29. XII. 15 +6°.
— Zuckerkandl (Feldpostkarte) teilt mit, daß er hoch in den Bergen Beobachtungsdienst mache u. sich wohl fühle. Er erzählt, daß die Infanterie in der Reserve ein ganzes Dorf aufgebaut habe, mit Bürgermeister, Bezirks- u. Kreisrichhauptmann u. sogar einem Caféhaus als Clou. — — Die neue Bedienerin kündigt, weil sie von dem Gelde, wie sie sagt, nicht leben könne. Es scheint, als hätte sie den Monat als Lückenbüßer, obendrein mit der Aussicht auf Weihnachtsgeschenke von vornherein angelegt; jedenfalls glaubte sie, eben ein Typus des auch noch zur Moral unreifen Volkes! –, es mir mindestens schuldig zu sein, zu erklären, daß sie es eigens einige Tage früher sage. Wie man sich in tieferen Schichten Pflicht u. Anstand vorstellt! – Nun Wege zum Schlosser, Bestellung geänderter Änderung der Schlüssel u. s. f., wWege in Vermittlungsbüros. Wäre die Menschheit auch nur erst so weit, zu verstehen, welche Ausstrahlungen eine Pflichtverletzung nach sich zieht. Die Bedienerin, die mich 5 Jahre bestahl, brachte sich selbst endlich um ihren Posten, brachte mich uns um kostbare Zeit, die wir der Beschaffung eines Ersatzes widmen mußten, u. noch immer schwärt in dieser oder jenen Form die Sünde des Diebstahls. Kein Zweifel, daß wir mehr {81} darunter leiden, als die Schuldige, denn sie ist wahrscheinlich in ein anderes Haus eingetreten[,] wo sie ihrem Hang zum Diebstahl fröhnen [sic] kann, mindestens so lange, bis wieder auch dort unter schweren Verlusten der Betroffenen ihr das Handwerk gelegt werden wird. *„Frankfurter Ztg.“ publiziert einen Aufsatz (28. XII. 15) „Die Herrschaft der Phrase“, von Nachum Goldmann. 1 So oberflächlich der Aufsatz ist, so spricht er doch mindestens als Grundgedanken, oder richtiger als Grundahnung dasselbe aus, was ich in dem der „Frkf. Ztg“ vor Monaten zugeschickten Aufsatz aussprach. Damals war aber dem Blatte die Bekker-Kameraderie viel wichtiger als mein Gedankengang; nun wird sie damit bestraft, daß sie ihn aus einem sehr dürftigen Kopfe entgegennimmt. Das Bedauerlichste freilich bleibt dabei, daß der Kern der in beiden Aufsätzen berührten Frage weitaus der wichtigste im Komplex aller Fragen ist, die das Zusammenleben der Nationen u. Rassen betreffen. War es schon von meiner Seite ein im gewissen Sinne unentschuldbares Unterfangen, jener Idee einen vorerst so schmächtigen Beweisgrund mitzugeben, so ist es fast schon als Lästerung anzusehen, wenn Herr Goldmann sie zum Stoff eines Feuilletons herabwürdigt, dem man ansieht, daß es füglich ein Gefäß auch für einen anderen Stoff hätte sein können, sozusagen Phrasen über die Herrschaft der Phrasen! — *Blätter geben einen mit „Friedensbedingungen“ überschriebenen Aufsatz der „N. Züricher Ztg.“ wieder, 2 ein läppisches Kon kglomerat von Punkten, das im letzten Grund beinahe darauf hinausläuft, daß Deutschland trotz allen Siegen den Gegnern mehr Vorteile als sich selbst einräume! Daß solche „Friedensbedingungen“ gar in deutscher Sprache abgefasst wurden, müßte man von vornherein als sonderbare Ironie bezeichnen, wenn man nicht die noch größere Schande in Erinnerung hätte, die der deutschen Nation kürzlich von 20 Sozialdemokraten zugefügt wurde, die gegen den Kriegskredit stimmten. *{82} Im Gasthaus eine Tulpe beim Anziehen des Rockes zerbrochen. — *Der Reiche gleicht dem Hunde – auch nur eine Art Haustier, ein Haustier des Geldes. Wie der Hundebesitzer den Hund füttert, mit als sich auf Reisen nimmt, seine Brunft reguliert, ebenso führt auch das Geld den Reichen zu Tisch, zum Geschlechtsleben, auf Reisen usf., ohne daß er seinerseits auch nur die leiseste Anstrengung zu machen hätte, nicht einmal die einer Dankbarkeit, wie sie schließlich der Hund seinem Besitzer abstattet. bBis zum letzten Blutstropfen mechanisiert, entseelt, wird der Reiche vom Geld an der Leine geführt! — — Wie jede Maschine zwar einerseits vom Menschengeist kommend, anderseits aber Menschengeist überflüssig macht, so macht schließlich auch die Geldmaschine den Geist bei den Reichen überflüssig, die die Maschine nurmehr zu bedienen brauchen. — So gut für den Menschen als letzte Ruhestätte nur ein schmaler Raum genügt, ebenso genügt auch bei Lebzeiten ein schmales Geld für das Leben! — *
© Transcription Marko Deisinger. |
December 29, 1915, +6°.
