic purposes, but rather to please themselves or, as they say, {211} for beauty’s sake itself. But one may of course not ask: if for the sake of beauty, then why do they not equally cultivate the beauty of intellect? *The rich man: with money, the rich man can actually buy for himself the right to deceive himself and lie to others with apparent philanthropy. How is this possible? It may be easily explained by the fact that his philanthropy, as expressed in the plundering of the poor, has indeed a legal character on the basis of the current legal system, so that he cannot be punished for his crimes. Unpunished, and supported by the so-called legal system, the rich man puffs himself up and simply calls himself a friend of humanity. That he has first created such a legal system himself, that his crime lies already in the legal system, that is something that the rich man will never understand, not at least until money and power are separated from justice. — *People who love plants are almost always able to give their love for them the right expression, in that they give the plants light, air and water that they need. It would never occur to any plant lover, perhaps out of exaggerated tenderness, to give flowers more water than they need for the simple reason that they would thereby lose them. When it comes to loving others, however, people never come near recognizing such simple considerations. It almost seems as if they would only understand that confused and selfish passion, which loves itself and the loved one to death. That one cannot speak there of true love is self-evident. Only the very lack of true love gives rise to the delusion of false amorous affectations, which can conceal the lack of love no better than trouser creases can conceal the lack of nobility of one’s soul. — {212} © Translation William Drabkin. |
28. +5°, bewölkt u. kühl.
— Frau D. zu Tisch u. im Caféhaus. — — Der Reiche: Eine uns bekannte Dame hat, wie ich von Lie-Liechen höre, zu Kriegsbeginn sich mit kondensierter Milch bis zu einem Grade versorgt, daß sie viele Monate ihr Auskommen damit fand. Sie kaufte die Milch aus Gründen der Vorsicht; sie hörte von drohender Milchnot. Doch wie immer die Gründe gelautet haben mögen, der Effekt bleibt einzig u. allein der, daß ein wohlhabender Mensch durch rechtzeitigen Ankauf u. durch Anhäufung von Lebensmitteln die Möglichkeit gewinnt, nicht nur der Entbehrung, sondern auch der Teuerung auszuweichen, wobei er zum Ueberfluss auch noch an Zeit spart, die in Zeiten der Not die Beschaffung der Lebensmittel erfordert. Nicht nur also, daß der Reiche seine Einkünfte aus den Händen der Armen empfängt, benützt er das Geschenk dazu, um billiger u. mehr, obendrein mit Ersparnis an Zeit selbst noch dann zu essen, wenn die Armen die Lebensmittel längst nicht mehr erlangen können. Die Ironie will es, daß der Reiche, alle Tage bis zum Ueberfluß gesättigt, von den hungernden Armen Schutz seines Eigentums u. seines Magens fordert, u. wieder nur aus Angst, er könnte etwa durch verlorene Feldzüge um die Fülle des Geldes oder des Magens kommen. Also im Grunde läuft der Krieg darauf hinaus, daß die Armen alle Mittel aufbieten, um jede Angst von den Reichen bezüglich ihrer Zukunft fernzuhalten. Was Wäre es allenfalls noch verständlich wäre, wenn die Reichen durch Verluste herabgekommen in der Reihe der Armen bereits stünden, wo dann u. wenn die Armen u. Armgewordenen Schulter an Schulter um die Eroberung einer besseren Zukunft kämpfen würden, so versinkt dagegen in die Untiefe von Irrsinn, wenn man bedenkt, daß die an Gegenwart u. Zukunft armen Armen sich lediglich um die Sicherstellung der Zukunft der Reichen, die doch mindestens die Gegen- {209} wart genießen, zu mühen haben u. daß während dieser aufopferungsvollen Mühen der Reiche dem Armen alle Nahrung wegfrißt, u. mehr als das, sich sogar unabkömmlich erklärt, um es wegfressen zu können. Wenn der Staat an der Notwendigkeit von Religionen, sei es von Staatsreligionen oder von gesetzlich zugelassenen, festhält weil er der Ansicht ist, dem Armen müsse mindestens dieser Trost einer Anweisung auf ein besseres Jenseits gegeben werden, so nützt auf die Dauer die Simulation des Staates freilich wenig, denn er ist es selbst, der alle Grundbedingungen der Religion sie am meisten dadurch untergräbt