30. Bewölkt, 13°, warm.
— Amerikanische Flieger, die im englisch-französischen Heere wirken, {449} erregen starke Galle in Deutschland. 1 Nach dem bisherigen Betragen Amerikas war auch eine solche Teilnahme zu erwarten u. wenn irgend ein deutscher Staatsmann erwartet hat, daß es könnten die Zugeständnisse, die Deutschland mittelbar zugunsten Englands seinerzeit an Amerika gemacht hat, die Gesinnung jenes Landes auch nur einigermaßen bessern würde, so würde dies in meinen Augen nicht so sehr weniger beweisen, daß der Staatsmann unfähig ist, als vielmehr daß er mit Leib u. Seele in die Vorstellung eines Kaufmannes auch schon selbst derart eingekapselt ist, daß er in jeglicher Art kaufmännischen Betragens, sei es auch die sittenwidrigste u. verwerflichste, nur eine Norm erblickt. Denn jedes andere Denken müßte den Staatsmann zwingen anzunehmen, daß einem Lande nunmehr alles, auch das Schlimmste zuzutrauen sei, das sich bis dahin des Schlimmsten bereits schuldig gemacht hat. Ich fürchte aber, daß die Deutschen in der Duldung gegenüber Amerika schon so weit gegangen sind, daß ihnen heute nichts mehr übrig bleibt, als noch Schwereres mit geballter Faust zu ertragen. UndDaraus nun, daß sie, was sie Auch ist kaum noch zu erwarten, daß sie daraus eine Lektion ziehen u. sich endlich auf ihre Würde besinnen, wenn man die Selbstzerfleischung wahrnimmt, die ihrer Natur immer noch mehr zu entsprechen scheint, als ein gesunder Haß, eine gesunde Abwehr des Niedrigen u. Schändlichen. — *Frl. Kahn erscheint zur ersten Stunde, ausnahmsweise. — Im Caféhaus erscheint wieder der junge Bednař u. bringt sein Versprechen wegen der Kartoffel zur Erfüllung; wir zahlen 1.50 Kronen für 5 Kg, die wir aus dem Magazin der Rennweger Kaserne erhalten. — Von Dr. Dub keine Zeitangabe eingetroffen. — Fr. Pairamall schickt durch ihr Mädchen die Bitte, am Montag kommen zu dürfen; zu ihrer Entschuldigung, weshalb sie gestern nicht gekommen, läßt sie das Mädchen sagen, daß ich zuhause nicht zu erreichen war, was aber nicht stimmt. Daraus nun, daß sie, was sie das vVorzubringende hat, nicht am Mittwoch vorbringen will als an jenem {450} Tage, an dem sie sonst ihre Stunde erhält, kann ich bereits heute schließen, daß sie mündlich eine Absage zu formulieren vor hat, die sie mit persönlichem Abschied ausschmücken will. *Wir feiern heute den Jahrestag der Ankunft Lie-Liechens in Wien, doch fordert der Tag so schwer seine Rechte, daß wir Mühe haben die [illeg]Stimmungen abzuweisen, die uns, von anderen verursacht, uns an jeder Stelle u. zu jeder Stunde andringen. Freilich können uns solche Stimmungen uns nichts anhaben dort, wo wir in dankbarer Rückerinnerung uns der Bedeutung des Tages freuen, aber wer könnte einer vorübergehenden Welle wehren, auch wenn er weiß, daß sie blos vorübergehend ist? Wir haben nur uns selbst, leider aber nicht auch die Mitwelt in der Hand, u. beliebt es dieser, sich uns gegenüber schuldig zu machen, so zwingt sie uns zur Abwehr, ob wir wollen oder nicht! Da indessen die Abwehr von unserer Kraft gespeist wird, so wollen wir desto energischer an diese glauben u. sie pflegen. — — „Waren-Desertion“ (ein treffendes Wort von Lie-Liechen) wird leider nicht bestraft, wie Menschendesertion. *Unsere Reichen in Oesterreich wie in Deutschland machen sich eines doppelten Verrates am Vaterland schuldig: erstens rauben sie durch eErpress teung billigerer Löhne den Arbeitern, der untermittelten Bevölkerung überhaupt, alles Geld u. zweitens tagen sie eben die so unredlich erschlichenen Gelder ins Ausland, ohne dafür dem Vaterland irgend einen entsprechenden Gegenwert zu bieten. Sie bedenken nicht, daß die reichen Nachbarn zu uns ja nicht kommen u. daß somit unser Vaterland nicht nur keinen Ersatz für jenes Geld findet, das ins Ausland getragen wird, sondern durch immer fortschreitende Verarmung den Reichen auch noch die Mittel zu beschaffen muß hat, um die Bereicherung der Nachbarvölker möglich zu machen. Aber wie sollte dies alles in den beschränkten Kopf eines reichen Kaufmannes gehen? — *{451} Abends zuhause angekommen finde ich einen Brief von Frl. Elias vor, dessen Inhalt überaus verworren erscheint u. offenbar von einem Bruch mit ihrer bisherigen italienischen Freundin berichten will u. ähnliches Zeug mehr, das sich vielleicht in der ersten Stunde aufklären wird – oder auch nicht. *Der Generalstabsbericht meldet einen großen Sieg über die Rumänen bei Herrmannstadt. 2 — *
