29. August 1925 Halb bedeckt; es entwickelt sich aber schon in den Vormittagsstunden ein wunderschöner Herbsttag!
— Auf der Straße lesend, ich Dietegen, 1 Lie-Liechen die letzten Zeitungsausschnitte ihres Vorrats. Um 11h ins Zimmer zurück wegen zu starker Sonne. Dietegen zuende gelesen. — Violandas Erscheinung will mir nicht recht klar werden. Ihre Abscheulichkeiten, begangen wider den Forstmeister nachdem sie um ihn gekommen ist, sind sie entschuldbar durch eine heftige Liebe oder nicht? Ich glaube, sagen zu müssen, daß kein Leser von dieser Art Liebe erbaut oder überzeugt ist. Jedenfalls ist Keller weit davon entfernt, eine große leidenschaftliche Liebe darstellen zu wollen, der jedes Mittel heilig ist, um zu ihrem Ziele zu gelangen; er scheint ihr Vorgehen gegen den Forstmeister u. seine Kinder moralisch nicht zu billigen. Offenbar hält er Liebe doch für etwas anderes als Violanda – alle Leser dürften ausnahmslos auf Kellers Seite stehn [sic]. Somit sind die Abscheulichkeiten eine psychische Dissonanz. Zum Schluß aber löst Keller diese Dissonanz in eine Konsonanz auf, d. h. Violanda läutert sich unter dem Druck der Ereignisse, nimmt die Schuld auf sich u. entsprechend auch die Buße. Mir scheint nun diese letzte Läuterung außer Verhältnis zur Dissonanz; es müßte denn sein, daß Violanda von Natur aus eine gute Anlage hat. Der Verlauf, wie ihn Keller schildert, wäre dann stichhaltig, wenn aus seiner Darstellung zu ersehen wäre die erste Anlage aus der Zeit der Jugend, da sie den Forstmeister noch nicht kannte, die Verwirrungen der mittleren Zeit u. die Läuterung der letzten. Leider läßt Keller den Leser im Unklaren über die Anlage u. infolge dessen klafft ein Widerspruch zwischen den Abscheulichkeiten u. dieser Läuterung. Nur eine von einer Konsonanz ausgehende u. über eine Dissonanz wieder zu einer Konsonanz treibende Charakter-Linie könnte {2862} Aufschluß geben. Außerdem fällt mir auf, daß auch hier, wie in den „Mißbrauchten Liebesbriefen“ 2 Violanda plötzlich eintritt u. das Schicksal aller Personen in die Hand nimmt, ohne daß eigentlich sie die erste Heldin der Novelle wäre. Auch diese zerfällt in zwei Teile, der erste vor Eintritt der Violanda, der zweite nach ihrem Eintritt, u. das Gleichgewicht zwischen Dietegen u. Violanda scheint mir zu Ungunsten Dietegens verschoben. Dies alles scheint mir endlich aus der immer wiederkehrenden Grundabsicht Kellers zu stammen, jeden Menschen fast gleichmäßig schuldig u. unschuldig erscheinen zu lassen. Selbst den Reinsten zeigt er in seiner menschlichen Unvollkommenheit u. führt ihn auf dem Wege seiner Schuld, u. sei es der harmlosesten, zur Läuterung u. Buße. — Endlich Schillers „Naive u. sentimentalische Dichtung“ 3 im Zusammenhang gelesen. — Jause auf der Terasse [sic] in Sonne u. starkem Wind; hier wird Lie-Liechen auch mit ihren Zeitungsausschnitten fertig. — Spaziergang wirlwärts: ein Tümpel macht uns umkehren. — Am Rundfunk: schauerliche Geräusche, hier u. da erhält man aber den deutlichen Beweis, daß der Apparat seine Schuldigkeit tut, daß man also den Wiener Sender hören kann. — 9½h kommt endlich die Post von zwei Tagen. — Von Frl. Elias (Ansichtsk.): Bericht über eine Tour. — Von der Treuga: 600 Schilling. — © Transcription Marko Deisinger. |
August 29, 1925 Partly overcast; but already in late morning hours a beautiful fall day develops!
