12. VI. 16Der Sturm hält noch immer an; dennoch bessert sich das Wetter.
— Von Kaltenleutgeben gehen wir einen uns schon bekannten Weg zum Kreuzsattel, schlagen dann aber bei {288} der gelben Markierung einen neuen Weg ein. Wir betreten diesen zunächst mit Zagen an, da wir ihn zunächst fast ganz einsam u. ohne Verbindungen finden; doch, je weiter wir gehen, desto beglückter fühlen wir uns über die verborgenen eigenartigen Schönheiten dieses Pfades, der uns schließlich ins Wassergspreng, nach Weißenbach u. die Hinterbrühl führt. Der Eindruck, den Weißenbach auf uns macht, ist ein derartiger, daß wir sogar die Möglichkeit ins Auge fassen, die erste Ferienzeit dort zuzubringen. Zu Tisch in der Höldrichsmühle ; u. gleich nach Tisch zurück! — *Tagsüber ziehen viele Truppen ostwärts! — — Extraausgaben melden von günstigen Erfolgen des Wiederstandes. 1 — — Gegen Abend läßt der Sturmwind etwas nach. *v. Wieser („Berl. Tgbl.“) zieht wieder gegen die Deutschen aus! Er wünscht ihnen eine bekränzte Seele, beinahe Tänzerisches, kurz: Anmut! 2 Wie traurig, daß ein Deutscher nicht sieht, wie wahre Anmut sich weit schöner im Ernst, denn als in hohler Phrase u. Manier kundgibt! So schwerfällig auch der Deutsche einem Franzosen oder Italiener gegenüber äußerlich erscheinen mag, um wie viel anmutiger ist doch seine Seele schon von Haus aus eben im Ausdruck der Hingabe an Pflichten, Sachen, Staat, Familie usw. Und – um von der Kunst zu sprechen, – alle Frauen Frankreichs u. Italiens nehmen es mit der Anmut ihrer körperlichen Reize es sicher nicht auf mit der Anmut eines Bach’schen oder Beethoven’schen Tonsatzes. Ich bedauere unendlich zur Zeit keine Gelegenheit zu haben, diese Gedanken in einem weiteren Rahmen öffentlich auszugestalten. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 12, 1916. The storm persists, but the weather improves.
— From Kaltenleutgeben we take a path we already know, to the Kreuzsattel, but then take a new path at the yellow signpost. {288} We start along it with apprehension, since we are at first entirely on our own and without reference points; yet the further we go, the happier we feel about the hidden, unusual beauties of this path, which finally leads to Wassergspreng, Weissenbach, and Hinterbrühl. The impression that Weissenbach makes on us is such that we even consider the possibility of spending the first part of our holidays there. Lunch at the Höldrichsmühle and homewards immediately after lunch! — *During the day, many troops move eastwards! — — Extra editions report favorable results of the resistance. 1 — — Towards evening the stormy wind subsides somewhat. *v. Wiese ( Berliner Tageblatt ) is again on the attack against the Germans. He wishes them a garlanded soul, almost balletic, in short: grace! 2 How sad that a German cannot see how true grace makes itself known far more beautifully in serious matters than as an empty phrase or style! As awkwardly as a German may appear superficially, compared to a Frenchman or Italian, how much more graceful is his soul by nature, verily as expressed by his devotion to duties, affairs, his state, his family, etc. And if we are to speak about art, all the women of France and Italy with their physical charms surely do not measure up to the grace of a musical work by Bach or Beethoven. I am ever regretful that I have no opportunity at the present time to set out these thoughts in public, in a wider context. — *
