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12. IX. 14

Karte von Moses Schenker mit Bitte um Rendezvous. — Karte von Tante, die eine Geldreklamation ankündigt. — Antwort an Moses u. Tante.

*

„Offensive schreitet vor“, dies die Meldung vom Lemberger Kriegsschauplatz. 1 Es fällt auf, daß die Presse immer lakonischer wird; . kKein Zweifel, daß die Zeitungen es auf dem Gewissen haben, wenn die Bevölkerung sich trüben Stimmungen hingibt. Die Leser können den Kontrast vom früheren Wortschwall der üppigen Kriegsberichte, vom schwunghaften u. betrügerischen Extraausgabenhandel zur gegenwärtigen Kargheit wie selbstverständlich nicht anders erklären, als daß die Situation unserer Armee neuerdings bedenklich geworden ist. Die Sünde der Zeitung stinkt zum Himmel. Gewohnt, in jedes Schaffen vorzeitig einzudringen u. zu vermelden, der Dichter A. beginne soeben den 1. Akt eines Dramas, der Musiker B. sei gerade bei der Instrumentierung seines neuen Werkes, der Maler C. plane den Entwurf eines Collossalgemäldes [sic] – kurz, gewohnt in Atelies [sic] u. sonstigen geistigen Werkstätten herumzuschnüffeln u. von den auf ihre eigene Ehre, sowie auf die Vorteile ihrer Arbeit nur allzu wenig bedachten Künstler[n] prompt bedient zu werden, haben sie den Versuch gemacht, auch in die Werkstätte des Generalstabs einzudringen, um jeden Zug brühwarm den Abonnenten vorlegen zu können. Indessen machen militärische Operationen eine solche Pressetaktik von Haus aus vielfach unerwünscht u. unmöglich u. was die Künstler mit Preisgabe von Opfern immerhin machen können, darf der Generalstab glückerweise nicht tun. Man sollte Gglauben, daß nun die Presse in sich gehen u. {701} solche Unarten abstreifen werde, doch nein, sie, die ewig Hinterbliebene, wendet sich schroff gegen den Leser u. tadelt ihn wegen seiner unzeitgemäßen Neugier u. s. w. Höchste Zeit wäre es das allgemeine u. direkte Schreibrecht aufzuheben; schon das allgemeine direkte Wahlrecht hat sich als der Uebel größtes erwiesen, ein womöglich noch größeres ist der Journalismus.

*

In den letzten Tagen mehren sich die Mahnungen an die Reichen – ein sehr bedeutsames, sehr trübes Symptom. Hier wird aber meiner Ueberzeugung nach nur das direkte Eingreifen der Regierung helfen, denn dem Reichen ist es eigen, nicht begreifen zu wollen, daß er das Schandmal der Verachtung an sich trägt. Gewohnt den Armen auszunutzen, u. sich aber auch darüber hinwegzusetzen darüber, was der geplünderte Arme über ihn denkt, übersieht er, daß schon der Nächste seines eigenen Standes, also der nächste Reiche, ihn wieder doch nur so schmutzstarrend sieht, wie er sich eben gibt u. nicht wie er sich einbildet. Kein Klassengeist hat bisher gehindert, daß der eine Reiche den anderen als schmutzig erkannt u. auch hingestellt hat hätte. Im Augenblick aber, da der Reiche am Schmutz erwischt wird, glaubt er, daß sein Schmutz von nNiemand beobachtet wird, nur außer von den Armen gesehen wird, deren Gedanken er aber zu ignorieren gewohnt ist.

*

Auch Kultur fordert Disciplin u. diese Disciplin heißt: Gehorsam den vorgesetzten Genies u. Bescheidenheit bei den Mannschaften der Talente. Aber wie erkennt man den Vorgesetzten in der Literatur? Distinktion durch goldene Kragen u. Sterne trägt er das Genie nicht, u. so ist weswegen der Führer äußerlich nicht zu erkennen ist. Man muß ihn daher innen zu finden ! suchen!

