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Ser. A, {169}
10. September.

Donnerstag, den 31. August verließen wir Sulden u. traten die Heimreise an. Nachdem des morgens Gewitter die Luft abermals gereinigt hatten wir bei angenehmster Temperatur schöne Fahrt im offenen Wagen. Unterhalb Gomagoi, 1 an der Stelle, wo der Bach 3 klm. Straße zerstört hat, gab es einen besonderen Anblick: Kleine Kinder, Buben u. Mädchen, Halberwachsene, Erwachsenen u. Greise standen mit Körben, sogenannten Kraxen bereit, den Reisenden ihr Gepäck abzunehmen, um es auf einem Umweg über den Berg weiter zu befördern. In den ersten Tagen nach der Katastrophe waren die Bauern rasch dabei, die Not der Reisenden auf unerhörteste Art zu bewuchern; nun hat die Behörde dem Raubliergelüste Einhalt geboten u. um mäßigen Lohn leisteten sie die nötigen Dienste. Von Spondinig 2 gieng es per Bahn nach Bozen. Nach langem Fernhalten von den Menschen brachte uns das erste Zusammentreffen mit den alltäglichsten, in ihrer Unzulänglichkeit unerschöpflichen Typen in Berührung. Da näherte sich einer, der seine Reisen förmlich nach Art u. Wunsch ihm völlig fremder Menschen sozusagen extemporierte u. gegenüber dem Schönsten u. Erhabensten der Natur es an Begeisterung nicht weiter brachte, als bis zu den Worten: „Ich freu’ mich d’rauf“, die seinen Lippen fast nur zu entschlüpfen schienen, als wäre er schlafend.

Am nächsten Morgen [September 1] fuhren wir nach Klobenstein, 3 von wo wir besonders den Rosengarten samt Schlern 4 in plastischester Form sehen konnten. Die Fülle der Bilder machte, zumal bei schönster Luft, einen unvergeßlichen Eindruck u. bot nur zu deutlich einen willkommenen Kontrast zur Enge des Suldentals, das wir soeben verlassen. — Die Erdpyramiden 5 hinter Klobenstein machen den Eindruck einer Capriole der Natur, wor- {170} über man sonst zu lachen geneigt wäre, wenn nicht dahinter eben dieselben Gesetze stunden, die seit Ewigkeiten die Welt schaffen u. zerstören.

Noch am Nachmittag des selben Tages fuhren wir, durch den Genuß des Vormittags eher erfrischt als abgespannt, auf den Mendelpaß. Von besonderem Zauber sind hier die Schlösser, die als gleichsam in Vergessenheit geratenen Petschafte aller Adelsgeschlechter in die ewig vorwärts lebende Natur Züge einer längst verrauschten Geschichte gewoben, die zu schön war, um ganz sterben zu können. Seither wurde die Erde freilich gerechter aufgeteilt, nur bekommt der Menschheit diese Gerechtigkeit sehr schlecht. Wo ehemals blos der eine Raubritter plünderte, raubrittern heute an die tausend Zwischenhändler.—

Der Blick vom Mendelpaß bietet kaum viel Ergänzung zu dem vom Klobenstein aus Gesehenen; desto überraschender war das Schauspiel eines Alpenglühen, wie wir es in solcher Intensität noch nie u. nirgends gesehen haben.

Den Eingang zur Pfarrkirche in Bozen flankieren zwei Löwen, die auf ihrem Rücken Säulen tragen, doch so, daß die letzteren des eigenen Sockels gleichwohl nicht entbehren; ein sehr possierlicher Kunstscherz, der aber ernstlich zu bedenken gibt, daß nicht alles alte, blos weil es alt ist, wirklich ernst zu nehmen sei. Offenbar ist das ein Lapsus eines völlig ungeschulten, primitiven Plastikers, der auf eine sonderbare Weise neben Besseren zu Worte gekommen.