— Zuckerkandl (field postcard) tells me that he has surveillance duty high in the mountains and is feeling well. He says that the infantry among the reserves have built an entire village, with mayor, borough, and district officers and even a coffee house as star attraction. — — The new maid gives notice, as she says that she cannot live on what she is paid. It appears that she had planned the month at the outset as a stopgap, and moreover with prospect of Christmas presents. In any event she – an example of people who are still not mature enough for moral behavior! – believed that she at least owed it to me to declare that she should say so expressly a few days earlier. How the lower orders understand duty and decency! – Now trips to the locksmith to change the keys, etc. Trips to the employment agency. If only humanity had gotten so far as to understand what emissions a dereliction of duty entails. The maid who stole from me for five years, finally brought herself down from her post and robbed us of valuable time, which we had to dedicate to finding a substitute; and the sin of thievery is still festering in one form or another. No doubt, we are suffering more {81} from this than the guilty woman; for she has probably entered another house, where she can indulge her penchant for thievery – at least until her handiwork is exposed there, again as a result of serious losses on the part of the persons concerned. *The Frankfurter Zeitung publishes an article (December 28, 1915), "The Sovereignty of the Phrase," by Nahum Goldmann. 1 As superficial as the article may be, it at least expresses the same basic thought (or, better, basic inkling) that I expressed in an essay I sent to the Frankfurter Zeitung months ago. At the time, however, the Bekker camaraderie was more important to the paper than my arguments; now it [the paper] is being punished by receiving them from a very feeble mind. The most regrettable thing remains that the core of the matter raised in both articles is by far the most important in the complex of all questions that concern the coexistence of nations and races. If it was already on my part something of an inexcusable undertaking to offer to that idea what was then such a feeble argument, it must almost be regarded as a blasphemy that Mr. Goldmann downgrades it to the material of a feuilleton, in which one can see that it could justifiably have served as the vehicle for a different subject, one could say "Phrases on the Sovereignty of Phrases"! — *Newspapers reprint an article from the Neue Zürcher Zeitung with the title "Peace Conditions," 2 an abject conglomeration of points which, in the last analysis, almost suggests that Germany, in spite of all its victories, has conceded more advantages to its opponents than it has gained for itself! That such "peace conditions" were actually formulated in the German language is something that must be regarded at the outset as a special irony, if one does not still remember the even greater scandal that was recently perpetrated against the German nations by 20 Social Democrats who voted against the issuing of war bonds. *{82} In a restaurant, a tulip broken while I was putting on my coat. — *A rich man is like a dog – only a pet, a pet of money. As the dog owner feeds his dog, takes him on trips, regulates his rutting, likewise money leads the rich man to his meals, to his sexual life, on trips, and so on – without his having for his part to make even the least effort, not even one of showing gratitude, which a dog ultimately does to his owner. Mechanized, de-souled to the last drop of blood, the rich man is led on a leash by money! — — Like every machine, which on the one hand derives from human intellect but on the other hand makes human intellect superfluous, the money machine ultimately makes the intellect of rich people superfluous, as they only need to operate the machine. — As much as only a small space is need for a person's final resting place, so likewise a small sum of money is sufficient for life during one's lifetime! — *
