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11.

Bei Lemberg soll die Offensive „erfolgreich“ sein; Siege werden gemeldet aus Frankreich u. Ostpreussen. 1

*

Trotz einer offenbar sinkenden Stimmung fährt die „N. Fr. Pr.“ fort, in echt wienerisch-oesterreichischem Stile alle Pflegerinnen , z. B. in der Secession namentlich anzuführen. 2 So muß auch der etwa mit dem Tode ringende Krieger noch immer hinter einer beliebigen Dame der Gesellschaft zurückstehen, die, um vom Verbrechen des Schmutzes abzulenken, ein völlig bedeutungsloses Müßiggangs-Intermezzo auf dem Altar des Vaterlandes stifte nt. Solche Inkongruenzen waren es ja, die im kleinen u. im großen, die Oesterreich eben heruntergebracht haben: Es gibt hier nicht etwa einen Staat, sondern nur eine Gesellschaft; es gibt hier kein Volk, nur ein Publikum u.mit Zeitungen oder Zeitungen mit Publikum; es gibt hier keine Regierung, sondern nur höchste Spitze der Gesellschaft – kurz, Oesterreich ist ein einziges großes Caféhaus mit anschließendem Salon. , [in HS's hand:] oder ein Salon mit anschließendem Caféhaus.

*

Hauptmann erwidert an Romain Rolland; 3 leider wieder nur mit gebrochener Stimme u. Oberflächlichkeit. Kein Wunder, da er R. R. für gleichwertig mit „Wilhelm Meister“ u. dem „grünen Heinrich“ erklärt. 4 Ich kenne nur wenige Proben von R. R., kann aber mit größter Bestimmtheit eben schon nur aus diesen allein schließen, daß der vom deutschen Dichter dem französischen Dichter zugegebene Rang nur in jenes Einbildung besteht. Es ist ausgeschlossen, daß R. R. einen wirklich guten Roman schreibt, wie es auch ausgeschlossen ist, daß er überhaupt auch nur gut schreibt. Und gerade an diesem Fall erkennt man die Wurzel alles deutschen Uebels: die mangelnde Würdigung, folglich Unterschätzung der eigenen Genies, die so grotesk von der Ueberschätzung absticht, in der sich andere Nationen bezüglich ihrer Genies gefallen.

*

Hoffmannsthal publiziert in der „N. Fr. Pr.“ einen ihm zugegangenen Brief von Schröder. 5 Als Dokument der Zeit u. auch des Dichters ziemlich belanglos, weil unfarbig.

*

In der neuen Nummer der „Musik“ fällt mir eine Kritik von Dr. Neufeld über Kretzschmars „Konzertführer“ auf; 6 in der der Referent auf meinen Spuren den Tadel gegenüber den nichtsagenden Phrasen Kretzschmar’s äußert. Freilich, bei den englischen Usançen unserer Referenten verschweigt er gerade meinen Namen u. mein Verdienst. Hauptsache für ihn war, auf bequeme Art so u. so viel Zeilen in einer neuen Pose schreiben zu können.

*

Je kleiner d ieer Menschen, desto eitler; die Eitelkeit bläht ihn aber auf, so daß er darüber nie zur Selbsterkenntnis kommen kann. Dieses wieder ist der Grund, weshalb er nicht zur Erkenntnis des Höchsten gelangt u. schließlich auch nicht zu Heil u. Frieden, die nur aus der Hand des Höchsten kommen.

Wenn Christus den Armen sagte, daß sie arm sind, wer weiß, ob er ihnen damit nicht den Weg zur Selbsterkenntnis bahnen wollte u. so als Erster die furchtbar tragische Mission auf sich nahm, den Armen im Geiste zu sagen u. einzuschärfen, daß sie arm sind, (was ja keiner von sich glauben mag.) Und sollte der Triumphzug des Christentums zum Teil nicht auch darauf be- {700} ruhet haben, daß die Armen sich ihrer Armut bewußt wurden u. daraus neue Kraft gewannen? In der Tat, wie neu geboren würde auch heute die Welt, wenn es gelänge, ihr ins Gesicht zu sagen, daß sie nur arm, bettelarm ist u. daß sie ihren Blick aufwärts zu Höheren zu richten habe. Denn so lange die Welt von sich eingenommen ist, so wie die heutige, ist jeder Weg zu Höherem abgesperrt.

