21. IX. 14
Der Schwager hat Prof. Fränkel nicht angetroffen, der angeblich erst Mittwoch kommt; so schreibt er ebenso naiv als wie roh: „Somit ist ein anderer Weg einzuschlagen.“ Lie-Liechen fällt diese Wendung als besonders krass auf, als Symptom eines bequemen Mannes, der gerne Alles aus fremden Händen entgegennimmt. Ich kläre sie aber auf, daß in dieser Hinsicht wohl kein weiterer Unterschied zu machen sei zwischen all’ den nehmenden Menschen, mögen im übrigen ihre Temperamente noch so verschieden sein. Ob mehr oder minder heißblütig, mehr oder minder kalt, ist allen Nehmenden gleichwohl derselbe Zug eigen, die Last des Gebens lediglich dem Anderen ganz zu überlassen u. sich nur am Nehmen zu erfreuen. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, daß die meisten Nehmenden nur selten die Wahrheit sagen , u. ihre Wahrheit diese im Grunde nur darin ausdrücken, was daß sie etwas verlangen u. haben wollen. *Gegen Abend gehen wir ins Reservespital zu Fl., um mit ihm wegen eines eventuellen anderen Falles zu sprechen. Wir stoßen bei dieser Gelegenheit auf einen rüpelhaften Chef-Arzt, der seine Antwort bereits flegelhaft unterstreicht, ohne erst abgewartet zu haben, welche Stellung wir erst zu einer höflichen abweisenden Antwort 1 eingenommen hätten. Hier griff aber Lie-Liechen mit guter Bravour u. strafte den Rüpel auf der Stelle, indem sie ihm eine Belehrung über die Anstandspflicht gab. Während L-L. ihre moralische Strafexpedition manchmal gegen zu tief unter ihr stehende Personen richtete, ist diesmal ihre Heftigkeit an der richtigen Stelle gewesen. Und wie richtig sie gewesen, zeigte sie sich erst an der allgemeinen Freude sämtlicher Soldaten u. Schwestern, die davon erfuhren. Fl. versprach noch einige Verbindungen aufzustöbern. *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 21, 1914.
My brother-in-law did not meet Prof. Fraenkel, who is evidently not coming until Wednesday; thus he writes, as naively as crudely, "Thus we have to take a different path." Lie-Liechen finds this expression particularly crass, as a symptom of a man who is comfortably off and would gladly take everything from the hands of strangers. But I explain to her that, in this respect, one should perhaps not distinguish further between all those people who take, however different their temperaments might otherwise be. Whether they are more or less hot-blooded, more or less cold, all who take still share the same trait: to leave the burden of giving simply to others and to take pleasure only in taking. One could go as far as to say that most of the takers seldom tell the truth, and that essentially they express this only by saying that the require and want to have something. *Towards evening we go to the reserve hospital to see Floriz, to discuss the possibility of another opportunity with him. On this occasion we come across a boorish head doctor, who rudely underscores his response without first waiting to see what attitude we would have taken to a politely negative response. 1 . Here, however, Lie-Liechen took over with good bravura and rebuked the brute then and there, by giving him a lesson in good behavior. While Lie-Liechen often directed her exercises in rebuke against persons who stood to far beneath her, this time her severity was well-placed. And the extent to which she was right was first shown by the general delight of all the soldiers and nurses who heard about it. Floriz promised to hunt out some further connections. *
© Translation William Drabkin. |
21. IX. 14
Der Schwager hat Prof. Fränkel nicht angetroffen, der angeblich erst Mittwoch kommt; so schreibt er ebenso naiv als wie roh: „Somit ist ein anderer Weg einzuschlagen.“ Lie-Liechen fällt diese Wendung als besonders krass auf, als Symptom eines bequemen Mannes, der gerne Alles aus fremden Händen entgegennimmt. Ich kläre sie aber auf, daß in dieser Hinsicht wohl kein weiterer Unterschied zu machen sei zwischen all’ den nehmenden Menschen, mögen im übrigen ihre Temperamente noch so verschieden sein. Ob mehr oder minder heißblütig, mehr oder minder kalt, ist allen Nehmenden gleichwohl derselbe Zug eigen, die Last des Gebens lediglich dem Anderen ganz zu überlassen u. sich nur am Nehmen zu erfreuen. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, daß die meisten Nehmenden nur selten die Wahrheit sagen , u. ihre Wahrheit diese im Grunde nur darin ausdrücken, was daß sie etwas verlangen u. haben wollen. *Gegen Abend gehen wir ins Reservespital zu Fl., um mit ihm wegen eines eventuellen anderen Falles zu sprechen. Wir stoßen bei dieser Gelegenheit auf einen rüpelhaften Chef-Arzt, der seine Antwort bereits flegelhaft unterstreicht, ohne erst abgewartet zu haben, welche Stellung wir erst zu einer höflichen abweisenden Antwort 1 eingenommen hätten. Hier griff aber Lie-Liechen mit guter Bravour u. strafte den Rüpel auf der Stelle, indem sie ihm eine Belehrung über die Anstandspflicht gab. Während L-L. ihre moralische Strafexpedition manchmal gegen zu tief unter ihr stehende Personen richtete, ist diesmal ihre Heftigkeit an der richtigen Stelle gewesen. Und wie richtig sie gewesen, zeigte sie sich erst an der allgemeinen Freude sämtlicher Soldaten u. Schwestern, die davon erfuhren. Fl. versprach noch einige Verbindungen aufzustöbern. *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 21, 1914.
My brother-in-law did not meet Prof. Fraenkel, who is evidently not coming until Wednesday; thus he writes, as naively as crudely, "Thus we have to take a different path." Lie-Liechen finds this expression particularly crass, as a symptom of a man who is comfortably off and would gladly take everything from the hands of strangers. But I explain to her that, in this respect, one should perhaps not distinguish further between all those people who take, however different their temperaments might otherwise be. Whether they are more or less hot-blooded, more or less cold, all who take still share the same trait: to leave the burden of giving simply to others and to take pleasure only in taking. One could go as far as to say that most of the takers seldom tell the truth, and that essentially they express this only by saying that the require and want to have something. *Towards evening we go to the reserve hospital to see Floriz, to discuss the possibility of another opportunity with him. On this occasion we come across a boorish head doctor, who rudely underscores his response without first waiting to see what attitude we would have taken to a politely negative response. 1 . Here, however, Lie-Liechen took over with good bravura and rebuked the brute then and there, by giving him a lesson in good behavior. While Lie-Liechen often directed her exercises in rebuke against persons who stood to far beneath her, this time her severity was well-placed. And the extent to which she was right was first shown by the general delight of all the soldiers and nurses who heard about it. Floriz promised to hunt out some further connections. *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 The words "abweisenden Antwort" are partly covered by an inkblot. |