© Transcription Marko Deisinger. |
30. Cloudy, 13°, warm.
— American airplanes, which are working in the Anglo-French forces, {449} arouse deep disgust in Germany. 1 Following America's previous behavior, such participation was only to be expected; and if any German statesman had expected that the concessions Germany had previously made to America in England's favor improved the disposition of that country even only to some extent, then this would in my eyes prove not so much that the statesman is incapable but rather that he has encapsulated himself with heart and soul in the image of a businessman, and in fact in such a way that he sees only a norm in every manner of businesslike behavior, even if it is the most immoral and despicable. For every other kind of thinking would have had to compel the statesman to assume that by now a country is capable of anything, worse than even the worst of which it has proved itself guilty. I fear, however, that the Germans have already gone so far in tolerating the Americans that today nothing more remains for them than to bear even worse things with a clenched fist. It is hardly even to be expected, moreover, that they will draw lessons from this and finally think about their dignity, if one perceives the self-destruction that seems more to correspond to their nature than a healthy hatred, a healthy defense against what is base and villainous. — Miss Kahn appears at her first lesson, exceptionally. — At the coffee house, the young Bednař appears again and fulfills his promise regarding the potatoes; we pay 1.50 Kronen for 5 kilograms, which we collect from the depot of the Rennweg barracks. — No date has arrived from Dr. Dub. — Mrs. Pairamall sends a request, via her maid, to come on Monday; as for an excuse why she did not come yesterday, she tells the maid to say that I could not be found at home – something which, however, is untrue. But as she does not wish to submit on Wednesday that which is to be submitted instead of on that {450} day on which she would otherwise receive her lesson, from this I can already conclude today that she intends to formulate a cancellation in person, which she wants to embellish with a personal farewell. *Today we celebrate the anniversary of Lie-Liechen's arrival in Vienna; yet the day demands what is due to it so severely that we have difficulty in repelling the sentiments that, caused by others, oppress us everywhere, all the time. Admittedly, such moods cannot touch us when we celebrate the significance of the day in grateful reminiscence; but who can bridle a passing upsurge, even if he knows that it is only passing? We have control only over ourselves, unfortunately not also the social world; and if the latter wishes to make us guilty in its eyes, it compels us to defend ourselves, whether or not we wish to! But since the defense is energized by our strength, then we wish to believe in and cultivate it all the more energetically. — — "Desertion of goods" (an apt word of Lie-Liechen's) unfortunately goes unpunished, unlike desertion of people. *Our rich people in Austria, as in Germany, commit a twofold betrayal of the fatherland: first, they steal all the money from their workers, the less well-off in society, by forcing them to work for lower wages; and secondly they sequester their dishonestly gained money abroad, without offering the fatherland anything of equivalent value. They do not consider that our wealthy neighbors will indeed not come to us and that, as a result, our fatherland will find no substitute for that money that is carried abroad; rather, as a result of ever-advancing poverty it has in addition to create the means to enable the rich to make it possible for our neighboring people to become rich. But how can all this fit into the thick skull of a wealthy businessman? — *{451} Arriving home in the evening, I find a letter from Miss Elias, the content of which seems thoroughly confused and apparently reports a breach with her former Italian friend, and other matters that will perhaps be cleared up in the first lesson – or perhaps not. *The general staff report announces a great victory over the Romanians at Herrmannstadt. 2 — *