*

Für Seidenraupen pflegt der Mensch mit Vorbedacht Maulbeerbäume; sie bringen ihm Seide, Geld, Luxus u. s. w. Nur für Künstler will man Maulbeerbäume nicht pflanzen; man rechnet damit, daß die Künstler ihre Kunst auch ohne Maulbeerbäume also ohne Auslagen spinnen werden[.] (Lie-)

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© Transcription Marko Deisinger.

11.

At Lemberg, the offensive is supposedly "successful"; victories are reported from France and East Prussia. 1

*

In spite of an apparently sinking mood, the Neue freie Presse carries on in typical Viennese-Austrian fashion by referring by name to all the nurses, e.g. those in the Secession. 2 Thus even a warrior who is perhaps struggling with death must be pushed into the background behind some "society lady" who, in order to steer away from the sin of greed, is instituting a completely meaningless leisure-intermezzo at the altar of the fatherland. Such incongruences were precisely what, in the large and small, brought Austria down: there isn't really a state here, but rather a society; there isn't a people, but an audience with newspapers – or newspapers with an audience; there is no government, only the highest level of society. In short, Austria is a single, huge coffee-house with an adjoining salon – or a salon with an adjoining coffee-house.

*

Hauptmann replies to Romain Rolland, 3 unfortunately again only with a broken voice and superficiality. Hardly surprising that he declares R. R. to be the equal of Wilhelm Meister and Green Henry. 4 I know only a few of R. R.'s efforts; but even from these alone, I can already conclude with the greatest confidence that the rank that the German poet has accorded to the French poet consists in the delusion of the former. It is impossible for R. R. to write a really good novel, just as it is impossible for him even to write well. And precisely from this example can one recognize the root of all German ill: the insufficient appreciation, hence the undervaluing, of their own geniuses, which contrasts so grotesquely with the overvaluing that other nations enjoy with regard to their geniuses.

*

Hofmannsthal publishes in the Neue freie Presse a letter he received from Schröder. 5 As a document of the time, and even of the poet, of rather little consequence because it is bland.

*

In the latest issue of Die Musik , I am struck by a review by Dr. Neufeld of Kretzschmar's concert guide, 6 in which the reviewer, following in my footsteps, expresses criticism of Kretzschmar's vacuous phrases. Admittedly, in accordance with the English practice of our reviewers, he suppresses precisely my name and the service I have rendered. For him the principal matter was to be able to write so many lines, in a comfortable style, in a new guise.

*

The smaller the person, the more vain he is; but vanity blows him up, so that he can never come to a self-recognition about it. This is again the reason why he does not succeed in recognizing the greatest and, ultimately, does not reach freedom and salvation, which come only from the hand of the greatest.

When Christ told the poor people that they were poor, who knows whether he wanted thereby to strike a path to self-recognition and so was the first to take the frightfully tragic mission upon himself: to tell and impress upon the poor in spirit that they are poor (something that no one would want to believe about himself). And should not the triumphal procession of Christianity not also be based in part {700} on the poor becoming conscious of their poverty and gaining new powers from that? In fact, even the world today would be almost born again if it succeeded in looking itself in the face and saying that it is poor, poor as a beggar, and that it directs its gaze upwards toward higher things. For as long as the world is taken in by itself, as it is at present, every path to something higher will be blocked.

*

For silkworms, people deliberately cultivate mulberry trees; they bring them silk, money, luxury goods, and so on. But for artists they do not want to plant mulberry trees; they reckon that the artists can spin their art even without mulberry trees. (Lie-)

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© Translation William Drabkin.

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Bei Lemberg soll die Offensive „erfolgreich“ sein; Siege werden gemeldet aus Frankreich u. Ostpreussen. 1

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Trotz einer offenbar sinkenden Stimmung fährt die „N. Fr. Pr.“ fort, in echt wienerisch-oesterreichischem Stile alle Pflegerinnen , z. B. in der Secession namentlich anzuführen. 2 So muß auch der etwa mit dem Tode ringende Krieger noch immer hinter einer beliebigen Dame der Gesellschaft zurückstehen, die, um vom Verbrechen des Schmutzes abzulenken, ein völlig bedeutungsloses Müßiggangs-Intermezzo auf dem Altar des Vaterlandes stifte nt. Solche Inkongruenzen waren es ja, die im kleinen u. im großen, die Oesterreich eben heruntergebracht haben: Es gibt hier nicht etwa einen Staat, sondern nur eine Gesellschaft; es gibt hier kein Volk, nur ein Publikum u.mit Zeitungen oder Zeitungen mit Publikum; es gibt hier keine Regierung, sondern nur höchste Spitze der Gesellschaft – kurz, Oesterreich ist ein einziges großes Caféhaus mit anschließendem Salon. , [in HS's hand:] oder ein Salon mit anschließendem Caféhaus.

