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10. VII. 16 15°,

schön, aber drückendste Hitze!—

*

Fällt das kleinste Insektchen in ein Menschenauge, so wird es von diesem als ein großer Gegenstand empfunden. Dies kommt davon, daß die Lidnerven alle in Aktion treten, um vor Gefahr zu warnen u. sie zu hintertreiben. Das Aufgebot sämtlicher dort in {330} den Lidern zuständigen u. funktionierenden Nerven macht nun, nach Iinnen gewendet, d. h. der Seele zugewandt, den Eindruck, als wäre der Feind Eindringling ein großer Gegenstand. Würde nur ein Teil der Nerven reagieren, so würde man vermutlich ein richtigeres Augenmaß finden können, u. nur eben der Umstand, daß alle Nerven tätig werden, – mehr als alle gibt es aber nicht – scheint die Ursache jener Empfindung zu sein. Eine volle Analogie scheint in der Funktion der menschlichen Psyche überhaupt zu walten. Man setze die Summe sämtlicher menschlicher Nerven in Aktion, sei es bei einem ans Leben gehenden Schmerz oder einer Wonne, die den ganzen Körper ergreift, sofort täuscht die Summe aller Nerven über das Maß des Objektes so gründlich, daß der Mensch, ausgenommen er ist sei ein Philosoph u.oder Künstler höchsten Ranges, gar nicht das Mißverhältnis merkt, dessen er sich schuldig macht. Darauf beruht es ja, daß die Menschen ihre Freuden u. Schmerzen überschätzen, d. h. alles egozentrisch sehen. Auch Alle Eitelkeit hat darin ihre letzte Wurzel. —

*

Im „Berl. Tgbl.“ vom 9. VII. [illeg]propagiert v. Wiese den liberalen Standpunkt im Händlerberuf . – u. meint, der Staat dürfe die Freiheit im Handel nicht einschränken, wenn er die Produktion im Interesse des Staates gesteigert sehen will. Unter Freiheit des Handels versteht er die Freiheit, das Geschäft nach eigenem Gutdünken führen zu dürfen, um zunächst für sich selbst den denkbar größten Vorteil herauszuschlagen. Nur auf dem Wege über solchen persönlichen Vorteil kann man zur Steigerung der Produktion gelangen. 1 Heißt das nicht aber dem Kaufmanne zugleich so viel zubilligen, daß er sich völliger Freiheit im Wucher bediene? Heißt das nicht ausdrücklich einbekennen, daß der Kaufmann zur Steigerung der Produktion, auch wenn es im Interesse des Staates u. seiner Mitbürger liegt, nur dann zu haben sei, wenn man ihm einen Freibrief auf Wucher gibt? Heißt das nicht schließlich so viel, daß der Kaufmann nicht fähig wäre sei einer Arbeit {331} um der Arbeit, um des Staates, um der Mitbürger willen ? ; daß ihm die Erkenntnis einer Pflicht wider den Staat, von dessen Gedeihen seine eigene Existenz abhängt, dennoch nicht zuzumuten sei ? , u. daß er von Haus aus pflichtvergessener Müßiggänger sei, der sich zu keiner Arbeit entschließen mag, außer sie trüge ihm Wucherzinsen? Gibt es ein größeres Schandmal als dasjenige, das Herr Wiese dem Kaufmannsstand aufdrückt? Gibt es ein größeres Schandmal an der Stirne des Liberalismus überhaupt, als eben diese Tendenz?

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Sonn- u. Montags-Ztg.“ (Feuilleton): Der Verfasser citiert nicht ungeschickt realistische Beziehungen zwischen dem heutigen [illeg]Hinterland u. dem Hinterland aus dem Altertum, wie es die griechischen Dichter in ihren Dramen gezeichnet haben; wie die Frauen sich auch in unserem Hinterlande zu demselben Fehlern bewegen lassen, wie ehedem die Frauen im griechischen Hinterlande, z. B. Klytämnestra 2 – Agamemnon usw. 3

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© Transcription Marko Deisinger.

