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3. Oktober 1926 Sonntag, 13–18°, ein wenig bedeckt.

— An Vrieslander (Br.): wiederhole die seltsamen Erlebnisse mit Hoboken, die Art, wie er in 25/26 das Honorar erlegt hat u. sich nun wieder in 26/27 zu zahlen anschickt, wie er die Frage der Mozart-Facsimile u. der Zeitschrift von sich abgleiten läßt – ich erkläre alles als leere Versprechungen!

1 um ½ 12h erscheint Rothberger u. bleibt bis ¾ 2h! Prahlt damit, daß er die Erinnerungen an Goldmark „sofort“ 2 gekauft habe ‒ der geringe Preis hat einer sofortigen Erwerbung kein Hindernis bereitet ‒ u. erzählt, daß Goldmark offenbar etwas gegen Brahms auf dem Herzen gehabt habe u. seinen schweren Kampf mit einer Gegnerschaft Brahms' erklärt, die wieder auf einen seltsamen Neid zurückzuführen gewesen sei. Auf der niedrigen Stufe der Erkenntnis u. namentlich der musikalischen Bildung, auf der R. steht, gibt es keine Möglichkeit, den Unterschied zwischen Brahms u. Goldmark bewußt zu machen, mir blieb nur übrig, das Vertrauen in Goldmarks Darstellung zu erschüttern u. zwar dadurch, daß ich mich erbötig machte etwas zu erzählen, was Goldmark selbst mir mitgeteilt; das aber in den Erinnerungen gewiß verschwiegen ist: Brahms habe einmal der Probe eines Kammermusikwerkes von Goldmark beigewohnt u. einige Fehler getadelt. Goldmark habe schon durch diese Aufmerksamkeit, die ihm Brahms zum erstenmal schenkte, sich geehrt u. geschmeichelt gefühlt u. ausdrücklich fügte Goldmark hinzu, daß er erst nach Jahren begriffen, wie treffend Brahms’ Tadel gewesen u. daß er nur staunen mußte, wie Brahms die Fehler schon beim ersten Hören festzustellen möglich war. Aus dieser Mitteilung von Goldmark geht hervor, so erkläre ich , Herrn R., daß G. keine Ahn- {2984} nung davon hatte, wie wenig er einem Brahms zum Problem werden konnte, daß es schon für einen geringeren Musiker möglich wäre, Bedenken gegen Goldmark [recte Brahms] auch zu begründen. 3

Hierauf erzählt R. den Fall der Motette, den Goldmark vorbringt. Trifft die Darstellung zu, so kann wieder nur Brahms Recht gegeben werden, der den Juden G. verwies, der sich an eine Motette, an diese Motette heranwagte. 4 Ohne Zweifel schwebte ihm der Gedanke vor, daß sich derlei Dinge nicht in bloßer Nachahmung sich schreiben lassen, daß dazu ein wirklich heißer Glaube gehört, wie ihn z. B. S. Bach hatte. Die Kunst zu schreiben verstehe sich dabei von selbst, so daß es weniger auf die Kunst hier anzukommen habe als auf den Glauben, der dann die Feder führe. Und was den Neid bei Brahms anlangt 5 erwähnte ich, daß sich so mancher Zeitgenosse von Brahms verfolgt glaubte, außer Goldmark z. B. auch Grädener, Götz u. a. – dagegen stehen Beispiele von Förderung wie im Falle Dwořak, Fuchs, die die Güte u. Neidlosigkeit Brahms’ im hellsten Lichte zeigen. Daß Brahms’ geistige Höhe einen kleinlichen Neid ausschließt, dieses Argument aller Argumente konnte freilich vor R. nicht ausgespielt werden, der für Brahms’ Höhe kein Organ hat. 6