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Hauptmann erwidert an Romain Rolland; 3 leider wieder nur mit gebrochener Stimme u. Oberflächlichkeit. Kein Wunder, da er R. R. für gleichwertig mit „Wilhelm Meister“ u. dem „grünen Heinrich“ erklärt. 4 Ich kenne nur wenige Proben von R. R., kann aber mit größter Bestimmtheit eben schon nur aus diesen allein schließen, daß der vom deutschen Dichter dem französischen Dichter zugegebene Rang nur in jenes Einbildung besteht. Es ist ausgeschlossen, daß R. R. einen wirklich guten Roman schreibt, wie es auch ausgeschlossen ist, daß er überhaupt auch nur gut schreibt. Und gerade an diesem Fall erkennt man die Wurzel alles deutschen Uebels: die mangelnde Würdigung, folglich Unterschätzung der eigenen Genies, die so grotesk von der Ueberschätzung absticht, in der sich andere Nationen bezüglich ihrer Genies gefallen.

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Hoffmannsthal publiziert in der „N. Fr. Pr.“ einen ihm zugegangenen Brief von Schröder. 5 Als Dokument der Zeit u. auch des Dichters ziemlich belanglos, weil unfarbig.

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In der neuen Nummer der „Musik“ fällt mir eine Kritik von Dr. Neufeld über Kretzschmars „Konzertführer“ auf; 6 in der der Referent auf meinen Spuren den Tadel gegenüber den nichtsagenden Phrasen Kretzschmar’s äußert. Freilich, bei den englischen Usançen unserer Referenten verschweigt er gerade meinen Namen u. mein Verdienst. Hauptsache für ihn war, auf bequeme Art so u. so viel Zeilen in einer neuen Pose schreiben zu können.

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Je kleiner d ieer Menschen, desto eitler; die Eitelkeit bläht ihn aber auf, so daß er darüber nie zur Selbsterkenntnis kommen kann. Dieses wieder ist der Grund, weshalb er nicht zur Erkenntnis des Höchsten gelangt u. schließlich auch nicht zu Heil u. Frieden, die nur aus der Hand des Höchsten kommen.

Wenn Christus den Armen sagte, daß sie arm sind, wer weiß, ob er ihnen damit nicht den Weg zur Selbsterkenntnis bahnen wollte u. so als Erster die furchtbar tragische Mission auf sich nahm, den Armen im Geiste zu sagen u. einzuschärfen, daß sie arm sind, (was ja keiner von sich glauben mag.) Und sollte der Triumphzug des Christentums zum Teil nicht auch darauf be- {700} ruhet haben, daß die Armen sich ihrer Armut bewußt wurden u. daraus neue Kraft gewannen? In der Tat, wie neu geboren würde auch heute die Welt, wenn es gelänge, ihr ins Gesicht zu sagen, daß sie nur arm, bettelarm ist u. daß sie ihren Blick aufwärts zu Höheren zu richten habe. Denn so lange die Welt von sich eingenommen ist, so wie die heutige, ist jeder Weg zu Höherem abgesperrt.

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Für Seidenraupen pflegt der Mensch mit Vorbedacht Maulbeerbäume; sie bringen ihm Seide, Geld, Luxus u. s. w. Nur für Künstler will man Maulbeerbäume nicht pflanzen; man rechnet damit, daß die Künstler ihre Kunst auch ohne Maulbeerbäume also ohne Auslagen spinnen werden[.] (Lie-)

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© Transcription Marko Deisinger.

11.