Gegen abend des nächsten Tages [September 2?] fuhren wir nach Wien. Hier wurde sofort Wohnung gesucht u. gefunden 6 u. die abgelaufene Saison zur letzten Liquidierung gebracht. —

© Transcription Ian Bent, 2019

Ser. A, {169}
September 10

On Thursday August 31 we left Sulden and began our homeward journey. The air having again been cleared by the morning thunderstorm, we had a delightful journey in the open carriage in the most pleasant temperature. Below Gomagoi, 1 at the place where the brook had destroyed three kilometers of road, was a remarkable sight: small children, babies and girls, youths, grown-ups and old men stood with baskets (so-called "Kraxen") ready to unload the travellers' luggage to transport it by a diversion over the mountain. In the first few days after the catastrophe, the peasants were quick off the mark to exploit the needs of the travellers in the most outrageous way. Now the authorities have put a stop to their avaricious appetites, and they provided the necessary services at a modest price. The journey continued by rail from Spondinig 2 to Bozen. After we had kept aloof from people [around us], our first encounter brought us into contact with the most common types, tireless in their inadequacy. Then a man approached [us] who so to speak gave an improvised account of his travels verily on demand to people who were to him total strangers, and in the face of the most beautiful and sublime sights in Nature could not raise his enthusiasm beyond the words "I enjoy it", which seemed almost to slip out of his mouth as if he were asleep.

Next morning [September 1] we journeyed to Klobenstein, 3 from where we could see especially the Rosengarten with Schlern 4 in its most three-dimensional form. The solidity of the images, especially in the purest air, made an unforgettable impression, and offered all too plainly a welcome contrast with the narrowness of the Sulden Valley, which we had just left behind. — The earth pyramids 5 behind Klobenstein struck us as a caprice of Nature at which {170} we would have been inclined to laugh were it not that what gave rise to them were the very laws that have created and destroyed the world since time immemorial.

In the afternoon of the same day we travelled over the Mendel Pass, refreshed rather than fatigued thanks to the delights of the morning. Particularly magical here are the castles which, so to speak, as emblems of aristocratic lineages long passed into oblivion, have become woven into the eternally-proliferating fabric of Nature ‒ features of a history long lost sight of, but which was too beautiful to have perished altogether. Since then, the earth has of course been more justly apportioned, except that this justice accords with mankind very badly. Where in the old days it was only robber barons who plundered, today mercenary middlemen in their thousands commit daylight robbery.—

The view from the Mendel Pass adds hardly anything more to what we have already seen on the way from Klobenstein. All the more surprising was the sight of an alpine glow such as we have at no time and nowhere else experienced in such intensity.

Two lions flank the entry to the parish church in Bozen. On their backs they carry pillars, but in such a way that the latter have not forgone their plinths ‒ a very droll artistic jest which, however, reminds us in all seriousness that not every old thing, merely because it is old, is to be taken wholly seriously. Clearly it is a lapse on the part of a totally untrained, primitive sculptor who in a curious way has found a voice alongside better artists.

In the evening of the next day [September 2?] we travel to Vienna. Here an apartment was promptly sought, and found 6 and the past teaching year finally put to rest.—

© Translation Ian Bent, 2019

Ser. A, {169}
10. September.

Donnerstag, den 31. August verließen wir Sulden u. traten die Heimreise an. Nachdem des morgens Gewitter die Luft abermals gereinigt hatten wir bei angenehmster Temperatur schöne Fahrt im offenen Wagen. Unterhalb Gomagoi, 1 an der Stelle, wo der Bach 3 klm. Straße zerstört hat, gab es einen besonderen Anblick: Kleine Kinder, Buben u. Mädchen, Halberwachsene, Erwachsenen u. Greise standen mit Körben, sogenannten Kraxen bereit, den Reisenden ihr Gepäck abzunehmen, um es auf einem Umweg über den Berg weiter zu befördern. In den ersten Tagen nach der Katastrophe waren die Bauern rasch dabei, die Not der Reisenden auf unerhörteste Art zu bewuchern; nun hat die Behörde dem Raubliergelüste Einhalt geboten u. um mäßigen Lohn leisteten sie die nötigen Dienste. Von Spondinig 2 gieng es per Bahn nach Bozen. Nach langem Fernhalten von den Menschen brachte uns das erste Zusammentreffen mit den alltäglichsten, in ihrer Unzulänglichkeit unerschöpflichen Typen in Berührung. Da näherte sich einer, der seine Reisen förmlich nach Art u. Wunsch ihm völlig fremder Menschen sozusagen extemporierte u. gegenüber dem Schönsten u. Erhabensten der Natur es an Begeisterung nicht weiter brachte, als bis zu den Worten: „Ich freu’ mich d’rauf“, die seinen Lippen fast nur zu entschlüpfen schienen, als wäre er schlafend.