July 10, 1916. 15°,

fair weather, but the most oppressive heat!—

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If the tiniest insect falls into someone's eye, it is perceived as a large object. That is because all the nerves in the eyelid go into action to warn against the danger and avert it. The assembly of all the responsible and functional nerves in the eyelids {330} now gives the impression, direct inwardly – towards the soul – that the intruder is a large object. If only a portion of the nerves had reacted, then one would presumably have been able to find a more correct proportion; and only the circumstance that all the nerves are active – more than "all" does not exist – seems to be the cause of that sensation. A complete analogy seems to govern in the workings of the human psyche. One summons the totality of human nerves into action, be it about pain resulting from life or a joy that seizes the entire body, and the sum of all nerves is immediately deceived by the size of the object so fundamentally that the person concerned, unless he is a philosopher or artist of the highest rank, will not notice the misunderstanding of which he is guilty. On that basis one can indeed say that people overrate their joys and sorrows, that is, they see everything from an egocentric point of view. All vanity has its ultimate roots here, too. —

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In the Berliner Tageblatt of July 9, Wiese argues in favor of the liberal standpoint in the profession of commerce, saying that the state should not restrict freedom of trade if it would like to see production increased in the interest of the state. By freedom of trade, he means the freedom to conduct one's business as one best understands it, primarily for gaining the greatest imaginable advantage for oneself. Only on the path of such personal advantage can one achieve an increase in production. 1 But does not that at the same time allow the businessman to go so far as to exploit the complete freedom to extort? Is that not expressly an admission that the businessman is prepared to increase production, even if it is in the interest of the state and his fellow citizens, only if one gives him free rein to extort? Does that not ultimately mean that the businessman is not capable of a piece of work {331} for the sake of that work, for the state, and for his fellow citizens? That it should not be supposed that he recognizes a duty towards the state on whose thriving his own existence depends, and that he is by nature a negligent idler, who would choose to do no work unless it brought him an extortionate profit? Is there a greater mark of shame than that which Mr. Wiese affixes to the business profession? Is there a greater mark of shame on the forehead of liberalism in general, than this very disposition?

*

Sonn- und Montags-Zeitung (feuilleton): the author cites not inapt connections between the present hinterland and the hinterland of ancient times, as the Greek poets portrayed in their dramas; how women even in our hinterland are motivated to make the same mistakes as women long ago in the Greek hinterland, for instance Clytemnestra 2 –Agamemnon, and so on. 3

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© Translation William Drabkin.

10. VII. 16 15°,

schön, aber drückendste Hitze!—

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Fällt das kleinste Insektchen in ein Menschenauge, so wird es von diesem als ein großer Gegenstand empfunden. Dies kommt davon, daß die Lidnerven alle in Aktion treten, um vor Gefahr zu warnen u. sie zu hintertreiben. Das Aufgebot sämtlicher dort in {330} den Lidern zuständigen u. funktionierenden Nerven macht nun, nach Iinnen gewendet, d. h. der Seele zugewandt, den Eindruck, als wäre der Feind Eindringling ein großer Gegenstand. Würde nur ein Teil der Nerven reagieren, so würde man vermutlich ein richtigeres Augenmaß finden können, u. nur eben der Umstand, daß alle Nerven tätig werden, – mehr als alle gibt es aber nicht – scheint die Ursache jener Empfindung zu sein. Eine volle Analogie scheint in der Funktion der menschlichen Psyche überhaupt zu walten. Man setze die Summe sämtlicher menschlicher Nerven in Aktion, sei es bei einem ans Leben gehenden Schmerz oder einer Wonne, die den ganzen Körper ergreift, sofort täuscht die Summe aller Nerven über das Maß des Objektes so gründlich, daß der Mensch, ausgenommen er ist sei ein Philosoph u.oder Künstler höchsten Ranges, gar nicht das Mißverhältnis merkt, dessen er sich schuldig macht. Darauf beruht es ja, daß die Menschen ihre Freuden u. Schmerzen überschätzen, d. h. alles egozentrisch sehen. Auch Alle Eitelkeit hat darin ihre letzte Wurzel. —