At Lemberg, the offensive is supposedly "successful"; victories are reported from France and East Prussia. 1

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In spite of an apparently sinking mood, the Neue freie Presse carries on in typical Viennese-Austrian fashion by referring by name to all the nurses, e.g. those in the Secession. 2 Thus even a warrior who is perhaps struggling with death must be pushed into the background behind some "society lady" who, in order to steer away from the sin of greed, is instituting a completely meaningless leisure-intermezzo at the altar of the fatherland. Such incongruences were precisely what, in the large and small, brought Austria down: there isn't really a state here, but rather a society; there isn't a people, but an audience with newspapers – or newspapers with an audience; there is no government, only the highest level of society. In short, Austria is a single, huge coffee-house with an adjoining salon – or a salon with an adjoining coffee-house.

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Hauptmann replies to Romain Rolland, 3 unfortunately again only with a broken voice and superficiality. Hardly surprising that he declares R. R. to be the equal of Wilhelm Meister and Green Henry. 4 I know only a few of R. R.'s efforts; but even from these alone, I can already conclude with the greatest confidence that the rank that the German poet has accorded to the French poet consists in the delusion of the former. It is impossible for R. R. to write a really good novel, just as it is impossible for him even to write well. And precisely from this example can one recognize the root of all German ill: the insufficient appreciation, hence the undervaluing, of their own geniuses, which contrasts so grotesquely with the overvaluing that other nations enjoy with regard to their geniuses.

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Hofmannsthal publishes in the Neue freie Presse a letter he received from Schröder. 5 As a document of the time, and even of the poet, of rather little consequence because it is bland.

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In the latest issue of Die Musik , I am struck by a review by Dr. Neufeld of Kretzschmar's concert guide, 6 in which the reviewer, following in my footsteps, expresses criticism of Kretzschmar's vacuous phrases. Admittedly, in accordance with the English practice of our reviewers, he suppresses precisely my name and the service I have rendered. For him the principal matter was to be able to write so many lines, in a comfortable style, in a new guise.

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The smaller the person, the more vain he is; but vanity blows him up, so that he can never come to a self-recognition about it. This is again the reason why he does not succeed in recognizing the greatest and, ultimately, does not reach freedom and salvation, which come only from the hand of the greatest.

When Christ told the poor people that they were poor, who knows whether he wanted thereby to strike a path to self-recognition and so was the first to take the frightfully tragic mission upon himself: to tell and impress upon the poor in spirit that they are poor (something that no one would want to believe about himself). And should not the triumphal procession of Christianity not also be based in part {700} on the poor becoming conscious of their poverty and gaining new powers from that? In fact, even the world today would be almost born again if it succeeded in looking itself in the face and saying that it is poor, poor as a beggar, and that it directs its gaze upwards toward higher things. For as long as the world is taken in by itself, as it is at present, every path to something higher will be blocked.

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For silkworms, people deliberately cultivate mulberry trees; they bring them silk, money, luxury goods, and so on. But for artists they do not want to plant mulberry trees; they reckon that the artists can spin their art even without mulberry trees. (Lie-)

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Der Armeeoberkommandant mit dem Generalstabs und der Thronfolger auf dem Schlachtfelde. Der zweite Schlachttag im Raume von Lemberg und Kämpfe östlich von Paris, westlich von Verdun und in Ostpreußen," Neue Freie Presse, No. 17977, September 11, 1914, morning edition, p. 1.

2 "Erzherzogin Marie Therese als Pflegerin," Neue Freie Presse, No. 17976, September 10, 1914, morning edition, p. 9. "Die ersten Verwundeten in der Universität," Neue Freie Presse, No. 17977, September 11, 1914, morning edition, p. 7. As a sign of patriotic solidarity, the Vienna Secession organized a reserve hospital during the war on their premises.

3 "Ein Briefwechsel zwischen Gerhart Hauptmann und Romain Rolland. Französische Anklage und deutsche Widerlegung," Neue Freie Presse, No. 17977, September 11, 1914, morning edition, p. 4.

4 The eponymous characters of nineteenth-century coming-of-age novels (Bildungsromane) by Goethe and Gottfried Keller, respectively.

5 Rudolf Alexander Schröder, "In einer deutschen Seefestung. Brief an Hugo von Hofmannsthal," Neue Freie Presse, No. 17977, September 11, 1914, morning edition, pp. 1–2.

6 Ernst Neufeldt, "Hermann Kretzschmar: Führer durch den Konzertsaal. I. Abteilung: Symphonie und Suite Band I/II. Vierte, vollständig neu bearbeitete Auflage. Verlag: Breitkopf & Härtel, Leipzig 1913," Die Musik, vol. 23, 12nd year, No. 23, September 1914, pp. 279–280.