23. X. 16 3°, bewölkt.
— Wienerisches: Bei der Putzerin, die die Hälfte der Wäsche zu schicken vergaß, erhalte ich den Bescheid, die Nichte käme erst um 9h u. erst dann könne gesucht werden. Die Rechnung für die ganze Wäsche lag freilich schon der ersten Hälfte bei! — — Um ½9h telephoniere ich an die Gaswerke, werde verbunden, urgire was schon am Samstag {481} hätte gemacht werden sollen u. erhalte zur Antwort: „einen Moment“ – – u. von da ab keine weitere Nachricht. Nun fahre ich in die Josephstädterstraße; dort teilt man mir mit, daß der Arbeiter am Samstag bereits auf dem Wege zu mir gewesen sei, auf der Strecke aber erkrankte u. daher das Pensum nicht erledigen konnte. Ein anderer Arbeiter würde Dienstag bestimmt bei mir erscheinen. — — Auf der Rückfahrt treffe ich Schönberg im Tramwaywagen; er erzählt, er sei superarbitrirt oder, wie er sich dann später ausdrückt: enthoben worden. Als ich ihm, auf seine Erkundigung nach meiner Arbeit, mitteilte, jetzt käme der 2. Kontrapunktband an die Reihe, meinte er, ob ich ihm nicht das Buch im Tauschwege gegen eine Arbeit von ihm selbst überlassen würde. Ich lehnte den Handel ab mit der Begründung, daß ich den Kontrapunkt selbst einkaufen müßte, daß somit für mich kein Tausch gegeben wäre. Im übrigen erinnerte ich mich, daß Sch. in seiner Harmonielehre 1 in einer der ersten letzten Anmerkungen zu den von mir in der Vorrede des Kontrapunktes geäußerten Gedanken schon einmal Stellung genommen hat, woraus zu schließen ist, daß er das Werk kennt. Unzweifelhaft hat er also auch dießmal [sic] die Kenntnis des Werkes vor mir abgeleugnet genau so, wie seinerzeit im in Falle Bezug [auf] d erie Harmonielehre, die er „ kennen zu lernen kennenzulernen wünschte“, lange nachdem er sie kennengelernt hatte. *Worte ohne reale Deckung im Gehirn – – — „Fünf Minuten vor–machen sind tausendmal mehr wert, als fünf Tage vor–schreiben“ Vossische Ztg. 2 – – Unsere Genies haben schon längst u. länger als 5 Minuten vorgemacht, – es hat aber doch zu nichts geführt. — *„Vossische Ztg“ (Mitte Okt.): „Grundsätze der Hoftheater-Zensur“ von Georg Witkowski: „Karl Hägelin, 1770–1805, von der oesterreichischen Regierung mit der Beaufsichtigung der Theater des Kaiserstaates betraut, fasst im Jahre 1795 seine Grundsätze in einer Denkschrift zusammen, die durch Karl Glossy im VII. Bd. des Grillparzer-Jahrbuches 3 bekannt gegeben werden: „Ueberhaupt gilt {482} die Regel, daß die Tugend allzeit liebenswürdig, das Laster aber allzeit verabscheuungswürdig erscheinen muß. Die erstere kann mit Hindernissen u. Drangsalen kämpfen, darf aber nie scheitern oder sinken, sowie das letztere nie triumphiren darf, sondern vielmehr bestraft werden muß. – Wenn der Stoff eines Stückes oder die Moral desselben wider die Religion, wider die Staatsverfassung oder wider die Sitten sich verstößt, mithin im Grunde fehlerhaft ist, so kann es für die Ausführung nicht zugelassen werden. Zum Beispiel in „Kabale u. Liebe“ befindet sich eine fürstliche Maitresse; 4 dieser Charakter ist anstößig, also das ganze Stück nicht zulässig, außer das Vitiose (Lasterhafte) würde weggeschafft.[“]“ *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 23, 1916, 3°, cloudy.