— Dr. Weisse u. Frau von ½5–½8h; setzt sich in seinen Mitteilungen in Wider- 3. Oktober 1926 spruch zu den Angaben im Brief; er hatte Zeit genug für viele Gäste, nur gerade für mich fand er keine! Läßt sich entschlüpfen, daß er Amerikaner in englischer Sprache unterweist, hat mir somit das Studium der englischen Sprache verheimlicht, das für diese Zwecke sicher zwei Jahre in Anspruch genommen haben muß. Frau Hertha deutet die Möglichkeit einer Uebersiedlung nach Amerika an. Ein Schüler, Dr. Salzmann [recte Salzer], wird gleichsam zur Vertretung an der Wiener Universität vorgeschoben. (Ursprüng- {2985} lich wollte sich Weisse selbst an der Universität hören lassen[)]. Er bemerkt, daß die Uebersetzung ins Englische gut gelingt bis auf die technischen Ausdrücke, für die kein Ersatz zu finden sei. Im Jahrbuch fehlt ihm die letzte Genauigkeit, die dem Leser nichts schuldig bliebe; namentlich bei den Klichées wünscht er noch ein zurückliegendes Bild. Mein Hinweis auf eine solche Genauigkeit bei den größten Blätter des Jahrbuches, den beiden Präludien von S. Bach, tritt er mit dem Einwand entgegen: ja, das müßte dann auch im Text stehen – mit einem Wort, seine Sucht, den Lehrstoff so bequem u. sorglos wie möglich zu empfangen, um ihn ebenso weitergeben zu können, hat ihn, wie so oft schon, verleitet, Ansprüche an das Jahrbuch zu stellen, die erst der Freie Satz als geschlossenes System bieten kann. Besonders auffällig war der Vorwurf, meine Definition der Urlinie leide an Ungenauigkeit! Schon seit 2 Jahren bemängelt er die Worte „erster Durchgang“ in der Definition. Unmöglich wäre ich von selbst darauf gekommen, was die Ursache dieses Mißverständnisses sein könnte, wenn nicht der Zufall gewollt hätte, daß Weisse im Bach-Präludium Edur statt ĉĂ, wie angegeben, in verkürzter Form nur Ă ă Ă, e – fis – e, gelesen hätte. Darnach wollte er die Urlinie auch schon durch eine Nebennote vollendet sehen. Daß damit nur ein Ton umschrieben würde, nicht ein Klang ist ihm völlig entgangen u. so erklärt sich, daß er das Erfordernis eines „ersten Durchganges“ gar nicht verstehen konnte. Von Wert war sein Wunsch, einmal öffentlich auszusprechen, daß die im Tonwillen u. den Jahrbüchern niedergelegten Arbeiten als Studien zum Freien Satz aufzufassen sind. 7

Zum Schluß entrang sich ihm die bange Frage, an der ich schon den Einfluss der amerikanischen Schüler bemerkte: {2986} Ob nicht der Kontrapunkt schon am Ursatz zu lehren wäre, um das Umständliche u. weitläufige [sic] des Kontrapunkts zu umgehen u. den Schüler näher an die eigentlichen Probleme des Freien Satzes heranzubringen. Ich habe ihn so entschieden wie möglich davor gewarnt, da die Stimmführung ein Gebiet für sich ist, deren Wert man nur durch ein eigenes Studium erkennen kann u. der Ursatz eine besondere Anwendung des Kontrapunkts, von vornherein zugeschnitten auf den besondern Zweck der Urlinie u. der Baßbrechung. Offenbar fürchtet Weisse, die Schüler mit dem Kontrapunkt anzuöden, doch läge die Schuld an ihm, wenn er diesen schönen Stoff nicht immer durch Ausblicke in den freien Satz beleben könnte, wie ich es tue. Die Partitur seines Klarinetten-Quintetts sei noch nicht fertig; . Er versichert mir, immer an mich gedacht zu haben. Ueberraschend die Andeutung der Frau, daß sie keine Kinder wollen, sie sei eine geistige Frau – auch sprach sie von „Proleten“! – vor wenigen Jahren sprach sie noch anders –. Zum Schluß beanstandet Weisse noch einen Satz im Jahrbuch, im Vorwort, in rein sprachlicher Hinsicht; nicht nur hat er damit Unrecht in der Sache, er macht sich auch einer Taktlosigkeit schuldig, da ich Lie-Liechen als für die Redaktion der Sprache verantwortlich nannte u. er die Bemängelung in ihrer Gegenwart aufrecht hielt. Jedenfalls schied er von uns mit dem Gefühl, uns wertvolle Dienste geleistet zu haben.

© Transcription Marko Deisinger.