© Translation William Drabkin. |
29. XII. 15 +6°.
— Zuckerkandl (Feldpostkarte) teilt mit, daß er hoch in den Bergen Beobachtungsdienst mache u. sich wohl fühle. Er erzählt, daß die Infanterie in der Reserve ein ganzes Dorf aufgebaut habe, mit Bürgermeister, Bezirks- u. Kreisrichhauptmann u. sogar einem Caféhaus als Clou. — — Die neue Bedienerin kündigt, weil sie von dem Gelde, wie sie sagt, nicht leben könne. Es scheint, als hätte sie den Monat als Lückenbüßer, obendrein mit der Aussicht auf Weihnachtsgeschenke von vornherein angelegt; jedenfalls glaubte sie, eben ein Typus des auch noch zur Moral unreifen Volkes! –, es mir mindestens schuldig zu sein, zu erklären, daß sie es eigens einige Tage früher sage. Wie man sich in tieferen Schichten Pflicht u. Anstand vorstellt! – Nun Wege zum Schlosser, Bestellung geänderter Änderung der Schlüssel u. s. f., wWege in Vermittlungsbüros. Wäre die Menschheit auch nur erst so weit, zu verstehen, welche Ausstrahlungen eine Pflichtverletzung nach sich zieht. Die Bedienerin, die mich 5 Jahre bestahl, brachte sich selbst endlich um ihren Posten, brachte mich uns um kostbare Zeit, die wir der Beschaffung eines Ersatzes widmen mußten, u. noch immer schwärt in dieser oder jenen Form die Sünde des Diebstahls. Kein Zweifel, daß wir mehr {81} darunter leiden, als die Schuldige, denn sie ist wahrscheinlich in ein anderes Haus eingetreten[,] wo sie ihrem Hang zum Diebstahl fröhnen [sic] kann, mindestens so lange, bis wieder auch dort unter schweren Verlusten der Betroffenen ihr das Handwerk gelegt werden wird. *„Frankfurter Ztg.“ publiziert einen Aufsatz (28. XII. 15) „Die Herrschaft der Phrase“, von Nachum Goldmann. 1 So oberflächlich der Aufsatz ist, so spricht er doch mindestens als Grundgedanken, oder richtiger als Grundahnung dasselbe aus, was ich in dem der „Frkf. Ztg“ vor Monaten zugeschickten Aufsatz aussprach. Damals war aber dem Blatte die Bekker-Kameraderie viel wichtiger als mein Gedankengang; nun wird sie damit bestraft, daß sie ihn aus einem sehr dürftigen Kopfe entgegennimmt. Das Bedauerlichste freilich bleibt dabei, daß der Kern der in beiden Aufsätzen berührten Frage weitaus der wichtigste im Komplex aller Fragen ist, die das Zusammenleben der Nationen u. Rassen betreffen. War es schon von meiner Seite ein im gewissen Sinne unentschuldbares Unterfangen, jener Idee einen vorerst so schmächtigen Beweisgrund mitzugeben, so ist es fast schon als Lästerung anzusehen, wenn Herr Goldmann sie zum Stoff eines Feuilletons herabwürdigt, dem man ansieht, daß es füglich ein Gefäß auch für einen anderen Stoff hätte sein können, sozusagen Phrasen über die Herrschaft der Phrasen! — *Blätter geben einen mit „Friedensbedingungen“ überschriebenen Aufsatz der „N. Züricher Ztg.“ wieder, 2 ein läppisches Kon kglomerat von Punkten, das im letzten Grund beinahe darauf hinausläuft, daß Deutschland trotz allen Siegen den Gegnern mehr Vorteile als sich selbst einräume! Daß solche „Friedensbedingungen“ gar in deutscher Sprache abgefasst wurden, müßte man von vornherein als sonderbare Ironie bezeichnen, wenn man nicht die noch größere Schande in Erinnerung hätte, die der deutschen Nation kürzlich von 20 Sozialdemokraten zugefügt wurde, die gegen den Kriegskredit stimmten. *{82} Im Gasthaus eine Tulpe beim Anziehen des Rockes zerbrochen. — *Der Reiche gleicht dem Hunde – auch nur eine Art Haustier, ein Haustier des Geldes. Wie der Hundebesitzer den Hund füttert, mit als sich auf Reisen nimmt, seine Brunft reguliert, ebenso führt auch das Geld den Reichen zu Tisch, zum Geschlechtsleben, auf Reisen usf., ohne daß er seinerseits auch nur die leiseste Anstrengung zu machen hätte, nicht einmal die einer Dankbarkeit, wie sie schließlich der Hund seinem Besitzer abstattet. bBis zum letzten Blutstropfen mechanisiert, entseelt, wird der Reiche vom Geld an der Leine geführt! — — Wie jede Maschine zwar einerseits vom Menschengeist kommend, anderseits aber Menschengeist überflüssig macht, so macht schließlich auch die Geldmaschine den Geist bei den Reichen überflüssig, die die Maschine nurmehr zu bedienen brauchen. — So gut für den Menschen als letzte Ruhestätte nur ein schmaler Raum genügt, ebenso genügt auch bei Lebzeiten ein schmales Geld für das Leben! — *
© Transcription Marko Deisinger. |
December 29, 1915, +6°.