u. erschüttert, daß er dem Reichen Amt, Ehre u. Würden u. alle Macht zubilligt. Auf der einen Seite also ein Moses, der gegen das goldene Kalb wettert, ein Christus, der gegen die Krämer seine Stimme erhebet, u. hier auf der anderen Seite ein Idiot von einem Staat, der sich das Unmögliche zu lösen herausnimmt, die Religion Christus oder Moses predigen zu lassen, zugleich aber die von Moses u. Christus Verachteten dennoch in Ehren zu halten. *De mr Reichen, der selbst täglich tausend Einbrüche in die Physis u. Psyche u. den Geldbeutel der Armen verübt, kommt kennt als Taschendieb oder Einbrecher nur de rnjenige[n] vor, der (nicht ohne Mut) in einen Laden eindringt. Ihr eigener Raub gilt ihnen als legitim, wobei sie vergessen, daß sie als Rechtsordnung fälschlicherweise nur dasjenige bezeichnet haben, was nicht nur nach der Auffassung von Verbrechern, sondern auch von nach der unserer größten Denkern niemals als wirkliche Rechtsordnung gegolten hat u. auch nicht gelten kann. Die Reichen, die das Geld hatten, hatten leider auch die Macht Gesetze zu schaffen u. da begreift es sich, daß sie ihr eigenes größeres Verbrechertum mit Rechtsordnung schminkten, die kleinen Verbrechen aber der Uebrigen für Rechtsunordnung erklärten. Diese Technik der Gesetzgebung erinnert ja auch an die Ehegesetzgebung, in der die Männer ihren eigenen Charakterlosigkeiten die Würde von gesetzlich erlaubte nr oder mindestens geduldeter Handlungen anzulegen wußten, während sie dieselben Handlungen, wenn sie von Frauen wider {210} sie verübt worden, als Infamien u. Verbrechen wider Sitte u. dgl. ausschreien u. bestrafen. — — Mit Christus hat es zu heißen: Aus Liebe zur Menschheit verachte man den WarenKrämer u. den Neuigkeitshändler krämer, den Journalisten. — *Journalisten: Ludwig Geiger: „Geschichte des geistigen Lebens der preussischen Hauptstadt Berlin 1688–1840.[“] 1 „Gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts tauchen die ersten Kunstberichte u. Theaterkritiken auf.“ — Alexander v. Weilen „Kritik des Schauspiels in der Wiener Zeitung.“ 2 „Eine Zeitung hat nichts mit der Kritik gemein“, so meldet das „Wiener Diarium“ im Jahre 1768. — *Sommerzeit: 3 Die Trägheit der Städter hat einen Grad erreicht, der schließlich einer Korrektur im Sinne der Landbewohner bedurfte. Es ist eigentlich recht betrübend, daß man erst die Erziehung der Städter zur Sonne mit einem solchen Gewaltakt wider die Uhr erzwingen muß. Wäre die Uhr nicht auch nur eine Erfindung der Menschen, so müßte man eigentlich recht empört sein darüber, daß man zu solchen Gewaltmitteln greift, um Millionen von Städtern eine obendrein gesundheitsschädliche Unart auszutreiben. Daß sich nicht nur einzelne Häuser in dieser Weise zur wahren Sommerordnung erziehen, sondern gleich mehrere Staaten, macht mir selbst die ganze Angelegenheit recht possierlich. Für mich persönlich bedeutet sie gerade nur so viel, als ich Frühaufsteher nun mit zu den Spätaufstehern gezählt werde, oder, wie Lie-Liechen es ausdrückt, daß ich früher zum Frühstück komme. — *Einstimmig behaupten alle Frauen, daß sie die Schönheit ihres Körpers durchaus nicht etwa um erotischer Wirkungen pflegen, vielmehr nur sich selbst zuliebe oder, wie sie {211} sagen, um der Schönheit selbst willen. Man darf dann aber freilich die Frauen nicht fragen, warum sie um der Schönheit willen dann nicht ebenso die Schönheit des Geistes pflegen? *Der Reiche: Mit Geld erkauft sich der Reiche sogar das Recht, sowohl sich selbst als andere mit angeblicher Menschenfreundlichkeit anzulügen. Wie das möglich ist? Sehr einfach erklärt sich dieses dadurch, daß seine Menschenfreundlichkeit, wie sie sich in der Plünderung der Armen ausdrückt, nach dem Stande der gegenwärtigen Gesetzgebung ja legalen Charakter hat, so daß er wegen seiner Verbrechen nicht bestraft werden kann. Unbestraft u. auf die sogenannte Rechtsordnung gestützt, wirft sich der Reiche in die Brust u. nennt sich einfach einen Menschenfreund. Daß er selbst eine solche Rechtsordnung erst geschaffen, daß also schon in der Rechtsordnung das Verbrechen liegt, das wird freilich der Reiche niemals begreifen, wenigstens so lange nicht Geld u. Macht von Recht getrennt wird. — *Menschen die Pflanzen lieben, wissen ihrer Liebe zu ihnen fast immer den richtigen Inhalt zu geben, in dem indem sie den