— Reading on the street, I Dietegen, 1 Lie-Liechen the last newspaper clippings from her stock. Back to the room at 11:00 because the sun is too intense. Reading Dietegen finished. — Violanda's character remains a bit unclear to me. Her atrocities, committed against the forester after she lost him, are they excusable on account of intense love or not? I believe I have to say that no reader is edified or convinced by love of this type. In any case, Keller is far from wanting to portray great, passionate love, in which achieving its goals justifies any means; he seems morally not to approve of the way she proceeds against the forester and his children. Apparently he thinks love is something different than Violanda [does] – without exception, all readers likely agree with Keller. Thus, the atrocities are a psychic dissonance. But at the end, Keller resolves this dissonance into a consonance, i.e., Violanda purifies herself under the pressure of the events, takes on the blame and consequently also the penance. To me, this last purification seems out of proportion to the dissonance; the way it should be is that Violanda has a naturally good disposition. The sale, as Keller depicts it, would then be sound if the first disposition from [her] youth, when she did not yet know the forester, the confusion of the middle period and the purification of the end period could be seen in his portrayal. Unfortunately, Keller leaves the reader unclear about the disposition and, as a result, a contradiction gapes between the atrocities and this purification. Only a character line emerging from a consonance progressing over dissonance and back to consonance could {2862} provide an explanation. Furthermore, it occurs to me that in this case as well, as in The Misused Love Letters, 2 Violanda enters suddenly and takes everyone's fate into her hand, without her actually becoming the first heroine of the novella. This also breaks down into two parts, the first before Violanda's entrance, the second after her entrance, and the balance between Dietegen and Violanda seems to me to be swayed in Dietegen's disfavor. In the end, this all seems to stem from Keller's forever recurring basic intention to have every person appear equally guilty and innocent. He even depicts the purest person in his human imperfection and leads him along the path of his guilt, even if is the most harmless guilt, to purification and penance. — Finally Schiller's On Naïve and Sentimental Poetry 3 read in context. — Teatime on the terrace in the sun with a strong wind; Lie-Liechen also finishes her newspaper clippings here as well. — For a walk toward Wirl: a puddle makes us turn back. — On the radio: horrific noises, but here and there you receive clear proof that the apparatus is doing its job, that is, the Viennese station can be heard. — 9:30 the mail from two days ago finally arrives. — From Miss Elias (picture postcard): report about a tour. — From Treuga: 600 schillings. —© Translation Scott Witmer. |
29. August 1925 Halb bedeckt; es entwickelt sich aber schon in den Vormittagsstunden ein wunderschöner Herbsttag!
— Auf der Straße lesend, ich Dietegen, 1 Lie-Liechen die letzten Zeitungsausschnitte ihres Vorrats. Um 11h ins Zimmer zurück wegen zu starker Sonne. Dietegen zuende gelesen. — Violandas Erscheinung will mir nicht recht klar werden. Ihre Abscheulichkeiten, begangen wider den Forstmeister nachdem sie um ihn gekommen ist, sind sie entschuldbar durch eine heftige Liebe oder nicht? Ich glaube, sagen zu müssen, daß kein Leser von dieser Art Liebe erbaut oder überzeugt ist. Jedenfalls ist Keller weit davon entfernt, eine große leidenschaftliche Liebe darstellen zu wollen, der jedes Mittel heilig ist, um zu ihrem Ziele zu gelangen; er scheint ihr Vorgehen gegen den Forstmeister u. seine Kinder moralisch nicht zu billigen. Offenbar hält er Liebe doch für etwas anderes als Violanda – alle Leser dürften ausnahmslos auf Kellers Seite stehn [sic]. Somit sind die Abscheulichkeiten eine psychische Dissonanz. Zum Schluß aber löst Keller diese Dissonanz in eine Konsonanz auf, d. h. Violanda läutert sich unter dem Druck der Ereignisse, nimmt die Schuld auf sich u. entsprechend auch die Buße. Mir scheint nun diese letzte Läuterung außer Verhältnis zur Dissonanz; es müßte denn sein, daß Violanda von Natur aus eine gute Anlage hat. Der Verlauf, wie ihn Keller schildert, wäre dann stichhaltig, wenn aus seiner Darstellung zu ersehen wäre die erste Anlage aus der Zeit der Jugend, da sie den Forstmeister noch nicht kannte, die Verwirrungen der mittleren Zeit u. die Läuterung der letzten. Leider läßt Keller den Leser im Unklaren über die Anlage u. infolge dessen klafft ein Widerspruch zwischen den Abscheulichkeiten u. dieser Läuterung. Nur eine von einer Konsonanz ausgehende u. über eine Dissonanz wieder zu