October 3, 1926, Sunday, 13–18°, partly cloudy.

— To Vrieslander (letter): I repeat the strange experiences with Hoboken, the manner in which he paid the lesson fees for 1925/26 and is now preparing again to pay for 1926/27; how he has allowed the matter of the Mozart facsimile edition and the periodical to slip away – I explain everything as empty promises! 1 — At 11:30, Rothberger appears and stays until 1:45! Takes the opportunity of boasting that he has bought the memoirs of Goldmark "immediately" 2 – the low price meant there was no obstacle to acquiring it immediately – and recounts that Goldmark apparently had something against Brahms in his heart, and that he explains his difficult struggle with Brahms's opposition [to him], that in turn is supposed to refer to a strange envy. On the low level of knowledge, in particular of musical education, on which Rothberger stands, there is no possibility of making [him] understand the difference between Brahms and Goldmark; and so it only remains for me to shake his trust in Goldmark's account and, in fact, by offering to recount something that Goldmark himself communicated to me, but which has certainly been suppressed in the memoirs: Brahms once attended the rehearsal of a chamber music work by Goldmark and criticized a few mistakes. Goldmark really felt honored and flattered by this attention, which Brahms paid for the first time; and Goldmark expressly added that it was only years later that he realized how accurate Brahms's criticism was and that he could only marvel that Brahms was able to determine these mistakes just at the first hearing. From this communication of Goldmark's it is clear, as I explained to Mr. Rothberger, that Goldmark had no {2984} idea how little he could become a problem for a Brahms, that it was even possible for a lesser musician to justify reservations about Goldmark [recte Brahms]. 3

At this point Rothberger recounted the story about the motet that Goldmark raises. If the account is accurate, then again one can only find in favor of Brahms, who dismissed Goldmark, the Jew, for venturing to tackle a motet – this very motet. 4 Without doubt, he had in mind the notion that such things could not be composed in mere imitation, that one had to have a truly ardent faith to do this, as for example J. S. Bach had. The art of writing was in this respect self-evident, so it was less a question of art than of belief, which then led the pen. And as far as the envy that Brahms felt, 5 I mentioned that so many of Brahms's contemporaries believed they were hounded by him: besides Goldmark, for example, also Grädener, Götz etc. – on the other hand, there are examples of those whom he promoted, for instance Dvořak, Fuchs, which show Brahms's kindness and lack of envy in the brightest light. That Brahms's intellectual greatness ruled out a trivial [expression of] envy, this argument above all could not be played out before Rothberger, who had no ear for Brahms's greatness. 6

— Dr. Weisse and his wife from 4:30 to 7:30; in his communications he contradicts what he had indicated in his letter; he had enough time to entertain many guests, only for me he found none! He lets it slip that he teaches Americans in the English language, thus he kept his study of the English language a secret from me, for which purpose he must have surely needed two years. Mrs. Weisse hints at the possibility of a move to America. A pupil, Dr. Salzmann [recte Salzer] has been put forward to deputize, so to speak, at the University of Vienna. {2985} (Initially, Weisse himself wanted to speak at the University.) He remarks that the translation [of my work] in English succeeds well, apart from the technical terms, for which no substitutes are to be found. In the Yearbook he misses the ultimate precision, which would leave the reader requiring nothing further; specifically, in the music examples he wants an underlying picture. My reference to a precision of this sort in the largest sheets of the Yearbook , the two preludes by Bach, he counters with the following objection: yes, that should have also been present in the text – in short, his desire to acquire the teaching material as comfortably and unproblematically as possible, so that he can transmit it further in the same way, has misled him, as so often has been the case, to make demands upon the Yearbook that only Der freie Satz can satisfy, as a closed system. His criticism that my definition of the Urlinie suffered from imprecision was particularly striking! For two years now, he finds fault with the words "first passing-tone" in the definition. It would have been impossible to learn what the origins of this misunderstanding could have been were it not for the fact that, as chance revealed, Weisse had read the Bach Prelude in E major not as ĉĂ, as given, but in abbreviated form, merely as Ă ă Ă, e – fě – e. Accordingly, he wanted to see the Urlinie completed merely by a neighbor-note. He completely missed the point that, from this point of view, only a single tone would be delineated, not a harmony; and this explains why he could not understand the requirement of a "first passing-tone." What was of value was his wish that I finally express in public that the essays presented in Der Tonwille and the Yearbooks should be understood as preliminary studies for Der freie Satz . 7