Pflanzen Licht, Luft u. Wasser nach deren eigenem Bedarf geben. Keinem Pflanzenfreundwird würde es je einfallen, etwa aus überspannter Zärtlichkeit die Blumen mit mehr Wasser zu begießen, als sie brauchen, schon einfach aus dem Grunde, weil er sie verlieren würde. Zu so einfachen Erwägungen aber kommen die Menschen, wenn sie Menschen lieben, noch lange nicht. Beinahe sieht es unter ihnen erst so aus, als würden sie unter Liebe nur jene verworrenen u. gierige Leidenschaft verstehen, die sich u. den Geliebten zu Tode liebt. Daß man da nicht von wirklicher Liebe sprechen darf, liegt auf der Hand. Nur eben der Mangel an wirklicher Liebe bringt den Wahn falscher Liebesallüren auf, die nur über den Mangel ebenso hinwegtäuschen sollen, wie etwa Hosenbügelfalten über den Mangel an Vornehmheit der Seele. — *{212} © Transcription Marko Deisinger. |
28. +5°, cloudy and cool.
— Mrs. Deutsch at lunch and in the coffee house. — — The rich: a lady who is known to us, so I hear from Lie-Liechen, began hoarding condensed milk at the start of the war up to the point that she would have a supply lasting many months. She bought the milk for precautionary reasons; she heard of the threat of a milk shortage. But whatever reasons may have been given, the effect is only this: that a well-to-do person, by the timely purchase and stockpiling of provisions, gains the possibility not only of avoiding going without but also protecting themself against a price rise, whereby, to top it all, they also save the time that is required to obtain provisions in times of shortage. Thus it is not merely that the rich person gets his earnings from the hands of the poor, he uses this gift to eat more, and more cheaply, moreover saving time, even when the poor people have for a long time been unable to obtain the provisions. The irony of it all is that the rich man, satiated at all times to the point of overabundance, demands protection of his property and his stomach from the poor, and only out of the fear that, from a lost military campaign, he might perhaps lose the fullness of his wealth or stomach. And so, basically, the war is taking a course such as the poor offer every means to keep at a distance, out of fear of the rich with respect to their future. Were it at any rate still understandable if the rich, having been brought down by losses, stood among the poor, and the poor and the impoverished fought shoulder to shoulder to gain a better future, that would, however, sink to the depths of madness if those who are always poor simply went to the trouble of securing the future of the rich – who are at least enjoying the present – {209} and that during these sacrificial efforts the rich would eat up all the food of the poor and, more than that, would even declare themselves unavailable [for service] in order that they might eat it all up. If the state upholds the importance of religions, whether state religions or those that are legally permitted, because it is of the view that the poor must at least be given the consolation of a signpost pointing to a better hereafter, then the state’s pretenses will of course be of little use in the long run, since it is the state itself that is most responsible for undermining and destroying the basic conditions of religion, by awarding to rich people office, honor and distinctions. On one side we have a Moses who rails against the Golden Calf, a Christ who raises his voice against the peddlers; and here on the other side an idiot of a state that presumes to solve the impossible: to let the religion of Christ or Moses be preached but at the same time nonetheless uphold the honor of those who are despised by Moses and Christ. *The rich man, who daily makes a thousand invasions into the body and psyche of the poor, and into his purse, understands a pickpocket or burglar as only those who (not without courage) break into a shop. Their own theft seems legitimate to them, whereby they forget that they have mistakenly regarded as a legal system only that which would never have been understood as a true legal system neither by criminals nor by our greatest thinkers, and also cannot be so understood. The rich people, who had the money, unfortunately had the power to create laws; and that explains why they covered up their own, greater criminality