Am nächsten Morgen [September 1] fuhren wir nach Klobenstein, 3 von wo wir besonders den Rosengarten samt Schlern 4 in plastischester Form sehen konnten. Die Fülle der Bilder machte, zumal bei schönster Luft, einen unvergeßlichen Eindruck u. bot nur zu deutlich einen willkommenen Kontrast zur Enge des Suldentals, das wir soeben verlassen. — Die Erdpyramiden 5 hinter Klobenstein machen den Eindruck einer Capriole der Natur, wor- {170} über man sonst zu lachen geneigt wäre, wenn nicht dahinter eben dieselben Gesetze stunden, die seit Ewigkeiten die Welt schaffen u. zerstören.

Noch am Nachmittag des selben Tages fuhren wir, durch den Genuß des Vormittags eher erfrischt als abgespannt, auf den Mendelpaß. Von besonderem Zauber sind hier die Schlösser, die als gleichsam in Vergessenheit geratenen Petschafte aller Adelsgeschlechter in die ewig vorwärts lebende Natur Züge einer längst verrauschten Geschichte gewoben, die zu schön war, um ganz sterben zu können. Seither wurde die Erde freilich gerechter aufgeteilt, nur bekommt der Menschheit diese Gerechtigkeit sehr schlecht. Wo ehemals blos der eine Raubritter plünderte, raubrittern heute an die tausend Zwischenhändler.—

Der Blick vom Mendelpaß bietet kaum viel Ergänzung zu dem vom Klobenstein aus Gesehenen; desto überraschender war das Schauspiel eines Alpenglühen, wie wir es in solcher Intensität noch nie u. nirgends gesehen haben.

Den Eingang zur Pfarrkirche in Bozen flankieren zwei Löwen, die auf ihrem Rücken Säulen tragen, doch so, daß die letzteren des eigenen Sockels gleichwohl nicht entbehren; ein sehr possierlicher Kunstscherz, der aber ernstlich zu bedenken gibt, daß nicht alles alte, blos weil es alt ist, wirklich ernst zu nehmen sei. Offenbar ist das ein Lapsus eines völlig ungeschulten, primitiven Plastikers, der auf eine sonderbare Weise neben Besseren zu Worte gekommen.

Gegen abend des nächsten Tages [September 2?] fuhren wir nach Wien. Hier wurde sofort Wohnung gesucht u. gefunden 6 u. die abgelaufene Saison zur letzten Liquidierung gebracht. —

© Transcription Ian Bent, 2019

Ser. A, {169}
September 10

On Thursday August 31 we left Sulden and began our homeward journey. The air having again been cleared by the morning thunderstorm, we had a delightful journey in the open carriage in the most pleasant temperature. Below Gomagoi, 1 at the place where the brook had destroyed three kilometers of road, was a remarkable sight: small children, babies and girls, youths, grown-ups and old men stood with baskets (so-called "Kraxen") ready to unload the travellers' luggage to transport it by a diversion over the mountain. In the first few days after the catastrophe, the peasants were quick off the mark to exploit the needs of the travellers in the most outrageous way. Now the authorities have put a stop to their avaricious appetites, and they provided the necessary services at a modest price. The journey continued by rail from Spondinig 2 to Bozen. After we had kept aloof from people [around us], our first encounter brought us into contact with the most common types, tireless in their inadequacy. Then a man approached [us] who so to speak gave an improvised account of his travels verily on demand to people who were to him total strangers, and in the face of the most beautiful and sublime sights in Nature could not raise his enthusiasm beyond the words "I enjoy it", which seemed almost to slip out of his mouth as if he were asleep.