At the end the difficult question, in which I observed the influence of his American pupils, was wrested from him: {2986} whether it might not be possible to teach counterpoint already in the Ursatz, in order to bypass the laborious and extensive aspects of counterpoint and bring the pupil closer to the actual problems of free composition. I have warned him as decisively as possible against this, since part-writing is a subject in itself, whose value can be recognized only by studying it oneself, and the Ursatz is a special application of counterpoint, tailored at the outset to the specific purpose of Urlinie and bass arpeggiation. Apparently Weisse is afraid of wearying his students with the study of counterpoint; yet the fault would lie with him if he were not always to be enlivening this attractive material with glimpses of free composition, as I do. The score of his Clarinet Quintet is still not finished. He assured me that he had always been thinking of me. I was surprised by his wife's suggestion that she did not want any children, that she was an intellectual woman – she even spoke about "the proletariat"! – only a few years ago she spoke differently –. At the end Weisse took exception to another sentence in the Yearbook , in the Foreword, from a purely linguistic point of view; not only is he wrong in the matter, he is guilty also of a tactless remark, since I named Lie-Liechen als responsible for the editing of the language, and he maintained this criticism in her presence. In any event, he departed from us with the feeling that he had provided us with valuable service. —

© Translation William Drabkin.

3. Oktober 1926 Sonntag, 13–18°, ein wenig bedeckt.

— An Vrieslander (Br.): wiederhole die seltsamen Erlebnisse mit Hoboken, die Art, wie er in 25/26 das Honorar erlegt hat u. sich nun wieder in 26/27 zu zahlen anschickt, wie er die Frage der Mozart-Facsimile u. der Zeitschrift von sich abgleiten läßt – ich erkläre alles als leere Versprechungen!

1 um ½ 12h erscheint Rothberger u. bleibt bis ¾ 2h! Prahlt damit, daß er die Erinnerungen an Goldmark „sofort“ 2 gekauft habe ‒ der geringe Preis hat einer sofortigen Erwerbung kein Hindernis bereitet ‒ u. erzählt, daß Goldmark offenbar etwas gegen Brahms auf dem Herzen gehabt habe u. seinen schweren Kampf mit einer Gegnerschaft Brahms' erklärt, die wieder auf einen seltsamen Neid zurückzuführen gewesen sei. Auf der niedrigen Stufe der Erkenntnis u. namentlich der musikalischen Bildung, auf der R. steht, gibt es keine Möglichkeit, den Unterschied zwischen Brahms u. Goldmark bewußt zu machen, mir blieb nur übrig, das Vertrauen in Goldmarks Darstellung zu erschüttern u. zwar dadurch, daß ich mich erbötig machte etwas zu erzählen, was Goldmark selbst mir mitgeteilt; das aber in den Erinnerungen gewiß verschwiegen ist: Brahms habe einmal der Probe eines Kammermusikwerkes von Goldmark beigewohnt u. einige Fehler getadelt. Goldmark habe schon durch diese Aufmerksamkeit, die ihm Brahms zum erstenmal schenkte, sich geehrt u. geschmeichelt gefühlt u. ausdrücklich fügte Goldmark hinzu, daß er erst nach Jahren begriffen, wie treffend Brahms’ Tadel gewesen u. daß er nur staunen mußte, wie Brahms die Fehler schon beim ersten Hören festzustellen möglich war. Aus dieser Mitteilung von Goldmark geht hervor, so erkläre ich , Herrn R., daß G. keine Ahn- {2984} nung davon hatte, wie wenig er einem Brahms zum Problem werden konnte, daß es schon für einen geringeren Musiker möglich wäre, Bedenken gegen Goldmark [recte Brahms] auch zu begründen. 3

