Ser. A,
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[in Jeanette Schenker's hand, with edits by Heinrich, final version only given here:] ? [c.10] ⇧ Mai 1911 Oedipus, Reinhardtsche Aufführung. 1 Die Sage vielleicht als letzte Absage an die Blutschande aufzufassen, aehnlich, wie die Sage von Isaaks Opferung als die letzte Absage an Menschen-Opferung anzusehen ist. Ob daneben die Anerkennung der Moira erst nur als zweiter Gedanke zum Ausdruck kommt, bleibe darnach dahingestellt. Jedenfalls hat die Blutschande in der Oedipus-Sage, gleichviel was auch sonst noch mehr ihr zugrunde liegen mag, die gräßlichste Verkörperung gefunden, zu jeglicher Abschreckung wohl hinreichend. Die dramatische Technik (ähnlich wie bei Ibsen) setzt hier am Ende ein, um den Anfang erst allmä[h]lich zu suchen u. zu finden. Das Rückgewinnen der ersten, unseligen Ursache gestaltet sich technisch außerordentlich wirksam. Sehr bezeichnend u. von hoher dichterischer Erkenntnis: der Mann im König will die Schuld erforschen u. selbst auch noch dann, davon nicht lassen als ihm immer mehr u. mehr klar wird, daß er selbst der Schuldige; Nicht so aber Jokaste, die als Weib alles Forschen am liebsten sofort unterbinden möchte („Komm ins Haus“). (Hamlets Mutter im Vergleich) {129} Von dieser sachlichen Technik indessen abgesehen, scheint mir Sophokles’ Drama am Mangel eines jeglichen weiteren Luxus der Poesie, der aber unentbehrlich ist, zu leiden. Noch ist darin nur erst das Notwendigste gesagt, was freilich zu jener Zeit nichts destoweniger schon zugleich die denkbar größte aestetische Freude bereiten mußte, zumal das Drama damals noch jung gewesen, darin außerdem eine durchaus bekannte Sage zur Reproduktion gelangte, endlich auch die Suggestion des Festspiels u.s.w. eine glückliche fördernde Rolle spielte. Ausgenommen so einige wenige Sentenzen, in deren Prägung sich der dichterische Sinn entlud, sind es außerdem doch nur mehr die Chöre, die, von ihrer dramatischen Funktion abgesehen, der Dichtkunst als solcher den schuldigen Tribut zollen. In den Chören allein waltet die Poesie um ihrer selbst willen. Doch, freilich, was wir heute als poetisches Bild ansehen, also die gesammte Götterwelt Griechenlands, gerade dieses war dazumal weniger Bild denn Realität, u. wenn daher die Götterwelt, erst von uns selbst heute als Bild genommen, im dramatischen Gefüge doch nur wenig Bildhaftes sagt, ‒ man vergleiche dagegen die Bilderwelt eines Shakespeare, Goethe, Schiller! ‒ so ist ohne weiters zu verstehen, wenn ich sage, daß auch trotz den Chören der Ertrag an wirklicher Poesie ein allzu bescheidener ist. Dadurch erklärt sich denn auch, weshalb das Drama, von der materiellen Wirkung des grau- {130} samen Stoffes selbst abgesehen, keine große Wirkung mehr auszuüben vermag. So betrachtet stellt auch das Sophokleische Drama, trotz unleugbar meisterhafter Führung erst nur eine primitive Kunst (man denke z.B. an Palestrina) dar. Würde man dieses allgemein erkennen, so könnte man unschwer aus dem Widerspruch heraustreten, der darin besteht, daß man einerseits in Sophokles Drama eine letzte Unnachahmlichkeit in allem u. jedem zu sehen geneigt ist, andererseits aber dennoch auch die Wirkungslosigkeit zugeben muß. Bleibt doch wahre Vollendung für alle Zeiten wirkungsvoll! (Der Einwand des Oedipus gegen Theiresias?). (vergl. Jean Paul, „Vorschule der Aesthetik“ §21.) © Transcription Ian Bent, 2019 |
Ser. A,
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[in Jeanette Schenker's hand, with edits by Heinrich, final version only given here:] ⇧ May ? [c.10], 1911 Oedipus , in Reinhardt's Performance. 1 The myth is perhaps to be understood as the ultimate renunciation of incest, rather as the myth of Isaac's sacrifice is to be seen as the ultimate renunciation of human sacrifice. Whether at the same time the recognition of fate is expressed only as a secondary idea must remain an open question. At any rate, in the Oedipus myth, whatever else may also underlie it, incest has found its most hideous embodiment, amply sufficient to provide any deterrent. The dramatic technique (rather as is the case with Ibsen) is introduced here at the end in order to seek and to find the beginning only gradually. The uncovering of the primary ill-fated cause turns out to be technically extraordinarily effective. It is highly significant and showing great poetic understanding that the man within the king desires to get to the bottom of the guilt and not let go of it until it becomes ever clearer to him that he is himself the guilty party. Not so however Jocasta, who as a wife would prefer immediately to put a stop to all inquiry ("Come into the house") (cf. Hamlet's mother). {129} Apart from this objective technique, however, Sophocles' drama seems to me to suffer from a lack of any further poetic luxuriance, something which, however, is indispensable. But that is still only just to say what is the most essential, which admittedly in its own day