28.
Früher als sonst zum Zahnarzt, um die Unterredung mit Botstiber absolvieren zu können. Indessen begeht der Zahnarzt die Inkorrektheit, mich warten zu lassen, obwohl ich als erster erschienen u. als erster mich seit Beginn der Behandlung angemeldet habe. So war ich in Hast genötigt, per Wagen in die Lothringer-Straße zu fahren. Aber auch die Suche nach einem Wagen hatte echt wienerische Momente: Von 3 Kutschern des Standplatzes war keiner anwesend, wohl aber alle drei beim „Frühstück“; auf dem gegenüberliegenden Standplatz war kein Wagen anzutreffen u. als wir nun zum ersten Standplatz zurückkehrten, finden wir einen Kutscher, gemütlich in die Frankfurter beißend, vor. – Als hätte Wien alle seine Nuançen in einem Regenbogen aufzeigen wollen, mußte ich in der Kanzlei eine halbe Stunde warten bis Dr. Botstiber erschien u. vor meinen Augen wurde die Post von gestern gebracht u. ich konnte mich selbst davon überzeugen, daß mein Brief, der in denselben den selben Bezirk gieng, erst mit der 2. Post ankam, trotzdem ich ihn einen Tag vorher aufgegeben. – Alle diese Erlebnisse brachten eine starke Hast mit sich, die mich aber nicht hinderte, die Unterredung (die Uhr auf dem Tisch vor mir liegend!) sachlich u. ruhig zu führen. Es gieng, wie ich schon erwartet habe, um Vorlesungen u. zw. über Beethoven Klaviersonaten. „Unverbindlich“ meinte der Secretair, daß die Gesellschaft nicht daran denke, Geld damit machen zu wollen u. es mir überlasse, die Vorlesungen so auszugestalten, wie ich es für notwendig finde. Auf meine Bemerkung, daß ich nicht gerne in einer mir unbekannten Gesellschaft von Vortragenden in die Oeffentlichkeit treten möchte, meinte der Secretair, es kämen höchstens nur Dr. Graf u. Dr. Wellesz in Frage. Die Anregung bezeichnete er als von Dr. Graf kommend, äußerte sich aber im Laufe des Gespräches einmal auch dahin, daß er im Grunde schon seit langem darnach gestrebt habe, eine Beziehung zu mir anzuknüpfen. Eine andere Wendung des Secretairs vom „kollossalen [sic] Erfolg“ meiner Beethoven-Ausgaben läßt mich schließen, daß er oder die Gesellschaft diese günstige Conjunktur gerne mit Gewinn ausnützen möchten. Der Umstand {581} aber, daß Dr. Graf mit einer ausdrücklichen „Anregung“ beteiligt sein soll, bringt mich auf den Gedanken, daß möglicherweise Dr. Graf in seinem übermäßigen Ehrgeiz gerne öffentlich lesen würde, wozu ihm meine Mitwirkung als willkommene Folie dienen würde. – Ich habe meine Vorschläge mir brieflich vorbehalten, nachdem ich einige Andeutungen betreffs der Gesichtspunkte gemacht habe, die mich bei der Bemessung des Honorares leiten werden. *Frau Colbert erzählt ihr Mißgeschick mit dem Sohn. In der Tat ist ein solches Erlebnis nur einer Elementar-Katastrophe vergleichbar. Die Natur freilich zog nur ihre Konsequenz aus der Unfähigkeit der Eltern, dem Kinde in der kritischen Pubertätszeit mit Nachdruck u. Zwang zu helfen. *Abends Fl. u. Frau bei Lie-Liechen. *
© Transcription Marko Deisinger. |
28.