— Typically Viennese: from the cleaning lady, who forgot to send half the laundry, I receive the reply that she is not arriving until 9 o'clock and only then can one look for it. The bill for the entire laundry, of course, was already included in the first half! — — At 8:30, I telephone the gas company, am connected, and urge them do what should have already been done on Saturday; {481} I received the reply "One moment," and thereafter no further information. So I go to the Josephstädter Strasse; there I am informed that a worker was already on his way to me on Saturday but fell ill along the way, and so could not take care of the work. Another worker will definitely be with me on Tuesday. — — On the way home, I meet Schoenberg in the tramway car; he tells me that he was declared unfit for service or, as he later put it, he was dismissed. When, upon his asking me about my work, I told him that the second volume of Counterpoint was next in line, he asked whether I would give him a copy of the book in exchange for one of his works. I turned the deal down on the grounds that I myself would have to buy Counterpoint , so that there wouldn't be any exchange for me. In addition, I remember that, in one of the last footnotes in his Theory of Harmony, 1 Schoenberg had already taken issue with one of the thoughts I had expressed in the foreword to [the first volume of] my Counterpoint , from which it can be deduced that he knows the work. Undoubtedly, he denied even this time knowledge of my work, exactly as he had said that he "wished to get to know" my Theory of Harmony long after he had made its acquaintance. *Words without real coverage in the brain – – — "To do something five minutes before is a thousand times more worthy than to write something five days before": Vossische Zeitung 2 – – Our geniuses have already for a long time been leading the way, and for longer than five minutes – but it has not done any good. — *Vossische Zeitung (mid-October): "Principles of Censorship at the Court Theatre" by Georg Witkowski: "Karl Hägelin, 1770–1805, charged by the Austrian government with the supervision of the Imperial Theatre, put together his basic principles in 1795 in a memorandum which was published by Karl Glossy in volume 7 of the Grillparzer yearbook 3 : {482} 'The general rule is that virtue must always appear as agreeable, but vice always abhorrent. The former can battle with obstacles and hardships but must never fail or run aground; just as the latter may never be triumphant, but rather must be punished. – If the material of a play or its moral offends religion, the state's constitution or public morals, and is thus basically deficient, then it cannot be accepted for performance. In Intrigue and Love, for instance, one encounters a royal mistress; 4 this character is offensive, thus the entire play is prohibited unless the fault (the immoral character) is removed'." *
© Translation William Drabkin. |
23. X. 16 3°, bewölkt.
— Wienerisches: Bei der Putzerin, die die Hälfte der Wäsche zu schicken vergaß, erhalte ich den Bescheid, die Nichte käme erst um 9h u. erst dann könne gesucht werden. Die Rechnung für die ganze Wäsche lag freilich schon der ersten Hälfte bei! — — Um ½9h telephoniere ich an die Gaswerke, werde verbunden, urgire was schon am Samstag {481} hätte gemacht werden sollen u. erhalte zur Antwort: „einen Moment“ – – u. von da ab keine weitere Nachricht. Nun fahre ich in die Josephstädterstraße; dort teilt man mir mit, daß der Arbeiter am Samstag bereits auf dem Wege zu mir gewesen sei, auf der Strecke aber erkrankte u. daher das Pensum nicht erledigen konnte. Ein anderer Arbeiter würde Dienstag bestimmt bei mir erscheinen. — — Auf der Rückfahrt treffe ich Schönberg im Tramwaywagen; er erzählt, er sei superarbitrirt oder, wie er sich dann später ausdrückt: enthoben worden. Als ich ihm, auf seine Erkundigung nach meiner Arbeit, mitteilte, jetzt käme der 2. Kontrapunktband an die Reihe, meinte er, ob ich ihm nicht das Buch im Tauschwege gegen eine Arbeit von ihm selbst überlassen würde. Ich lehnte den Handel ab mit der Begründung, daß ich den Kontrapunkt selbst einkaufen müßte, daß somit für mich kein Tausch gegeben wäre. Im übrigen erinnerte ich mich, daß Sch. in seiner Harmonielehre 1 in einer der ersten letzten Anmerkungen zu den von mir in der Vorrede des Kontrapunktes geäußerten Gedanken schon einmal Stellung genommen hat, woraus zu schließen ist, daß er das Werk kennt. Unzweifelhaft hat er also auch dießmal [sic] die Kenntnis des Werkes vor mir abgeleugnet genau so, wie seinerzeit im in Falle Bezug [auf] d erie Harmonielehre, die er „ kennen zu lernen kennenzulernen wünschte“, lange nachdem er sie kennengelernt hatte. *Worte ohne reale Deckung im Gehirn – – — „Fünf Minuten vor–machen sind tausendmal mehr wert, als