30. Sept. 1912

An Vrieslander: (Auszug) Die Länge scheint Verdacht erw aeckt zu haben; [illeg]haben Sie zwischen den Zeilen gelesen, daß 1. 650 fl; 2. im Laufe der Saison 800 fl, in infinitum Raten von 100 fl da der Process nicht zuende; 3. einem Herrn monatlich einiges; 4. Mama u. Fr. [illeg]Kornfeld . Ich besitze wenig Gabe, Mitleid auf meine Situation zu lenken, außerdem fand sich niemand, der Hilfe geschenkt hätte, auch wenn er wüßte. Daher verpflichtete reiche Häuser aufgegeben: „Die wahren Bettler sind die reichen.“ Lehne auch die ehrenvollere Fassung des Egoismus ab; Familie erhalten u. versorgt. Vor 2 Jahren bei Korrekturen der IX. Symph.; vereine also alle Pflichten, so lange die Kräfte reichen. Brief der K Colbert vom 23. August. Schüler frage ich prinzipiell nicht an, ob sie kommen. Entschied mich für sie, weil der Mann in Kenntnis gesetzt wurde u. 3. Instanz. 1 Soll ich auf Einnahme verzichten? Außerdem Unsicherheit bezgl. der fremden Hilfe u. des Kommens. Kein [illeg]Widerspruch zwischen machen wollen u. nicht können. Erklärung meines Unterrichtssystems im Gegensatz zum üblichen teuereren [sic]; von meinen Schülern, die ich zur Nobless zwingen muss; sie nehmen, geben aber nicht. Ohren kcommunizieren nicht mit dem Geldbeutel. […] 2 mit Hertzka in der Gesellschaft der Musikfreunde.

*

Psychologie Vrieslanders: Absehen von den deutlich angeführten entscheidenden Gründen u. das Hervorheben derjenigen, die ihm scheinbar möglich machen, mich ins Unrecht zu setzen; Nachteil gegenüber jeder Person, der man nicht die letzte Wahrheit sagen kann u. die daraus den Vorteil zieht, unverschämt aufzutreten. Die Aussprache der Wahrheit müßte zu einer Beleidigung führen; will man diese nicht verüben, weil’s überflüssig ist, so ladet man auf sich den Schein des Unrechtes. Außerdem wissen nichtrechtschaffene Personen im Augenblick, da sie auf einem Zug der Unrechtschaffenheit erwischt werden, so wundersam ehrlich aufzutreten, daß sie auch mit dieser posirten Ehrlichkeit einen {244} neuen Betrug verüben. – Suggestibilität nicht genug widerstandsfähiger Nerven gegenüber solchen unausbleiblichen Anwandlungen.
Zwischen den Zeilen lesen, aber nur sich gelesen. Angeblicher Wiederspruch [sic] zwischen dem Wunsch unentgeltlich zu unterrichten u. dem Einbekenntnis, daß die Ausführung unmöglich sei. Als ob dann nicht ebenso ein Wiederspruch [sic] wäre zwischen dem eingestandenen Wunsch ein Honorar zu entrichten u. der Unmöglichkeit es zu tun.

*

Es liegt im Plane der Natur, alle Vorbereitungen zu einer Pointe oder zu einem Act in längerer Dauer einzufordern, als 3 es die Dauer der Pointe selbst ist. Wie lange streben z. B. Liebende zu einander u. wie kurz ist dagegen der Geschlechtsact! (Wäre es umgekehrt, hätten die Eheleute vor lauter Geschlechtsacten keine Zeit zu Zwistigkeiten!) Wie lange bereitet ein Künstler sein Werk vor u., doch, an den langen Mühen gemessen, wie bündig nimmt sich das Werk dann aus! Wie lange mag der Schöpfer das Chaos gebraut haben, bis er den Sonnenball erstehen ließ?

© Transcription Marko Deisinger.

September 30, 1912.