Earlier than usual to the dentist, so that I would be in time for my discussion with Botstiber. Meanwhile the dentist does me the disservice of making me wait, although I was the first to appear and, being the first, had announced myself at the beginning of the treatment. Thus I was compelled in my haste to take a carriage to Lothringerstraße. But even the search for a carriage had genuinely Viennese characterstics: not one of the three drivers at the carriage stand was present, all three were at "breakfast"; at the carriage stand opposite, there was no carriage to be found, and when we went back to the first stand we found a driver unhurriedly taking a bite of his frankfurter. – As if Vienna wished to display all its nuances in a rainbow, I had to wait in the chancelry for half an hour before Dr. Botstiber appeared, and in front of my eyes yesterday's mail was brought and I could see for myself that my letter, which went to the same district of the city, arrived only with the second delivery despite my having mailed it the day before. – All these experiences contributed to a severe hurriedness, which did not, however, prevent me from conducting the meeting (the clock lying on the desk before me!) calmly and objectively. It was, as I already expected, a request for lectures, and indeed about the piano sonatas of Beethoven. "No obligation": the secretary said that the Society was not thinking of wanting to monetize it, and will leave it up to me to design the lectures as I see fit. To my remark, that I would not really wish to step into the public arena in the company of speakers who are unknown to me, the secretary replied that, at most, only Dr. Graf and Dr. Wellesz would be there. He said that the encouragement came from Dr. Graf, but in the course of the conversation he also spoke out once to the effect that in principle he had been striving for a long time to forge a link with me. Another phrase used by the secretary about the "colossal success" of my Beethoven editions led me to conclude that he, or the Society, wished to exploit this favorable conjuncture for profit. The circumstance, {581} however, that Dr. Graf should have taken part with an express "encouragement" makes me think that perhaps Dr. Graf would, given his excessive ambition, gladly read in public, to which my collaboration would serve as a welcome backdrop. – I reserved my suggestions in a letter after I formulated some ideas concerning the points of view that will guide me in the calculation of my honorarium. *Mrs. Colbert recounts her mishap with her son. In fact, such an experience is only comparable to an elementary catastrophe. Nature, admittedly, merely fulfilled the consequences of the parents' inability to help the child during the critical period of puberty with emphasis and coercion. *In the evening, Floriz and his wife at Lie-Liechen's. *
© Translation William Drabkin. |
28.
Früher als sonst zum Zahnarzt, um die Unterredung mit Botstiber absolvieren zu können. Indessen begeht der Zahnarzt die Inkorrektheit, mich warten zu lassen, obwohl ich als erster erschienen u. als erster mich seit Beginn der Behandlung angemeldet habe. So war ich in Hast genötigt, per Wagen in die Lothringer-Straße zu fahren. Aber auch die Suche nach einem Wagen hatte echt wienerische Momente: Von 3 Kutschern des Standplatzes war keiner anwesend, wohl aber alle drei beim „Frühstück“; auf dem gegenüberliegenden Standplatz war kein Wagen anzutreffen u. als wir nun zum ersten Standplatz zurückkehrten, finden wir einen Kutscher, gemütlich in die Frankfurter beißend, vor. – Als hätte Wien alle seine Nuançen in einem Regenbogen aufzeigen wollen, mußte ich in der Kanzlei eine halbe Stunde warten bis Dr. Botstiber erschien u. vor meinen Augen wurde die Post von gestern gebracht u. ich konnte mich selbst davon überzeugen, daß mein Brief, der in denselben den selben Bezirk gieng, erst mit der 2. Post ankam, trotzdem ich ihn einen Tag vorher aufgegeben. – Alle diese Erlebnisse brachten eine starke Hast mit sich, die mich aber nicht hinderte, die Unterredung (die Uhr auf dem Tisch vor mir liegend!) sachlich u. ruhig zu führen. Es gieng, wie ich schon erwartet habe, um Vorlesungen u. zw. über Beethoven Klaviersonaten. „Unverbindlich“ meinte der Secretair, daß die Gesellschaft nicht daran denke, Geld damit machen zu wollen u. es mir überlasse, die Vorlesungen so