*

Stete Aufregung wegen mangelnder Nachrichten vom Kriegsschauplatz u. eine womöglich noch größere Aufregung wegen der Unmöglichkeit, all meine Gedanken, die doch um so viel drastischer u. aufklärender zur Pflicht mahnen, publizieren zu können, weil sich sowohl Zeitungen als vielleicht auch die Behörden aus Rücksicht auf „Klassenfrieden“ dagegen sträuben würden.

*

Nachmittag erfahren wir im Delikatessengeschäft, ein Bankbeamter hätte die Mitteilung gebracht, daß unsere Truppen neuerdings zurückgeworfen sind.

*

{702} Kürnberger zuende.

*

© Transcription Marko Deisinger.

September 12, 1914.

Postcard from Moses Schenker with request for a meeting. — Postcard from my aunt announcing a claim for money. — Replies to Moses and to my aunt.

*

"The offensive is striding ahead": this is the report from the Lemberg war zone. 1 It is striking that the press is being increasingly laconic; no doubt, the newspapers have it on their conscience if the populace is harboring a somber mood. Their readers are of course understandably unable to explain the contrast from the earlier verbal profusion of the exuberant war reports, to the flourishing and deceitful trade in extra editions, to the present scantiness other than that the situation of our army has recently become precarious. The sins of the newspaper stink to high heaven. Accustomed as they are to intruding and reporting every creative act prematurely – that poet A is just beginning the first act of a play, that musician B is already in the process of scoring his latest work, that painter C is planning the outlines of a colossal painting – in short, accustomed as they are to snooping around in ateliers and other intellectual workshops, and to be served swiftly by all too imprudent artists, for their own honor and for the advantages of their work, they have attempted even to intrude into the workshops of the general staff, in order to present their subscribers with a fresh account of every maneuver. However, military operations make such press tactics automatically undesirable and impossible; and what the artists can still do, with the divulgence of their offerings, the general staff is fortunately not permitted. One ought to believe that the press should now take stock of things and {701} cast off such bad habits. But no: they, forever behind the times, turn brusquely against their readers and rebuke them for their untimely curiosity, etc. It is high time that one put an end to the general and unconditional; already the general, unconditional right to vote has proved itself to be a very great evil; journalism is, if anything, an even greater one.

*

In the last few days, the exhortations to the rich have multiplied – a very significant, very dismal symptom. I am convinced here, however, that only the direct intervention of the government will help; for it is characteristic of a rich man not to wish to understand that he bears the stigma of contempt within himself. Accustomed to exploiting the poor, but also to ignore what the exploited poor man thinks about him, he overlooks the fact that the nearest person to his own position, that is the nearest rich man, is actually staring at him with greedy eyes, seeing him for what he really is and not what he imagines himself to be. No class spirit has hither to prevented one rich man from recognizing and even categorizing another as greedy. At the moment, however, when the rich man is seized by greed, he believes that his greed will be seen by no one apart from the poor, whose thoughts he is, however, accustomed to ignoring.

*

Culture, too, demands discipline, and this discipline requires obedience to the superior geniuses and modesty on the part of talented groups. But how does one recognize who is superior in literature? The genius does not wear his distinction in the form of a golden collars and stars, for which reason the leader cannot be recognized from external features. One must therefore seek to find him from within!

*

Continuous excitement on account of a shortage of news from the war zone; and perhaps an even greater excitement on account of the impossibility of publishing all my ideas, the more radically and rationally they urge me in my duty, since not only the newspapers but perhaps also the authorities would bristle at it, in consideration of "peace between the classes."

*

In the afternoon, we hear at the delicatessen that a bank official had brought the news that our troops have lately been pushed back.

*

{702} I finish reading Kürnberger.

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© Translation William Drabkin.

12. IX. 14

Karte von Moses Schenker mit Bitte um Rendezvous. — Karte von Tante, die eine Geldreklamation ankündigt. — Antwort an Moses u. Tante.