einer Konsonanz treibende Charakter-Linie könnte {2862} Aufschluß geben. Außerdem fällt mir auf, daß auch hier, wie in den „Mißbrauchten Liebesbriefen“ 2 Violanda plötzlich eintritt u. das Schicksal aller Personen in die Hand nimmt, ohne daß eigentlich sie die erste Heldin der Novelle wäre. Auch diese zerfällt in zwei Teile, der erste vor Eintritt der Violanda, der zweite nach ihrem Eintritt, u. das Gleichgewicht zwischen Dietegen u. Violanda scheint mir zu Ungunsten Dietegens verschoben. Dies alles scheint mir endlich aus der immer wiederkehrenden Grundabsicht Kellers zu stammen, jeden Menschen fast gleichmäßig schuldig u. unschuldig erscheinen zu lassen. Selbst den Reinsten zeigt er in seiner menschlichen Unvollkommenheit u. führt ihn auf dem Wege seiner Schuld, u. sei es der harmlosesten, zur Läuterung u. Buße. — Endlich Schillers „Naive u. sentimentalische Dichtung“ 3 im Zusammenhang gelesen. — Jause auf der Terasse [sic] in Sonne u. starkem Wind; hier wird Lie-Liechen auch mit ihren Zeitungsausschnitten fertig. — Spaziergang wirlwärts: ein Tümpel macht uns umkehren. — Am Rundfunk: schauerliche Geräusche, hier u. da erhält man aber den deutlichen Beweis, daß der Apparat seine Schuldigkeit tut, daß man also den Wiener Sender hören kann. — 9½h kommt endlich die Post von zwei Tagen. — Von Frl. Elias (Ansichtsk.): Bericht über eine Tour. — Von der Treuga: 600 Schilling. — © Transcription Marko Deisinger. |
August 29, 1925 Partly overcast; but already in late morning hours a beautiful fall day develops!
— Reading on the street, I Dietegen, 1 Lie-Liechen the last newspaper clippings from her stock. Back to the room at 11:00 because the sun is too intense. Reading Dietegen finished. — Violanda's character remains a bit unclear to me. Her atrocities, committed against the forester after she lost him, are they excusable on account of intense love or not? I believe I have to say that no reader is edified or convinced by love of this type. In any case, Keller is far from wanting to portray great, passionate love, in which achieving its goals justifies any means; he seems morally not to approve of the way she proceeds against the forester and his children. Apparently he thinks love is something different than Violanda [does] – without exception, all readers likely agree with Keller. Thus, the atrocities are a psychic dissonance. But at the end, Keller resolves this dissonance into a consonance, i.e., Violanda purifies herself under the pressure of the events, takes on the blame and consequently also the penance. To me, this last purification seems out of proportion to the dissonance; the way it should be is that Violanda has a naturally good disposition. The sale, as Keller depicts it, would then be sound if the first disposition from [her] youth, when she did not yet know the forester, the confusion of the middle period and the purification of the end period could be seen in his portrayal. Unfortunately, Keller leaves the reader unclear about the disposition and, as a result, a contradiction gapes between the atrocities and this purification. Only a character line emerging from a consonance progressing over dissonance and back to consonance could {2862} provide an explanation. Furthermore, it occurs to me that in this case as well, as in The Misused Love Letters, 2 Violanda enters suddenly and takes everyone's fate into her hand, without her actually becoming the first heroine of the novella. This also breaks down into two parts, the first before Violanda's entrance, the second after her entrance, and the balance between Dietegen and Violanda seems to me to be swayed in Dietegen's disfavor. In the end, this all seems to stem from Keller's forever recurring basic intention to have every person appear equally guilty and innocent. He even depicts the purest person in his human imperfection and leads him along the path of his guilt, even if is the most harmless guilt, to purification and penance. — Finally Schiller's On Naïve and Sentimental Poetry 3 read in context. — Teatime on the terrace in the sun with a strong wind; Lie-Liechen also finishes her newspaper clippings here as well. — For a walk toward Wirl: a puddle makes us turn back. — On the radio: horrific noises, but here and there you receive clear proof that the apparatus is doing its job, that is, the Viennese station can be heard. — 9:30 the mail from two days ago finally arrives. — From Miss Elias (picture postcard): report about a tour. — From Treuga: 600 schillings. —© Translation Scott Witmer. |
Footnotes1 Dietegen: novella from the two-part novella cycle Die Leute von Seldwyla by Gottfried Keller. 2 "Die mißbrauchten Liebesbriefe": novella from the two-part novella cycle Die Leute von Seldwyla by Gottfried Keller. 3 Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung (1794–95). |