as legal order but declared the lower forms of criminality, committed by the others, as legal disorder. This technique of legislation indeed brings to mind marriage law, in which men could attribute to their own character failings the dignity of legally permitted (or at least tolerated) actions; whereas they decry and punish the same actions, when practiced against them by women, {210} as infamies and crimes against custom and suchlike. — Following Christ, one should say: out of love for humanity, one should show contempt for the merchants of goods and for the merchants of news, the journalists. — *Journalists: Ludwig Geiger, History of the Intellectual Life of the Prussian Capital Berlin, 1688–1840: 1 "Towards the end of the eighteenth century, the first reports on the arts and theatre reviews begin to appear." — Alexander von Weilen, "Theater Criticism in the Wiener Zeitung ": 2 "A newspaper has nothing in common with criticism," reports the Wiener Diarium in 1768. — *Summer time: 3 the indolence of city dwellers has reached a level that ultimately requires a correction in the interests of the countryfolk. It is actually quite dispiriting that one must actually use such forceful means to educate the townsfolk towards the sun with such an act of violence against the clock. Even if the clock were not merely a human invention, one would truly have to be incensed about taking such extreme measures to drive out what is, moreover, an unhealthy habit of millions of townsfolk. That not only individual houses train themselves in this way for a true summer order, but also several nations, makes the entire matter seem utterly ludicrous to me. For me personally, it signifies only this: that I, as an early riser, must now be reckoned among the late risers or, as Lie-Liechen puts it, that I must come to breakfast sooner. — *All women unanimously maintain that they by no means cultivate the beauty of their body for, say, erotic purposes, but rather to please themselves or, as they say, {211} for beauty’s sake itself. But one may of course not ask: if for the sake of beauty, then why do they not equally cultivate the beauty of intellect? *The rich man: with money, the rich man can actually buy for himself the right to deceive himself and lie to others with apparent philanthropy. How is this possible? It may be easily explained by the fact that his philanthropy, as expressed in the plundering of the poor, has indeed a legal character on the basis of the current legal system, so that he cannot be punished for his crimes. Unpunished, and supported by the so-called legal system, the rich man puffs himself up and simply calls himself a friend of humanity. That he has first created such a legal system himself, that his crime lies already in the legal system, that is something that the rich man will never understand, not at least until money and power are separated from justice. — *People who love plants are almost always able to give their love for them the right expression, in that they give the plants light, air and water that they need. It would never occur to any plant lover, perhaps out of exaggerated tenderness, to give flowers more water than they need for the simple reason that they would thereby lose them. When it comes to loving others, however, people never come near recognizing such simple considerations. It almost seems as if they would only understand that confused and selfish passion, which loves itself and the loved one to death. That one cannot speak there of true love is self-evident. Only the very lack of true love gives rise to the delusion of false amorous affectations, which can conceal the lack of love no better than trouser creases can conceal the lack of nobility of one’s soul. — {212} © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Ludwig Geiger, Berlin 1688-1840. Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt, 2 vols. (Berlin: Paetel, 1893-1895). 2 Alexander von Weilen, "Die Kritik des Schauspiels in der Wiener Zeitung," in: Zur Geschichte der kaiserlichen Wiener Zeitung. 8. August 1703–1903 (Vienna: Selbstverlag der kaiserlichen Wiener Zeitung, 1903), pp. 141-175. 3 On April 30, 1916, summer time was introduced in Austria-Hungary and Germany. It continued in Austria until 1920, with the exception of 1919. |