© Translation William Drabkin. |
30. Bewölkt, 13°, warm.
— Amerikanische Flieger, die im englisch-französischen Heere wirken, {449} erregen starke Galle in Deutschland. 1 Nach dem bisherigen Betragen Amerikas war auch eine solche Teilnahme zu erwarten u. wenn irgend ein deutscher Staatsmann erwartet hat, daß es könnten die Zugeständnisse, die Deutschland mittelbar zugunsten Englands seinerzeit an Amerika gemacht hat, die Gesinnung jenes Landes auch nur einigermaßen bessern würde, so würde dies in meinen Augen nicht so sehr weniger beweisen, daß der Staatsmann unfähig ist, als vielmehr daß er mit Leib u. Seele in die Vorstellung eines Kaufmannes auch schon selbst derart eingekapselt ist, daß er in jeglicher Art kaufmännischen Betragens, sei es auch die sittenwidrigste u. verwerflichste, nur eine Norm erblickt. Denn jedes andere Denken müßte den Staatsmann zwingen anzunehmen, daß einem Lande nunmehr alles, auch das Schlimmste zuzutrauen sei, das sich bis dahin des Schlimmsten bereits schuldig gemacht hat. Ich fürchte aber, daß die Deutschen in der Duldung gegenüber Amerika schon so weit gegangen sind, daß ihnen heute nichts mehr übrig bleibt, als noch Schwereres mit geballter Faust zu ertragen. UndDaraus nun, daß sie, was sie Auch ist kaum noch zu erwarten, daß sie daraus eine Lektion ziehen u. sich endlich auf ihre Würde besinnen, wenn man die Selbstzerfleischung wahrnimmt, die ihrer Natur immer noch mehr zu entsprechen scheint, als ein gesunder Haß, eine gesunde Abwehr des Niedrigen u. Schändlichen. — *Frl. Kahn erscheint zur ersten Stunde, ausnahmsweise. — Im Caféhaus erscheint wieder der junge Bednař u. bringt sein Versprechen wegen der Kartoffel zur Erfüllung; wir zahlen 1.50 Kronen für 5 Kg, die wir aus dem Magazin der Rennweger Kaserne erhalten. — Von Dr. Dub keine Zeitangabe eingetroffen. — Fr. Pairamall schickt durch ihr Mädchen die Bitte, am Montag kommen zu dürfen; zu ihrer Entschuldigung, weshalb sie gestern nicht gekommen, läßt sie das Mädchen sagen, daß ich zuhause nicht zu erreichen war, was aber nicht stimmt. Daraus nun, daß sie, was sie das vVorzubringende hat, nicht am Mittwoch vorbringen will als an jenem {450} Tage, an dem sie sonst ihre Stunde erhält, kann ich bereits heute schließen, daß sie mündlich eine Absage zu formulieren vor hat, die sie mit persönlichem Abschied ausschmücken will. *Wir feiern heute den Jahrestag der Ankunft Lie-Liechens in Wien, doch fordert der Tag so schwer seine Rechte, daß wir Mühe haben die [illeg]Stimmungen abzuweisen, die uns, von anderen verursacht, uns an jeder Stelle u. zu jeder Stunde andringen. Freilich können uns solche Stimmungen uns nichts anhaben dort, wo wir in dankbarer Rückerinnerung uns der Bedeutung des Tages freuen, aber wer könnte einer vorübergehenden Welle wehren, auch wenn er weiß, daß sie blos vorübergehend ist? Wir haben nur uns selbst, leider aber nicht auch die Mitwelt in der Hand, u. beliebt es dieser, sich uns gegenüber schuldig zu machen, so zwingt sie uns zur Abwehr, ob wir wollen oder nicht! Da indessen die Abwehr von unserer Kraft gespeist wird, so wollen wir desto energischer an diese glauben u. sie pflegen. — — „Waren-Desertion“ (ein treffendes Wort von Lie-Liechen) wird leider nicht bestraft, wie Menschendesertion. *Unsere Reichen in Oesterreich wie in Deutschland machen sich eines doppelten Verrates am Vaterland schuldig: erstens rauben sie durch eErpress teung billigerer Löhne den Arbeitern, der untermittelten Bevölkerung überhaupt, alles Geld u. zweitens tagen sie eben die so unredlich erschlichenen Gelder ins Ausland, ohne dafür dem Vaterland irgend einen entsprechenden Gegenwert zu bieten. Sie bedenken nicht, daß die reichen Nachbarn zu uns ja nicht kommen u. daß somit unser Vaterland nicht nur keinen Ersatz für jenes Geld findet, das ins Ausland getragen wird, sondern durch immer fortschreitende Verarmung den Reichen auch noch die Mittel zu beschaffen muß hat, um die Bereicherung der Nachbarvölker möglich zu machen. Aber wie sollte dies alles in den beschränkten Kopf eines reichen Kaufmannes gehen? — *{451} Abends zuhause angekommen finde ich einen Brief von Frl. Elias vor, dessen Inhalt überaus verworren erscheint u. offenbar von einem Bruch mit ihrer bisherigen italienischen Freundin berichten will u. ähnliches Zeug mehr, das sich vielleicht in der ersten Stunde aufklären wird – oder auch nicht. *Der Generalstabsbericht meldet einen großen Sieg über die Rumänen bei Herrmannstadt. 2 — *