© Translation William Drabkin. |
12. VI. 16Der Sturm hält noch immer an; dennoch bessert sich das Wetter.
— Von Kaltenleutgeben gehen wir einen uns schon bekannten Weg zum Kreuzsattel, schlagen dann aber bei {288} der gelben Markierung einen neuen Weg ein. Wir betreten diesen zunächst mit Zagen an, da wir ihn zunächst fast ganz einsam u. ohne Verbindungen finden; doch, je weiter wir gehen, desto beglückter fühlen wir uns über die verborgenen eigenartigen Schönheiten dieses Pfades, der uns schließlich ins Wassergspreng, nach Weißenbach u. die Hinterbrühl führt. Der Eindruck, den Weißenbach auf uns macht, ist ein derartiger, daß wir sogar die Möglichkeit ins Auge fassen, die erste Ferienzeit dort zuzubringen. Zu Tisch in der Höldrichsmühle ; u. gleich nach Tisch zurück! — *Tagsüber ziehen viele Truppen ostwärts! — — Extraausgaben melden von günstigen Erfolgen des Wiederstandes. 1 — — Gegen Abend läßt der Sturmwind etwas nach. *v. Wieser („Berl. Tgbl.“) zieht wieder gegen die Deutschen aus! Er wünscht ihnen eine bekränzte Seele, beinahe Tänzerisches, kurz: Anmut! 2 Wie traurig, daß ein Deutscher nicht sieht, wie wahre Anmut sich weit schöner im Ernst, denn als in hohler Phrase u. Manier kundgibt! So schwerfällig auch der Deutsche einem Franzosen oder Italiener gegenüber äußerlich erscheinen mag, um wie viel anmutiger ist doch seine Seele schon von Haus aus eben im Ausdruck der Hingabe an Pflichten, Sachen, Staat, Familie usw. Und – um von der Kunst zu sprechen, – alle Frauen Frankreichs u. Italiens nehmen es mit der Anmut ihrer körperlichen Reize es sicher nicht auf mit der Anmut eines Bach’schen oder Beethoven’schen Tonsatzes. Ich bedauere unendlich zur Zeit keine Gelegenheit zu haben, diese Gedanken in einem weiteren Rahmen öffentlich auszugestalten. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 12, 1916. The storm persists, but the weather improves.
— From Kaltenleutgeben we take a path we already know, to the Kreuzsattel, but then take a new path at the yellow signpost. {288} We start along it with apprehension, since we are at first entirely on our own and without reference points; yet the further we go, the happier we feel about the hidden, unusual beauties of this path, which finally leads to Wassergspreng, Weissenbach, and Hinterbrühl. The impression that Weissenbach makes on us is such that we even consider the possibility of spending the first part of our holidays there. Lunch at the Höldrichsmühle and homewards immediately after lunch! — *During the day, many troops move eastwards! — — Extra editions report favorable results of the resistance. 1 — — Towards evening the stormy wind subsides somewhat. *v. Wiese ( Berliner Tageblatt ) is again on the attack against the Germans. He wishes them a garlanded soul, almost balletic, in short: grace! 2 How sad that a German cannot see how true grace makes itself known far more beautifully in serious matters than as an empty phrase or style! As awkwardly as a German may appear superficially, compared to a Frenchman or Italian, how much more graceful is his soul by nature, verily as expressed by his devotion to duties, affairs, his state, his family, etc. And if we are to speak about art, all the women of France and Italy with their physical charms surely do not measure up to the grace of a musical work by Bach or Beethoven. I am ever regretful that I have no opportunity at the present time to set out these thoughts in public, in a wider context. — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 "Der heutige österreichisch-ungarische Generalstabsbericht," Neuigkeits-Welt-Blatt, June 11, 1916, 43rd year, extra edition, p. 1. This refers to the massive Russian Brusilov Offensive against the armies of the Central Powers on the Eastern Front. Launched on 4 June 1916, it lasted until late September. The offensive was most successful, but it came at a tremendous loss of life. 2 Leopold v. Wiese, "Pfingstgruß an die deutsche Jugend," Berliner Tageblatt, No. 297, 45th year, June 11, 1916, morning edition, pp. [1-2]. |