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„Offensive schreitet vor“, dies die Meldung vom Lemberger Kriegsschauplatz. 1 Es fällt auf, daß die Presse immer lakonischer wird; . kKein Zweifel, daß die Zeitungen es auf dem Gewissen haben, wenn die Bevölkerung sich trüben Stimmungen hingibt. Die Leser können den Kontrast vom früheren Wortschwall der üppigen Kriegsberichte, vom schwunghaften u. betrügerischen Extraausgabenhandel zur gegenwärtigen Kargheit wie selbstverständlich nicht anders erklären, als daß die Situation unserer Armee neuerdings bedenklich geworden ist. Die Sünde der Zeitung stinkt zum Himmel. Gewohnt, in jedes Schaffen vorzeitig einzudringen u. zu vermelden, der Dichter A. beginne soeben den 1. Akt eines Dramas, der Musiker B. sei gerade bei der Instrumentierung seines neuen Werkes, der Maler C. plane den Entwurf eines Collossalgemäldes [sic] – kurz, gewohnt in Atelies [sic] u. sonstigen geistigen Werkstätten herumzuschnüffeln u. von den auf ihre eigene Ehre, sowie auf die Vorteile ihrer Arbeit nur allzu wenig bedachten Künstler[n] prompt bedient zu werden, haben sie den Versuch gemacht, auch in die Werkstätte des Generalstabs einzudringen, um jeden Zug brühwarm den Abonnenten vorlegen zu können. Indessen machen militärische Operationen eine solche Pressetaktik von Haus aus vielfach unerwünscht u. unmöglich u. was die Künstler mit Preisgabe von Opfern immerhin machen können, darf der Generalstab glückerweise nicht tun. Man sollte Gglauben, daß nun die Presse in sich gehen u. {701} solche Unarten abstreifen werde, doch nein, sie, die ewig Hinterbliebene, wendet sich schroff gegen den Leser u. tadelt ihn wegen seiner unzeitgemäßen Neugier u. s. w. Höchste Zeit wäre es das allgemeine u. direkte Schreibrecht aufzuheben; schon das allgemeine direkte Wahlrecht hat sich als der Uebel größtes erwiesen, ein womöglich noch größeres ist der Journalismus.

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In den letzten Tagen mehren sich die Mahnungen an die Reichen – ein sehr bedeutsames, sehr trübes Symptom. Hier wird aber meiner Ueberzeugung nach nur das direkte Eingreifen der Regierung helfen, denn dem Reichen ist es eigen, nicht begreifen zu wollen, daß er das Schandmal der Verachtung an sich trägt. Gewohnt den Armen auszunutzen, u. sich aber auch darüber hinwegzusetzen darüber, was der geplünderte Arme über ihn denkt, übersieht er, daß schon der Nächste seines eigenen Standes, also der nächste Reiche, ihn wieder doch nur so schmutzstarrend sieht, wie er sich eben gibt u. nicht wie er sich einbildet. Kein Klassengeist hat bisher gehindert, daß der eine Reiche den anderen als schmutzig erkannt u. auch hingestellt hat hätte. Im Augenblick aber, da der Reiche am Schmutz erwischt wird, glaubt er, daß sein Schmutz von nNiemand beobachtet wird, nur außer von den Armen gesehen wird, deren Gedanken er aber zu ignorieren gewohnt ist.

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Auch Kultur fordert Disciplin u. diese Disciplin heißt: Gehorsam den vorgesetzten Genies u. Bescheidenheit bei den Mannschaften der Talente. Aber wie erkennt man den Vorgesetzten in der Literatur? Distinktion durch goldene Kragen u. Sterne trägt er das Genie nicht, u. so ist weswegen der Führer äußerlich nicht zu erkennen ist. Man muß ihn daher innen zu finden ! suchen!