Hierauf erzählt R. den Fall der Motette, den Goldmark vorbringt. Trifft die Darstellung zu, so kann wieder nur Brahms Recht gegeben werden, der den Juden G. verwies, der sich an eine Motette, an diese Motette heranwagte. 4 Ohne Zweifel schwebte ihm der Gedanke vor, daß sich derlei Dinge nicht in bloßer Nachahmung sich schreiben lassen, daß dazu ein wirklich heißer Glaube gehört, wie ihn z. B. S. Bach hatte. Die Kunst zu schreiben verstehe sich dabei von selbst, so daß es weniger auf die Kunst hier anzukommen habe als auf den Glauben, der dann die Feder führe. Und was den Neid bei Brahms anlangt 5 erwähnte ich, daß sich so mancher Zeitgenosse von Brahms verfolgt glaubte, außer Goldmark z. B. auch Grädener, Götz u. a. – dagegen stehen Beispiele von Förderung wie im Falle Dwořak, Fuchs, die die Güte u. Neidlosigkeit Brahms’ im hellsten Lichte zeigen. Daß Brahms’ geistige Höhe einen kleinlichen Neid ausschließt, dieses Argument aller Argumente konnte freilich vor R. nicht ausgespielt werden, der für Brahms’ Höhe kein Organ hat. 6

— Dr. Weisse u. Frau von ½5–½8h; setzt sich in seinen Mitteilungen in Wider- 3. Oktober 1926 spruch zu den Angaben im Brief; er hatte Zeit genug für viele Gäste, nur gerade für mich fand er keine! Läßt sich entschlüpfen, daß er Amerikaner in englischer Sprache unterweist, hat mir somit das Studium der englischen Sprache verheimlicht, das für diese Zwecke sicher zwei Jahre in Anspruch genommen haben muß. Frau Hertha deutet die Möglichkeit einer Uebersiedlung nach Amerika an. Ein Schüler, Dr. Salzmann [recte Salzer], wird gleichsam zur Vertretung an der Wiener Universität vorgeschoben. (Ursprüng- {2985} lich wollte sich Weisse selbst an der Universität hören lassen[)]. Er bemerkt, daß die Uebersetzung ins Englische gut gelingt bis auf die technischen Ausdrücke, für die kein Ersatz zu finden sei. Im Jahrbuch fehlt ihm die letzte Genauigkeit, die dem Leser nichts schuldig bliebe; namentlich bei den Klichées wünscht er noch ein zurückliegendes Bild. Mein Hinweis auf eine solche Genauigkeit bei den größten Blätter des Jahrbuches, den beiden Präludien von S. Bach, tritt er mit dem Einwand entgegen: ja, das müßte dann auch im Text stehen – mit einem Wort, seine Sucht, den Lehrstoff so bequem u. sorglos wie möglich zu empfangen, um ihn ebenso weitergeben zu können, hat ihn, wie so oft schon, verleitet, Ansprüche an das Jahrbuch zu stellen, die erst der Freie Satz als geschlossenes System bieten kann. Besonders auffällig war der Vorwurf, meine Definition der Urlinie leide an Ungenauigkeit! Schon seit 2 Jahren bemängelt er die Worte „erster Durchgang“ in der Definition. Unmöglich wäre ich von selbst darauf gekommen, was die Ursache dieses Mißverständnisses sein könnte, wenn nicht der Zufall gewollt hätte, daß Weisse im Bach-Präludium Edur statt ĉĂ, wie angegeben, in verkürzter Form nur Ă ă Ă, e – fis – e, gelesen hätte. Darnach wollte er die Urlinie auch schon durch eine Nebennote vollendet sehen. Daß damit nur ein Ton umschrieben würde, nicht ein Klang ist ihm völlig entgangen u. so erklärt sich, daß er das Erfordernis eines „ersten Durchganges“ gar nicht verstehen konnte. Von Wert war sein Wunsch, einmal öffentlich auszusprechen, daß die im Tonwillen u. den Jahrbüchern niedergelegten Arbeiten als Studien zum Freien Satz aufzufassen sind. 7