fünf Tage vor–schreiben“ Vossische Ztg. 2 – – Unsere Genies haben schon längst u. länger als 5 Minuten vorgemacht, – es hat aber doch zu nichts geführt. — *„Vossische Ztg“ (Mitte Okt.): „Grundsätze der Hoftheater-Zensur“ von Georg Witkowski: „Karl Hägelin, 1770–1805, von der oesterreichischen Regierung mit der Beaufsichtigung der Theater des Kaiserstaates betraut, fasst im Jahre 1795 seine Grundsätze in einer Denkschrift zusammen, die durch Karl Glossy im VII. Bd. des Grillparzer-Jahrbuches 3 bekannt gegeben werden: „Ueberhaupt gilt {482} die Regel, daß die Tugend allzeit liebenswürdig, das Laster aber allzeit verabscheuungswürdig erscheinen muß. Die erstere kann mit Hindernissen u. Drangsalen kämpfen, darf aber nie scheitern oder sinken, sowie das letztere nie triumphiren darf, sondern vielmehr bestraft werden muß. – Wenn der Stoff eines Stückes oder die Moral desselben wider die Religion, wider die Staatsverfassung oder wider die Sitten sich verstößt, mithin im Grunde fehlerhaft ist, so kann es für die Ausführung nicht zugelassen werden. Zum Beispiel in „Kabale u. Liebe“ befindet sich eine fürstliche Maitresse; 4 dieser Charakter ist anstößig, also das ganze Stück nicht zulässig, außer das Vitiose (Lasterhafte) würde weggeschafft.[“]“ *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 23, 1916, 3°, cloudy.
— Typically Viennese: from the cleaning lady, who forgot to send half the laundry, I receive the reply that she is not arriving until 9 o'clock and only then can one look for it. The bill for the entire laundry, of course, was already included in the first half! — — At 8:30, I telephone the gas company, am connected, and urge them do what should have already been done on Saturday; {481} I received the reply "One moment," and thereafter no further information. So I go to the Josephstädter Strasse; there I am informed that a worker was already on his way to me on Saturday but fell ill along the way, and so could not take care of the work. Another worker will definitely be with me on Tuesday. — — On the way home, I meet Schoenberg in the tramway car; he tells me that he was declared unfit for service or, as he later put it, he was dismissed. When, upon his asking me about my work, I told him that the second volume of Counterpoint was next in line, he asked whether I would give him a copy of the book in exchange for one of his works. I turned the deal down on the grounds that I myself would have to buy Counterpoint , so that there wouldn't be any exchange for me. In addition, I remember that, in one of the last footnotes in his Theory of Harmony, 1 Schoenberg had already taken issue with one of the thoughts I had expressed in the foreword to [the first volume of] my Counterpoint , from which it can be deduced that he knows the work. Undoubtedly, he denied even this time knowledge of my work, exactly as he had said that he "wished to get to know" my Theory of Harmony long after he had made its acquaintance. *Words without real coverage in the brain – – — "To do something five minutes before is a thousand times more worthy than to write something five days before": Vossische Zeitung 2 – – Our geniuses have already for a long time been leading the way, and for longer than five minutes – but it has not done any good. — *Vossische Zeitung (mid-October): "Principles of Censorship at the Court Theatre" by Georg Witkowski: "Karl Hägelin, 1770–1805, charged by the Austrian government with the supervision of the Imperial Theatre, put together his basic principles in 1795 in a memorandum which was published by Karl Glossy in volume 7 of the Grillparzer yearbook 3 : {482} 'The general rule is that virtue must always appear as agreeable, but vice always abhorrent. The former can battle with obstacles and hardships but must never fail or run aground; just as the latter may never be triumphant, but rather must be punished. – If the material of a play or its moral offends religion, the state's constitution or public morals, and is thus basically deficient, then it cannot be accepted for performance. In Intrigue and Love, for instance, one encounters a royal mistress; 4 this character is offensive, thus the entire play is prohibited unless the fault (the immoral character) is removed'." *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Arnold Schönberg, Harmonielehre (Leipzig and Vienna: Universal Edition, 1911). 2 Georg Witkowski, "Grundsätze der Hoftheaterzensur," Vossische Zeitung, No. 532, October 17, 1916, morning edition, pp. [2-3]. 3 Carl Glossy, "Zur Geschichte der Wiener Theatercensur," in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, vol. 7 (Vienna: Konegen, 1897), pp. 239-340. 4 This is a reference to Lady Emilie Milford, one of the principal characters in Schiller's Kabale und Liebe (Mannheim: Schwan, 1784). |