Next morning [September 1] we journeyed to Klobenstein, 3 from where we could see especially the Rosengarten with Schlern 4 in its most three-dimensional form. The solidity of the images, especially in the purest air, made an unforgettable impression, and offered all too plainly a welcome contrast with the narrowness of the Sulden Valley, which we had just left behind. — The earth pyramids 5 behind Klobenstein struck us as a caprice of Nature at which {170} we would have been inclined to laugh were it not that what gave rise to them were the very laws that have created and destroyed the world since time immemorial.

In the afternoon of the same day we travelled over the Mendel Pass, refreshed rather than fatigued thanks to the delights of the morning. Particularly magical here are the castles which, so to speak, as emblems of aristocratic lineages long passed into oblivion, have become woven into the eternally-proliferating fabric of Nature ‒ features of a history long lost sight of, but which was too beautiful to have perished altogether. Since then, the earth has of course been more justly apportioned, except that this justice accords with mankind very badly. Where in the old days it was only robber barons who plundered, today mercenary middlemen in their thousands commit daylight robbery.—

The view from the Mendel Pass adds hardly anything more to what we have already seen on the way from Klobenstein. All the more surprising was the sight of an alpine glow such as we have at no time and nowhere else experienced in such intensity.

Two lions flank the entry to the parish church in Bozen. On their backs they carry pillars, but in such a way that the latter have not forgone their plinths ‒ a very droll artistic jest which, however, reminds us in all seriousness that not every old thing, merely because it is old, is to be taken wholly seriously. Clearly it is a lapse on the part of a totally untrained, primitive sculptor who in a curious way has found a voice alongside better artists.

In the evening of the next day [September 2?] we travel to Vienna. Here an apartment was promptly sought, and found 6 and the past teaching year finally put to rest.—

© Translation Ian Bent, 2019

Footnotes

1 Gomagoi: village (1,275m) 11km (6½ miles) north-northwest of Sulden. It lies in the Trafoi Valley at the point where the Sulden Valley branches off to the south-southeast toward Sulden.

2 Spondinig: village c. 8 km (= 5 miles) north-northeast of Gomagoi, and 60 km (= 37 miles) west-northwest of Bozen (Bolzano) (77 km = 48 miles by road).

3 Klobenstein: village 9 km (= 5½ miles) northeast of Bozen (Bolzano) (15 km. = 9 miles by road).

4 Rosengarten (2,981m): mountain in the Rosengartengruppe (range); Schlern (2,563m): mountain in the Schlerngruppe. Together the two ranges form the Schlern-Rosengarten-Gruppe, part of the Dolomites, east of Bozen (Bolzano), straddling the South Tyrol and Trentino. Since 1974 they form the Schlern-Rosengarten Nature Reserve.

5 Erdpyramiden: 2 km (= 1¼ miles) north of Klobenstein. Earth pyramids are natural phonemona particular to the South Tyrol. Formed usually from continuous alternation of periods of torrential rain and drought, they usually occur after a landslide (the original name, Lahntürme, means literally landslide towers). Those of Klobenstein constitute one of three distinct groups on Ritten, a plateau above Bozen (Bolzano). For more information and pictures, see "Earth Pyramids of Ritten," wikipedia .

6 The search for an apartment for Jeanette, and the arrangements for the duration of that search, are illuminated by two letters from Heinrich Schenker and Jeanette Kornfeld to Moriz Violin: OJ 6/5, [1] and OJ 6/5, [2], August 18 and 26, 1911. Further, OJ 8/1, [9], September 8, 1911, indicates that the initial apartment was in Reisnerstraße 27, but that after some kind of incident she quickly moved to Jaquingasse 1, 1st floor, apartment 8.