nevertheless already must at the same time have afforded the greatest imaginable aesthetic joy, since drama at that time was still in its infancy and, in so doing, also succeeded in representing a thoroughly well-known myth; finally, the suggestion of a festival performance etc also played a happily productive role. With the exception of a very few sentences in the coining of which the poetic sense burst forth, it is otherwise really only the choruses that ‒ apart from their dramatic function ‒ pay due tribute to the art of poetry in its own right. Only in the choruses does poetry have free reign. But admittedly what we today regard as poetic metaphor ‒ thus the entire world of the Greek gods ‒ precisely this was in those days less metaphor than reality; and if, accordingly, the world of the gods, which we nowadays perceive as metaphor, says only little that, in the dramatic context, is metaphorical (compare, against that, the metaphorical world of a Shakespeare, Goethe or Schiller!) then it is clearly self-evident if I say that even despite the choruses, the benefit in real poetic terms is something all too modest. This clarifies why it is that the drama, leaving aside the element {{130} of cruelty itself, is no longer able to exert any great effect upon us. Seen from this point of view, even Sophocles's drama, despite its incontestably masterly thrust, presents ultimately only a primitive art form (think, for example, of Palestrina). Were this to be generally recognized, it would be possible easily to escape from the contradiction whereby on the one hand one is inclined to see in Sophocles's drama an ultimate inimitability in all its aspects, whereas on the other hand nevertheless one has to concede its inability to achieve its desired effect. True perfection however is effective for all times! (Oedipus's objection to Tiresias?) (cf. Jean Paul, Introduction to Aesthetics, §21.) © Translation Ian Bent, 2019 |
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[in Jeanette Schenker's hand, with edits by Heinrich, final version only given here:] ? [c.10] ⇧ Mai 1911 Oedipus, Reinhardtsche Aufführung. 1 Die Sage vielleicht als letzte Absage an die Blutschande aufzufassen, aehnlich, wie die Sage von Isaaks Opferung als die letzte Absage an Menschen-Opferung anzusehen ist. Ob daneben die Anerkennung der Moira erst nur als zweiter Gedanke zum Ausdruck kommt, bleibe darnach dahingestellt. Jedenfalls hat die Blutschande in der Oedipus-Sage, gleichviel was auch sonst noch mehr ihr zugrunde liegen mag, die gräßlichste Verkörperung gefunden, zu jeglicher Abschreckung wohl hinreichend. Die dramatische Technik (ähnlich wie bei Ibsen) setzt hier am Ende ein, um den Anfang erst allmä[h]lich zu suchen u. zu finden. Das Rückgewinnen der ersten, unseligen Ursache gestaltet sich technisch außerordentlich wirksam. Sehr bezeichnend u. von hoher dichterischer Erkenntnis: der Mann im König will die Schuld erforschen u. selbst auch noch dann, davon nicht lassen als ihm immer mehr u. mehr klar wird, daß er selbst der Schuldige; Nicht so aber Jokaste, die als Weib alles Forschen am liebsten sofort unterbinden möchte („Komm ins Haus“). (Hamlets Mutter im Vergleich) {129} Von dieser sachlichen Technik indessen abgesehen, scheint mir Sophokles’ Drama am Mangel eines jeglichen weiteren Luxus der Poesie, der aber unentbehrlich ist, zu leiden. Noch ist darin nur erst das Notwendigste gesagt, was freilich zu jener Zeit nichts destoweniger schon zugleich die denkbar größte aestetische Freude bereiten mußte, zumal das Drama damals noch jung gewesen, darin außerdem eine durchaus bekannte Sage zur Reproduktion gelangte, endlich auch die Suggestion des Festspiels u.s.w. eine glückliche fördernde Rolle spielte. Ausgenommen so einige wenige Sentenzen, in deren Prägung sich der dichterische Sinn entlud, sind es außerdem doch nur mehr die Chöre, die, von ihrer dramatischen Funktion abgesehen, der Dichtkunst als solcher den schuldigen Tribut zollen. In den Chören allein waltet die Poesie um ihrer selbst willen. Doch, freilich, was wir heute als poetisches Bild ansehen, also die gesammte Götterwelt Griechenlands, gerade dieses war dazumal weniger Bild denn Realität, u. wenn daher die Götterwelt, erst von uns selbst heute als Bild genommen, im dramatischen Gefüge doch nur wenig Bildhaftes sagt, ‒ man vergleiche dagegen die Bilderwelt eines Shakespeare, Goethe, Schiller! ‒ so ist ohne weiters zu verstehen, wenn ich sage, daß auch trotz den Chören der Ertrag an wirklicher Poesie ein allzu bescheidener ist. Dadurch erklärt sich denn auch, weshalb das Drama, von der materiellen Wirkung des grau- {130} samen Stoffes selbst abgesehen, keine große Wirkung mehr auszuüben vermag. So betrachtet stellt auch das Sophokleische Drama, trotz unleugbar meisterhafter Führung erst nur eine primitive Kunst (man denke z.B. an Palestrina) dar. Würde man dieses allgemein erkennen, so könnte man unschwer aus dem Widerspruch heraustreten, der darin besteht, daß man einerseits in Sophokles Drama eine letzte Unnachahmlichkeit in allem u. jedem zu sehen geneigt ist, andererseits aber dennoch auch die Wirkungslosigkeit zugeben muß. Bleibt doch wahre Vollendung für alle Zeiten wirkungsvoll! (Der Einwand des Oedipus gegen Theiresias?). (vergl. Jean Paul, „Vorschule der Aesthetik“ §21.) © Transcription Ian Bent, 2019 |