Zum Schluß entrang sich ihm die bange Frage, an der ich schon den Einfluss der amerikanischen Schüler bemerkte: {2986} Ob nicht der Kontrapunkt schon am Ursatz zu lehren wäre, um das Umständliche u. weitläufige [sic] des Kontrapunkts zu umgehen u. den Schüler näher an die eigentlichen Probleme des Freien Satzes heranzubringen. Ich habe ihn so entschieden wie möglich davor gewarnt, da die Stimmführung ein Gebiet für sich ist, deren Wert man nur durch ein eigenes Studium erkennen kann u. der Ursatz eine besondere Anwendung des Kontrapunkts, von vornherein zugeschnitten auf den besondern Zweck der Urlinie u. der Baßbrechung. Offenbar fürchtet Weisse, die Schüler mit dem Kontrapunkt anzuöden, doch läge die Schuld an ihm, wenn er diesen schönen Stoff nicht immer durch Ausblicke in den freien Satz beleben könnte, wie ich es tue. Die Partitur seines Klarinetten-Quintetts sei noch nicht fertig; . Er versichert mir, immer an mich gedacht zu haben. Ueberraschend die Andeutung der Frau, daß sie keine Kinder wollen, sie sei eine geistige Frau – auch sprach sie von „Proleten“! – vor wenigen Jahren sprach sie noch anders –. Zum Schluß beanstandet Weisse noch einen Satz im Jahrbuch, im Vorwort, in rein sprachlicher Hinsicht; nicht nur hat er damit Unrecht in der Sache, er macht sich auch einer Taktlosigkeit schuldig, da ich Lie-Liechen als für die Redaktion der Sprache verantwortlich nannte u. er die Bemängelung in ihrer Gegenwart aufrecht hielt. Jedenfalls schied er von uns mit dem Gefühl, uns wertvolle Dienste geleistet zu haben.

© Transcription Marko Deisinger.

October 3, 1926, Sunday, 13–18°, partly cloudy.

— To Vrieslander (letter): I repeat the strange experiences with Hoboken, the manner in which he paid the lesson fees for 1925/26 and is now preparing again to pay for 1926/27; how he has allowed the matter of the Mozart facsimile edition and the periodical to slip away – I explain everything as empty promises! 1 — At 11:30, Rothberger appears and stays until 1:45! Takes the opportunity of boasting that he has bought the memoirs of Goldmark "immediately" 2 – the low price meant there was no obstacle to acquiring it immediately – and recounts that Goldmark apparently had something against Brahms in his heart, and that he explains his difficult struggle with Brahms's opposition [to him], that in turn is supposed to refer to a strange envy. On the low level of knowledge, in particular of musical education, on which Rothberger stands, there is no possibility of making [him] understand the difference between Brahms and Goldmark; and so it only remains for me to shake his trust in Goldmark's account and, in fact, by offering to recount something that Goldmark himself communicated to me, but which has certainly been suppressed in the memoirs: Brahms once attended the rehearsal of a chamber music work by Goldmark and criticized a few mistakes. Goldmark really felt honored and flattered by this attention, which Brahms paid for the first time; and Goldmark expressly added that it was only years later that he realized how accurate Brahms's criticism was and that he could only marvel that Brahms was able to determine these mistakes just at the first hearing. From this communication of Goldmark's it is clear, as I explained to Mr. Rothberger, that Goldmark had no {2984} idea how little he could become a problem for a Brahms, that it was even possible for a lesser musician to justify reservations about Goldmark [recte Brahms]. 3

At this point Rothberger recounted the story about the motet that Goldmark raises. If the account is accurate, then again one can only find in favor of Brahms, who dismissed Goldmark, the Jew, for venturing to tackle a motet – this very motet. 4 Without doubt, he had in mind the notion that such things could not be composed in mere imitation, that one had to have a truly ardent faith to do this, as for example J. S. Bach had. The art of writing was in this respect self-evident, so it was less a question of art than of belief, which then led the pen. And as far as the envy that Brahms felt, 5 I mentioned that so many of Brahms's contemporaries believed they were hounded by him: besides Goldmark, for example, also Grädener, Götz etc. – on the other hand, there are examples of those whom he promoted, for instance Dvořak, Fuchs, which show Brahms's kindness and lack of envy in the brightest light. That Brahms's intellectual greatness ruled out a trivial [expression of] envy, this argument above all could not be played out before Rothberger, who had no ear for Brahms's greatness. 6