© Transcription Marko Deisinger. |
30. Cloudy, 13°, warm.
— American airplanes, which are working in the Anglo-French forces, {449} arouse deep disgust in Germany. 1 Following America's previous behavior, such participation was only to be expected; and if any German statesman had expected that the concessions Germany had previously made to America in England's favor improved the disposition of that country even only to some extent, then this would in my eyes prove not so much that the statesman is incapable but rather that he has encapsulated himself with heart and soul in the image of a businessman, and in fact in such a way that he sees only a norm in every manner of businesslike behavior, even if it is the most immoral and despicable. For every other kind of thinking would have had to compel the statesman to assume that by now a country is capable of anything, worse than even the worst of which it has proved itself guilty. I fear, however, that the Germans have already gone so far in tolerating the Americans that today nothing more remains for them than to bear even worse things with a clenched fist. It is hardly even to be expected, moreover, that they will draw lessons from this and finally think about their dignity, if one perceives the self-destruction that seems more to correspond to their nature than a healthy hatred, a healthy defense against what is base and villainous. — Miss Kahn appears at her first lesson, exceptionally. — At the coffee house, the young Bednař appears again and fulfills his promise regarding the potatoes; we pay 1.50 Kronen for 5 kilograms, which we collect from the depot of the Rennweg barracks. — No date has arrived from Dr. Dub. — Mrs. Pairamall sends a request, via her maid, to come on Monday; as for an excuse why she did not come yesterday, she tells the maid to say that I could not be found at home – something which, however, is untrue. But as she does not wish to submit on Wednesday that which is to be submitted instead of on that {450} day on which she would otherwise receive her lesson, from this I can already conclude today that she intends to formulate a cancellation in person, which she wants to embellish with a personal farewell. *Today we celebrate the anniversary of Lie-Liechen's arrival in Vienna; yet the day demands what is due to it so severely that we have difficulty in repelling the sentiments that, caused by others, oppress us everywhere, all the time. Admittedly, such moods cannot touch us when we celebrate the significance of the day in grateful reminiscence; but who can bridle a passing upsurge, even if he knows that it is only passing? We have control only over ourselves, unfortunately not also the social world; and if the latter wishes to make us guilty in its eyes, it compels us to defend ourselves, whether or not we wish to! But since the defense is energized by our strength, then we wish to believe in and cultivate it all the more energetically. — — "Desertion of goods" (an apt word of Lie-Liechen's) unfortunately goes unpunished, unlike desertion of people. *Our rich people in Austria, as in Germany, commit a twofold betrayal of the fatherland: first, they steal all the money from their workers, the less well-off in society, by forcing them to work for lower wages; and secondly they sequester their dishonestly gained money abroad, without offering the fatherland anything of equivalent value. They do not consider that our wealthy neighbors will indeed not come to us and that, as a result, our fatherland will find no substitute for that money that is carried abroad; rather, as a result of ever-advancing poverty it has in addition to create the means to enable the rich to make it possible for our neighboring people to become rich. But how can all this fit into the thick skull of a wealthy businessman? — *{451} Arriving home in the evening, I find a letter from Miss Elias, the content of which seems thoroughly confused and apparently reports a breach with her former Italian friend, and other matters that will perhaps be cleared up in the first lesson – or perhaps not. *The general staff report announces a great victory over the Romanians at Herrmannstadt. 2 — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 "Amerikanische Flieger an der englischen und französischen Front" and "Proteste deutscher Blätter über die Verletzung der Neutralität Amerikas," Neue Freie Presse, No. 18718, September 30, 1916, morning edition, p. 6. 2 "Die Berichte der verbündeten Generalstäbe. Meldung des österreichisch-ungarischen Generalstabes," Neue Freie Presse, No. 18718, September 30, 1916, morning edition, p. 1. |