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Stete Aufregung wegen mangelnder Nachrichten vom Kriegsschauplatz u. eine womöglich noch größere Aufregung wegen der Unmöglichkeit, all meine Gedanken, die doch um so viel drastischer u. aufklärender zur Pflicht mahnen, publizieren zu können, weil sich sowohl Zeitungen als vielleicht auch die Behörden aus Rücksicht auf „Klassenfrieden“ dagegen sträuben würden.

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Nachmittag erfahren wir im Delikatessengeschäft, ein Bankbeamter hätte die Mitteilung gebracht, daß unsere Truppen neuerdings zurückgeworfen sind.

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{702} Kürnberger zuende.

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© Transcription Marko Deisinger.

September 12, 1914.

Postcard from Moses Schenker with request for a meeting. — Postcard from my aunt announcing a claim for money. — Replies to Moses and to my aunt.

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"The offensive is striding ahead": this is the report from the Lemberg war zone. 1 It is striking that the press is being increasingly laconic; no doubt, the newspapers have it on their conscience if the populace is harboring a somber mood. Their readers are of course understandably unable to explain the contrast from the earlier verbal profusion of the exuberant war reports, to the flourishing and deceitful trade in extra editions, to the present scantiness other than that the situation of our army has recently become precarious. The sins of the newspaper stink to high heaven. Accustomed as they are to intruding and reporting every creative act prematurely – that poet A is just beginning the first act of a play, that musician B is already in the process of scoring his latest work, that painter C is planning the outlines of a colossal painting – in short, accustomed as they are to snooping around in ateliers and other intellectual workshops, and to be served swiftly by all too imprudent artists, for their own honor and for the advantages of their work, they have attempted even to intrude into the workshops of the general staff, in order to present their subscribers with a fresh account of every maneuver. However, military operations make such press tactics automatically undesirable and impossible; and what the artists can still do, with the divulgence of their offerings, the general staff is fortunately not permitted. One ought to believe that the press should now take stock of things and {701} cast off such bad habits. But no: they, forever behind the times, turn brusquely against their readers and rebuke them for their untimely curiosity, etc. It is high time that one put an end to the general and unconditional; already the general, unconditional right to vote has proved itself to be a very great evil; journalism is, if anything, an even greater one.

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In the last few days, the exhortations to the rich have multiplied – a very significant, very dismal symptom. I am convinced here, however, that only the direct intervention of the government will help; for it is characteristic of a rich man not to wish to understand that he bears the stigma of contempt within himself. Accustomed to exploiting the poor, but also to ignore what the exploited poor man thinks about him, he overlooks the fact that the nearest person to his own position, that is the nearest rich man, is actually staring at him with greedy eyes, seeing him for what he really is and not what he imagines himself to be. No class spirit has hither to prevented one rich man from recognizing and even categorizing another as greedy. At the moment, however, when the rich man is seized by greed, he believes that his greed will be seen by no one apart from the poor, whose thoughts he is, however, accustomed to ignoring.

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Culture, too, demands discipline, and this discipline requires obedience to the superior geniuses and modesty on the part of talented groups. But how does one recognize who is superior in literature? The genius does not wear his distinction in the form of a golden collars and stars, for which reason the leader cannot be recognized from external features. One must therefore seek to find him from within!

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Continuous excitement on account of a shortage of news from the war zone; and perhaps an even greater excitement on account of the impossibility of publishing all my ideas, the more radically and rationally they urge me in my duty, since not only the newspapers but perhaps also the authorities would bristle at it, in consideration of "peace between the classes."

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In the afternoon, we hear at the delicatessen that a bank official had brought the news that our troops have lately been pushed back.

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{702} I finish reading Kürnberger.

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Fortschritte unserer Offensive. Günstige Nachrichten über die Schlacht bei Lemberg," Neues Wiener Journal, No. 7500, September 12, 1914, 22nd year, p. 1. "Fortschreitende Offensive," Neues Wiener Tagblatt, No. 252, September 12, 1914, 48th year, p. 1.