To Vrieslander: (extract) the length [of Vrieslander’s article] appears to have awakened suspicion. Have you read between the lines, that 1) 650 florins; 2) in the course of the teaching year 800 florins, in infinite installments of 100 florins, since the process has not yet been concluded; 3) a certain amount to a gentleman each month; 4) Mama and Mrs. [illeg]Kornfeld ? I have little talent for steering sympathy towards my cause. Moreover, there is no one who would have given me help even if he knew to. Therefore, [patronage from] obligated, wealthy houses has been abandoned: "The real beggars are the rich." Desist even from the more honorable composure of egoism; maintain and take care of the family. Two years ago, corrections to Beethoven’s Ninth Symphony ; combine all duties, then, so long as your energy is sufficient. Letter from Mrs. Colbert of August 23. As a matter of principle, I shall not inquire of pupils as to whether they will come. I decided in her favor because her husband was informed, and it was the third time around. 1 Should I forgo income? In addition, uncertainty with respect to help from outsiders and the future. No contradiction between wishing to do, and not being able to do. Explanation of my method of teaching in contrast to the usual, more expensive ones; concerning my pupils, whom I must compel to act nobly; they take but do not give. Ears do not communicate with a purse of money. […] 2 With Hertzka in the Society of the Friends of Music.

*

Vrieslander’s psychology: disregard of the clearly indicated, crucial reasons, and the emphasis of those which apparently enable him to cast me in a bad light; disfavor with respect to every person about whom he cannot speak the ultimate truth, and who takes advantage of this by behaving impertinently. The expression of the truth would have to lead to an insult; if he does not wish to communicate this because it is unnecessary, then he is burdened by the appearance of being in the wrong. Moreover, persons who do not behave with honor, at the moment in which they are caught in the act of dishonorable behavior, are able to appear so wondrously honest that even with this postured honesty they create a fresh deception. {244} Suggestibility of insufficiently resilient nerves with respect to such inevitable moods.
Reading between the lines, but reading only for himself. Apparent contradiction between the desire to teach without being paid, and the admission that this practice is impossible. As if, then, there were not likewise a contradiction between his acknowledged wish to pay a lesson fee, and his inability to do so.

*

It is in Nature’s plans that all preparations for a confrontation or deed demand a greater amount of time than 3 the confrontation itself. For how long, for example, do lovers strive together and how short, on the other hand, is the sexual act! (Were it the other way round, then so much sexual activity would leave married couples no time for arguments!) How long does an artist prepare his work, and yet, when measured against his long labors, how quickly does the work then exhaust itself! How much time may our Creator have spent brewing chaos before allowing the sun to rise?

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© Translation William Drabkin.

30. Sept. 1912

An Vrieslander: (Auszug) Die Länge scheint Verdacht erw aeckt zu haben; [illeg]haben Sie zwischen den Zeilen gelesen, daß 1. 650 fl; 2. im Laufe der Saison 800 fl, in infinitum Raten von 100 fl da der Process nicht zuende; 3. einem Herrn monatlich einiges; 4. Mama u. Fr. [illeg]Kornfeld . Ich besitze wenig Gabe, Mitleid auf meine Situation zu lenken, außerdem fand sich niemand, der Hilfe geschenkt hätte, auch wenn er wüßte. Daher verpflichtete reiche Häuser aufgegeben: „Die wahren Bettler sind die reichen.“ Lehne auch die ehrenvollere Fassung des Egoismus ab; Familie erhalten u. versorgt. Vor 2 Jahren bei Korrekturen der IX. Symph.; vereine also alle Pflichten, so lange die Kräfte reichen. Brief der K Colbert vom 23. August. Schüler frage ich prinzipiell nicht an, ob sie kommen. Entschied mich für sie, weil der Mann in Kenntnis gesetzt wurde u. 3. Instanz. 1 Soll ich auf Einnahme verzichten? Außerdem Unsicherheit bezgl. der fremden Hilfe u. des Kommens. Kein [illeg]Widerspruch zwischen machen wollen u. nicht können. Erklärung meines Unterrichtssystems im Gegensatz zum üblichen teuereren [sic]; von meinen Schülern, die ich zur Nobless zwingen muss; sie nehmen, geben aber nicht. Ohren kcommunizieren nicht mit dem Geldbeutel. […] 2 mit Hertzka in der Gesellschaft der Musikfreunde.

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Psychologie Vrieslanders: Absehen von den deutlich angeführten entscheidenden Gründen u. das Hervorheben derjenigen, die ihm scheinbar möglich machen, mich ins Unrecht zu setzen; Nachteil gegenüber jeder Person, der man nicht die letzte Wahrheit sagen kann u. die daraus den Vorteil zieht, unverschämt aufzutreten. Die Aussprache der Wahrheit müßte zu einer Beleidigung führen; will man diese nicht verüben, weil’s überflüssig ist, so ladet man auf sich den Schein des Unrechtes. Außerdem wissen nichtrechtschaffene Personen im Augenblick, da sie auf einem Zug der Unrechtschaffenheit erwischt werden, so wundersam ehrlich aufzutreten, daß sie auch mit dieser posirten Ehrlichkeit einen {244} neuen Betrug verüben. – Suggestibilität nicht genug widerstandsfähiger Nerven gegenüber solchen unausbleiblichen Anwandlungen.
Zwischen den Zeilen lesen, aber nur sich gelesen. Angeblicher Wiederspruch [sic] zwischen dem Wunsch unentgeltlich zu unterrichten u. dem Einbekenntnis, daß die Ausführung unmöglich sei. Als ob dann nicht ebenso ein Wiederspruch [sic] wäre zwischen dem eingestandenen Wunsch ein Honorar zu entrichten u. der Unmöglichkeit es zu tun.