— Zuckerkandl (field postcard) tells me that he has surveillance duty high in the mountains and is feeling well. He says that the infantry among the reserves have built an entire village, with mayor, borough, and district officers and even a coffee house as star attraction. — — The new maid gives notice, as she says that she cannot live on what she is paid. It appears that she had planned the month at the outset as a stopgap, and moreover with prospect of Christmas presents. In any event she – an example of people who are still not mature enough for moral behavior! – believed that she at least owed it to me to declare that she should say so expressly a few days earlier. How the lower orders understand duty and decency! – Now trips to the locksmith to change the keys, etc. Trips to the employment agency. If only humanity had gotten so far as to understand what emissions a dereliction of duty entails. The maid who stole from me for five years, finally brought herself down from her post and robbed us of valuable time, which we had to dedicate to finding a substitute; and the sin of thievery is still festering in one form or another. No doubt, we are suffering more {81} from this than the guilty woman; for she has probably entered another house, where she can indulge her penchant for thievery – at least until her handiwork is exposed there, again as a result of serious losses on the part of the persons concerned. *The Frankfurter Zeitung publishes an article (December 28, 1915), "The Sovereignty of the Phrase," by Nahum Goldmann. 1 As superficial as the article may be, it at least expresses the same basic thought (or, better, basic inkling) that I expressed in an essay I sent to the Frankfurter Zeitung months ago. At the time, however, the Bekker camaraderie was more important to the paper than my arguments; now it [the paper] is being punished by receiving them from a very feeble mind. The most regrettable thing remains that the core of the matter raised in both articles is by far the most important in the complex of all questions that concern the coexistence of nations and races. If it was already on my part something of an inexcusable undertaking to offer to that idea what was then such a feeble argument, it must almost be regarded as a blasphemy that Mr. Goldmann downgrades it to the material of a feuilleton, in which one can see that it could justifiably have served as the vehicle for a different subject, one could say "Phrases on the Sovereignty of Phrases"! — *Newspapers reprint an article from the Neue Zürcher Zeitung with the title "Peace Conditions," 2 an abject conglomeration of points which, in the last analysis, almost suggests that Germany, in spite of all its victories, has conceded more advantages to its opponents than it has gained for itself! That such "peace conditions" were actually formulated in the German language is something that must be regarded at the outset as a special irony, if one does not still remember the even greater scandal that was recently perpetrated against the German nations by 20 Social Democrats who voted against the issuing of war bonds. *{82} In a restaurant, a tulip broken while I was putting on my coat. — *A rich man is like a dog – only a pet, a pet of money. As the dog owner feeds his dog, takes him on trips, regulates his rutting, likewise money leads the rich man to his meals, to his sexual life, on trips, and so on – without his having for his part to make even the least effort, not even one of showing gratitude, which a dog ultimately does to his owner. Mechanized, de-souled to the last drop of blood, the rich man is led on a leash by money! — — Like every machine, which on the one hand derives from human intellect but on the other hand makes human intellect superfluous, the money machine ultimately makes the intellect of rich people superfluous, as they only need to operate the machine. — As much as only a small space is need for a person's final resting place, so likewise a small sum of money is sufficient for life during one's lifetime! — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 N. Goldmann, "Von der Herrschaft der Phrase. Eine zeitgemäße Betrachtung," Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, No. 359, December 28, 1915, 60th year, first morning edition, pp. 1-2. 2 "‚Friedensgedanken.‘ Ein Artikel der ‚Neuen Zürcher Zeitung‘," Berliner Tageblatt, No. 663, 44th year, December 29, 1915, morning edition, p. [1]. "Eine Grundlage für den Frieden. Schweizer Vermutungen über die deutschen Friedensziele," Neues Wiener Journal, No. 7961, December 30, 1915, 23rd year, pp. 1-2. "Eine Grundlage für den Frieden," Neues Wiener Tagblatt, No. 359, December 30, 1915, 50th year, pp. 2-4. |