— Dr. Weisse and his wife from 4:30 to 7:30; in his communications he contradicts what he had indicated in his letter; he had enough time to entertain many guests, only for me he found none! He lets it slip that he teaches Americans in the English language, thus he kept his study of the English language a secret from me, for which purpose he must have surely needed two years. Mrs. Weisse hints at the possibility of a move to America. A pupil, Dr. Salzmann [recte Salzer] has been put forward to deputize, so to speak, at the University of Vienna. {2985} (Initially, Weisse himself wanted to speak at the University.) He remarks that the translation [of my work] in English succeeds well, apart from the technical terms, for which no substitutes are to be found. In the Yearbook he misses the ultimate precision, which would leave the reader requiring nothing further; specifically, in the music examples he wants an underlying picture. My reference to a precision of this sort in the largest sheets of the Yearbook , the two preludes by Bach, he counters with the following objection: yes, that should have also been present in the text – in short, his desire to acquire the teaching material as comfortably and unproblematically as possible, so that he can transmit it further in the same way, has misled him, as so often has been the case, to make demands upon the Yearbook that only Der freie Satz can satisfy, as a closed system. His criticism that my definition of the Urlinie suffered from imprecision was particularly striking! For two years now, he finds fault with the words "first passing-tone" in the definition. It would have been impossible to learn what the origins of this misunderstanding could have been were it not for the fact that, as chance revealed, Weisse had read the Bach Prelude in E major not as ĉĂ, as given, but in abbreviated form, merely as Ă ă Ă, e – fě – e. Accordingly, he wanted to see the Urlinie completed merely by a neighbor-note. He completely missed the point that, from this point of view, only a single tone would be delineated, not a harmony; and this explains why he could not understand the requirement of a "first passing-tone." What was of value was his wish that I finally express in public that the essays presented in Der Tonwille and the Yearbooks should be understood as preliminary studies for Der freie Satz . 7

At the end the difficult question, in which I observed the influence of his American pupils, was wrested from him: {2986} whether it might not be possible to teach counterpoint already in the Ursatz, in order to bypass the laborious and extensive aspects of counterpoint and bring the pupil closer to the actual problems of free composition. I have warned him as decisively as possible against this, since part-writing is a subject in itself, whose value can be recognized only by studying it oneself, and the Ursatz is a special application of counterpoint, tailored at the outset to the specific purpose of Urlinie and bass arpeggiation. Apparently Weisse is afraid of wearying his students with the study of counterpoint; yet the fault would lie with him if he were not always to be enlivening this attractive material with glimpses of free composition, as I do. The score of his Clarinet Quintet is still not finished. He assured me that he had always been thinking of me. I was surprised by his wife's suggestion that she did not want any children, that she was an intellectual woman – she even spoke about "the proletariat"! – only a few years ago she spoke differently –. At the end Weisse took exception to another sentence in the Yearbook , in the Foreword, from a purely linguistic point of view; not only is he wrong in the matter, he is guilty also of a tactless remark, since I named Lie-Liechen als responsible for the editing of the language, and he maintained this criticism in her presence. In any event, he departed from us with the feeling that he had provided us with valuable service. —

© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 No paragraph-break in original.

2 Hermine Schwarz, Ignaz Brüll und sein Freundeskreis. Erinnerungen an Brüll, Goldmark und Brahms mit einem Vorwort von Felix Salten (Vienna, Berlin, Leipzig, Munich: Rikola Verlag, 1922). Apparently the publication in question here is Karl Goldmark, Erinnerungen aus meinem Leben (Vienna, Berlin, Leipzig, Munich: Rikola Verlag, 1922).

3 No paragraph-break in original.

4 In his Erinnerungen (pp. 86–87), Goldmark recounts the story that Brahms, upon seeing the score of Goldmark's motet Wer sich die Musik erkiest, exclaimed that the text was not by Luther at all; when, however, he learned that it was indeed by Luther, he remarked to another musician – in the composer's presence – "Do you not find it odd that a Jew has set a text of Martin Luther's to music – then later expressed regret that his bad joke was taken so seriously.

5 The story continues, in Goldmark's Erinnerungen (p. 87), that Brahms made his anti-Semitic remark because he was angry with himself for not having set Luther's text first.

6 No paragraph-break in original.

7 No paragraph-break in original.