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Im „Berl. Tgbl.“ vom 9. VII. [illeg]propagiert v. Wiese den liberalen Standpunkt im Händlerberuf . – u. meint, der Staat dürfe die Freiheit im Handel nicht einschränken, wenn er die Produktion im Interesse des Staates gesteigert sehen will. Unter Freiheit des Handels versteht er die Freiheit, das Geschäft nach eigenem Gutdünken führen zu dürfen, um zunächst für sich selbst den denkbar größten Vorteil herauszuschlagen. Nur auf dem Wege über solchen persönlichen Vorteil kann man zur Steigerung der Produktion gelangen. 1 Heißt das nicht aber dem Kaufmanne zugleich so viel zubilligen, daß er sich völliger Freiheit im Wucher bediene? Heißt das nicht ausdrücklich einbekennen, daß der Kaufmann zur Steigerung der Produktion, auch wenn es im Interesse des Staates u. seiner Mitbürger liegt, nur dann zu haben sei, wenn man ihm einen Freibrief auf Wucher gibt? Heißt das nicht schließlich so viel, daß der Kaufmann nicht fähig wäre sei einer Arbeit {331} um der Arbeit, um des Staates, um der Mitbürger willen ? ; daß ihm die Erkenntnis einer Pflicht wider den Staat, von dessen Gedeihen seine eigene Existenz abhängt, dennoch nicht zuzumuten sei ? , u. daß er von Haus aus pflichtvergessener Müßiggänger sei, der sich zu keiner Arbeit entschließen mag, außer sie trüge ihm Wucherzinsen? Gibt es ein größeres Schandmal als dasjenige, das Herr Wiese dem Kaufmannsstand aufdrückt? Gibt es ein größeres Schandmal an der Stirne des Liberalismus überhaupt, als eben diese Tendenz?

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Sonn- u. Montags-Ztg.“ (Feuilleton): Der Verfasser citiert nicht ungeschickt realistische Beziehungen zwischen dem heutigen [illeg]Hinterland u. dem Hinterland aus dem Altertum, wie es die griechischen Dichter in ihren Dramen gezeichnet haben; wie die Frauen sich auch in unserem Hinterlande zu demselben Fehlern bewegen lassen, wie ehedem die Frauen im griechischen Hinterlande, z. B. Klytämnestra 2 – Agamemnon usw. 3

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© Transcription Marko Deisinger.

July 10, 1916. 15°,

fair weather, but the most oppressive heat!—

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If the tiniest insect falls into someone's eye, it is perceived as a large object. That is because all the nerves in the eyelid go into action to warn against the danger and avert it. The assembly of all the responsible and functional nerves in the eyelids {330} now gives the impression, direct inwardly – towards the soul – that the intruder is a large object. If only a portion of the nerves had reacted, then one would presumably have been able to find a more correct proportion; and only the circumstance that all the nerves are active – more than "all" does not exist – seems to be the cause of that sensation. A complete analogy seems to govern in the workings of the human psyche. One summons the totality of human nerves into action, be it about pain resulting from life or a joy that seizes the entire body, and the sum of all nerves is immediately deceived by the size of the object so fundamentally that the person concerned, unless he is a philosopher or artist of the highest rank, will not notice the misunderstanding of which he is guilty. On that basis one can indeed say that people overrate their joys and sorrows, that is, they see everything from an egocentric point of view. All vanity has its ultimate roots here, too. —

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In the Berliner Tageblatt of July 9, Wiese argues in favor of the liberal standpoint in the profession of commerce, saying that the state should not restrict freedom of trade if it would like to see production increased in the interest of the state. By freedom of trade, he means the freedom to conduct one's business as one best understands it, primarily for gaining the greatest imaginable advantage for oneself. Only on the path of such personal advantage can one achieve an increase in production. 1 But does not that at the same time allow the businessman to go so far as to exploit the complete freedom to extort? Is that not expressly an admission that the businessman is prepared to increase production, even if it is in the interest of the state and his fellow citizens, only if one gives him free rein to extort? Does that not ultimately mean that the businessman is not capable of a piece of work {331} for the sake of that work, for the state, and for his fellow citizens? That it should not be supposed that he recognizes a duty towards the state on whose thriving his own existence depends, and that he is by nature a negligent idler, who would choose to do no work unless it brought him an extortionate profit? Is there a greater mark of shame than that which Mr. Wiese affixes to the business profession? Is there a greater mark of shame on the forehead of liberalism in general, than this very disposition?

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Sonn- und Montags-Zeitung (feuilleton): the author cites not inapt connections between the present hinterland and the hinterland of ancient times, as the Greek poets portrayed in their dramas; how women even in our hinterland are motivated to make the same mistakes as women long ago in the Greek hinterland, for instance Clytemnestra 2 –Agamemnon, and so on. 3

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 Leopold v. Wiese, "Liberalismus. II. Agrarpolitisches," Berliner Tageblatt, No. 347, 45th year, July 9, 1916, morning edition, pp. [1-2].

2 Clytemnestra: in Greek mythology, the wife of the Mycenean king Agamemnon und sister of Helen. In the first part of Aeschylus's Oresteia she and her lover murder her husband for having sacrificed their daughter Iphigenia to obtain favorable winds for the military convoy to Troy.

3 Hugo Spiegler, "Das Hinterland," Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, No. 28, July 10, 1916, 54th year, pp. 2-4.