auszugestalten, wie ich es für notwendig finde. Auf meine Bemerkung, daß ich nicht gerne in einer mir unbekannten Gesellschaft von Vortragenden in die Oeffentlichkeit treten möchte, meinte der Secretair, es kämen höchstens nur Dr. Graf u. Dr. Wellesz in Frage. Die Anregung bezeichnete er als von Dr. Graf kommend, äußerte sich aber im Laufe des Gespräches einmal auch dahin, daß er im Grunde schon seit langem darnach gestrebt habe, eine Beziehung zu mir anzuknüpfen. Eine andere Wendung des Secretairs vom „kollossalen [sic] Erfolg“ meiner Beethoven-Ausgaben läßt mich schließen, daß er oder die Gesellschaft diese günstige Conjunktur gerne mit Gewinn ausnützen möchten. Der Umstand {581} aber, daß Dr. Graf mit einer ausdrücklichen „Anregung“ beteiligt sein soll, bringt mich auf den Gedanken, daß möglicherweise Dr. Graf in seinem übermäßigen Ehrgeiz gerne öffentlich lesen würde, wozu ihm meine Mitwirkung als willkommene Folie dienen würde. – Ich habe meine Vorschläge mir brieflich vorbehalten, nachdem ich einige Andeutungen betreffs der Gesichtspunkte gemacht habe, die mich bei der Bemessung des Honorares leiten werden. *Frau Colbert erzählt ihr Mißgeschick mit dem Sohn. In der Tat ist ein solches Erlebnis nur einer Elementar-Katastrophe vergleichbar. Die Natur freilich zog nur ihre Konsequenz aus der Unfähigkeit der Eltern, dem Kinde in der kritischen Pubertätszeit mit Nachdruck u. Zwang zu helfen. *Abends Fl. u. Frau bei Lie-Liechen. *
© Transcription Marko Deisinger. |
28.
Earlier than usual to the dentist, so that I would be in time for my discussion with Botstiber. Meanwhile the dentist does me the disservice of making me wait, although I was the first to appear and, being the first, had announced myself at the beginning of the treatment. Thus I was compelled in my haste to take a carriage to Lothringerstraße. But even the search for a carriage had genuinely Viennese characterstics: not one of the three drivers at the carriage stand was present, all three were at "breakfast"; at the carriage stand opposite, there was no carriage to be found, and when we went back to the first stand we found a driver unhurriedly taking a bite of his frankfurter. – As if Vienna wished to display all its nuances in a rainbow, I had to wait in the chancelry for half an hour before Dr. Botstiber appeared, and in front of my eyes yesterday's mail was brought and I could see for myself that my letter, which went to the same district of the city, arrived only with the second delivery despite my having mailed it the day before. – All these experiences contributed to a severe hurriedness, which did not, however, prevent me from conducting the meeting (the clock lying on the desk before me!) calmly and objectively. It was, as I already expected, a request for lectures, and indeed about the piano sonatas of Beethoven. "No obligation": the secretary said that the Society was not thinking of wanting to monetize it, and will leave it up to me to design the lectures as I see fit. To my remark, that I would not really wish to step into the public arena in the company of speakers who are unknown to me, the secretary replied that, at most, only Dr. Graf and Dr. Wellesz would be there. He said that the encouragement came from Dr. Graf, but in the course of the conversation he also spoke out once to the effect that in principle he had been striving for a long time to forge a link with me. Another phrase used by the secretary about the "colossal success" of my Beethoven editions led me to conclude that he, or the Society, wished to exploit this favorable conjuncture for profit. The circumstance, {581} however, that Dr. Graf should have taken part with an express "encouragement" makes me think that perhaps Dr. Graf would, given his excessive ambition, gladly read in public, to which my collaboration would serve as a welcome backdrop. – I reserved my suggestions in a letter after I formulated some ideas concerning the points of view that will guide me in the calculation of my honorarium. *Mrs. Colbert recounts her mishap with her son. In fact, such an experience is only comparable to an elementary catastrophe. Nature, admittedly, merely fulfilled the consequences of the parents' inability to help the child during the critical period of puberty with emphasis and coercion. *In the evening, Floriz and his wife at Lie-Liechen's. *
© Translation William Drabkin. |