Ser. A,
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[in Jeanette Schenker's hand, with edits by Heinrich, final version only given here:] ⇧ May ? [c.10], 1911 Oedipus , in Reinhardt's Performance. 1 The myth is perhaps to be understood as the ultimate renunciation of incest, rather as the myth of Isaac's sacrifice is to be seen as the ultimate renunciation of human sacrifice. Whether at the same time the recognition of fate is expressed only as a secondary idea must remain an open question. At any rate, in the Oedipus myth, whatever else may also underlie it, incest has found its most hideous embodiment, amply sufficient to provide any deterrent. The dramatic technique (rather as is the case with Ibsen) is introduced here at the end in order to seek and to find the beginning only gradually. The uncovering of the primary ill-fated cause turns out to be technically extraordinarily effective. It is highly significant and showing great poetic understanding that the man within the king desires to get to the bottom of the guilt and not let go of it until it becomes ever clearer to him that he is himself the guilty party. Not so however Jocasta, who as a wife would prefer immediately to put a stop to all inquiry ("Come into the house") (cf. Hamlet's mother). {129} Apart from this objective technique, however, Sophocles' drama seems to me to suffer from a lack of any further poetic luxuriance, something which, however, is indispensable. But that is still only just to say what is the most essential, which admittedly in its own day nevertheless already must at the same time have afforded the greatest imaginable aesthetic joy, since drama at that time was still in its infancy and, in so doing, also succeeded in representing a thoroughly well-known myth; finally, the suggestion of a festival performance etc also played a happily productive role. With the exception of a very few sentences in the coining of which the poetic sense burst forth, it is otherwise really only the choruses that ‒ apart from their dramatic function ‒ pay due tribute to the art of poetry in its own right. Only in the choruses does poetry have free reign. But admittedly what we today regard as poetic metaphor ‒ thus the entire world of the Greek gods ‒ precisely this was in those days less metaphor than reality; and if, accordingly, the world of the gods, which we nowadays perceive as metaphor, says only little that, in the dramatic context, is metaphorical (compare, against that, the metaphorical world of a Shakespeare, Goethe or Schiller!) then it is clearly self-evident if I say that even despite the choruses, the benefit in real poetic terms is something all too modest. This clarifies why it is that the drama, leaving aside the element {{130} of cruelty itself, is no longer able to exert any great effect upon us. Seen from this point of view, even Sophocles's drama, despite its incontestably masterly thrust, presents ultimately only a primitive art form (think, for example, of Palestrina). Were this to be generally recognized, it would be possible easily to escape from the contradiction whereby on the one hand one is inclined to see in Sophocles's drama an ultimate inimitability in all its aspects, whereas on the other hand nevertheless one has to concede its inability to achieve its desired effect. True perfection however is effective for all times! (Oedipus's objection to Tiresias?) (cf. Jean Paul, Introduction to Aesthetics, §21.) © Translation Ian Bent, 2019 |
Footnotes1 Performances of Sophocles' Oedipus Rex by the Berlin German Theater under the direction of Max Reinhardt, with "monumental decorations" by Alfred Roller, and in a translation by Hugo von Hofmannsthal, took place in the Busch Circus building (a large circular edifice with oriental entranceway, topped by a dome) in the Leopoldstadt, at 8 p.m. on May 5‒12 with Alexander Moissi as Oedipus, Else Heims as Jocasta, Eduard von Winterstein as Creon, and Reinhardt himself as Tiresias. The drama was performed without intermission. (The Busch Circus building, erected in 1892, burned down in 1945.) The performances were announced in the May 4 and 5 issues of the Neue freie Presse , and a description and review appeared in the May 6 issue, p. 12, an article by Reinhardt entitled "Meine Inszenierung des „König Oedipus“" in the May 7 issue, p. 14, and further reference in the issue for May 10. — Despite the heading of Schenker's essay, it is unclear whether this is a response to Reinhardt's production, a reaction to his article, or simply Schenker's own thoughts about the play. |