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Es liegt im Plane der Natur, alle Vorbereitungen zu einer Pointe oder zu einem Act in längerer Dauer einzufordern, als 3 es die Dauer der Pointe selbst ist. Wie lange streben z. B. Liebende zu einander u. wie kurz ist dagegen der Geschlechtsact! (Wäre es umgekehrt, hätten die Eheleute vor lauter Geschlechtsacten keine Zeit zu Zwistigkeiten!) Wie lange bereitet ein Künstler sein Werk vor u., doch, an den langen Mühen gemessen, wie bündig nimmt sich das Werk dann aus! Wie lange mag der Schöpfer das Chaos gebraut haben, bis er den Sonnenball erstehen ließ?

© Transcription Marko Deisinger.

September 30, 1912.

To Vrieslander: (extract) the length [of Vrieslander’s article] appears to have awakened suspicion. Have you read between the lines, that 1) 650 florins; 2) in the course of the teaching year 800 florins, in infinite installments of 100 florins, since the process has not yet been concluded; 3) a certain amount to a gentleman each month; 4) Mama and Mrs. [illeg]Kornfeld ? I have little talent for steering sympathy towards my cause. Moreover, there is no one who would have given me help even if he knew to. Therefore, [patronage from] obligated, wealthy houses has been abandoned: "The real beggars are the rich." Desist even from the more honorable composure of egoism; maintain and take care of the family. Two years ago, corrections to Beethoven’s Ninth Symphony ; combine all duties, then, so long as your energy is sufficient. Letter from Mrs. Colbert of August 23. As a matter of principle, I shall not inquire of pupils as to whether they will come. I decided in her favor because her husband was informed, and it was the third time around. 1 Should I forgo income? In addition, uncertainty with respect to help from outsiders and the future. No contradiction between wishing to do, and not being able to do. Explanation of my method of teaching in contrast to the usual, more expensive ones; concerning my pupils, whom I must compel to act nobly; they take but do not give. Ears do not communicate with a purse of money. […] 2 With Hertzka in the Society of the Friends of Music.

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Vrieslander’s psychology: disregard of the clearly indicated, crucial reasons, and the emphasis of those which apparently enable him to cast me in a bad light; disfavor with respect to every person about whom he cannot speak the ultimate truth, and who takes advantage of this by behaving impertinently. The expression of the truth would have to lead to an insult; if he does not wish to communicate this because it is unnecessary, then he is burdened by the appearance of being in the wrong. Moreover, persons who do not behave with honor, at the moment in which they are caught in the act of dishonorable behavior, are able to appear so wondrously honest that even with this postured honesty they create a fresh deception. {244} Suggestibility of insufficiently resilient nerves with respect to such inevitable moods.
Reading between the lines, but reading only for himself. Apparent contradiction between the desire to teach without being paid, and the admission that this practice is impossible. As if, then, there were not likewise a contradiction between his acknowledged wish to pay a lesson fee, and his inability to do so.

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It is in Nature’s plans that all preparations for a confrontation or deed demand a greater amount of time than 3 the confrontation itself. For how long, for example, do lovers strive together and how short, on the other hand, is the sexual act! (Were it the other way round, then so much sexual activity would leave married couples no time for arguments!) How long does an artist prepare his work, and yet, when measured against his long labors, how quickly does the work then exhaust itself! How much time may our Creator have spent brewing chaos before allowing the sun to rise?

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 These remarks probably relate to Mrs. Colbert’s (repeated) cancelling of lessons without paying for them. Schenker agreed to take her back as a pupil because her husband interceded. The "3. Instanz" is a legal term, used here metaphorically. In a second diary entry for September 30, Schenker comments on a newspaper article written by Mr. Colbert (under a pseudonym) on the very subject of payment for missed music lessons.

2 Space left blank, apparently for the purpose of adding a word at a later stage.

3 A question-mark above "als."