11. VI. 16 8°, heftiger Wettersturz, sehr kühl.
Wir gehen dennoch, wenn auch später als sonst fort. Per tTrambahn nach Hetzendorf Hütteldorf ; von dort geraten wir auf einen verbotenen Weg, der uns nach Weidlingau führt. Hier zu Tisch gegessen; dann, da inzwischen das Wetter immer besser wird, an schönen Villen vorüber ins Wurzbachtal. Auch diesen Weg gehen wir zum erstenmale u. machen so eine Schleife. *Extraausgaben melden eine beruhigende Lage gegenüber der Russenoffensive. 1 — — Karte von Mittelmann: Ex-Redakteur! — — Die Pfingstnummer der „N. Fr. Pr.“ bringt einen Aufsatz von Nietzsche’s Schwester über die Beziehungen ihres Bruders zu Frankreich u. England. 2 Die lesenswerte Studie zeigt in der Grund Anlage leider einen den gro ßben Fehler auf, daß prinzipiell kein Wert gelegt wird auf die Bestimmung der einzelnen Epochen, in der nen sich N.s [recte N.] seine Ansichten geäußert ha btten. Und doch kommt es gerade darauf am meisten an, zu wissen erfahren, daß N. offenbar nur in einem früheren Entwicklungsstadium für französische Kultur eingenommen war, in einem Stadium also, in dem er zunächst geistige Erfahrungen sammelte, ohne noch aber zu einem abschließenden Urteil gelangen zu können u. zu wollen! In jungen Jahren leidet auch das größte Genie an Irrtümern, u. weshalb es auch nicht angeht, solche Bekenntnisse ohneweiters den letzten Ergebnissen seiner Denkarbeit zu coordinieren. *Fridell leistet sich im „N. W. Journal“ den Jux, wider Shakespeare, ja sogar wider alle Kunst überhaupt zu Felde zu ziehen. 3 Er stellt ihr das Leben in einem Sinne gegenüber als würde u. müßte dieses die Kunst jene negieren u. ahnt nicht, daß schon allein mit der einer Gegenüberstellung von Kunst u. Leben die eigene selbstständige Funktion der Kunst von vornherein um- {287} schrieben ist erscheint. Die Kunst ist u. will eben etwas anderes sein als das Leben, u. da sie eben ein Anderes ist, findet sie darin zugleich ihre Existenzberechtigung. In welchem hohen [recte hohem] Sinne sie überdies auch eine Notwendigkeit des Lebens, sicher die höchste war, ist u. bleibt, eher dieses zu untersuchen wäre lohnend gewesen, nicht aber sie erst anzuzweifeln nötig. *Weingartner in der „N. Fr. Pr.“ [recte „N. W. Journal“] spricht von seinem bisherigen Internationalismus, 4 den er, in Anpassung an d enie gegenwärtigen Geschäftsverhältnissen sich anpassend, am liebsten ableugnen möchte. Aber freilich ist ihm noch völlig unklar, was Nationalismus u. was Internationalismus bedeute tn. ; Ddaher ist alles windig, was er an solchen hierhergehörenden Bekenntnissen dem Interviewer zum Besten gegeben hat. Wenn es für die Unreife dieses Musikers noch eines Beweises bedürfte, so genügte es darauf hinzuweisen, daß er zur Abwechslung schon wieder in der russischen Musik „neue Keime“ zu finden glaubt. Herr W., der sich soeben vom französischen, englischen u. amerikanischen Markt abgedrängt fühlt, rechnet offenbar auf den russischen Markt u. sieht daher „Keime“ auch dort, wo schlaffstes Menschentum sich wohl niemals zu Keimträgern entwickeln kann! — *Siegfried Ochs („N. Fr. Pr.“) nimmt Abschied vom Wiener Publikum, macht ihm Komplimente zur angeborenen Anlage, tadelt aber den Mangel an Fleiß u. Ausdauer. 5 — *„N. Fr. Pr.“, Leitartikel: Der Journalist streicht sich als „Publizisten“ heraus! Es So muß doch wohl etwas Schandvolles im Namen Titel u. Charakter des Journalisten liegen, wenn er hartnäckig darauf besteht, sich einen Publizisten zu nennen genannt zu werden. 6 *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 11, 1916. 8°, severe decline in the weather, very cool.
We go out nevertheless, later than usual. Tram to Hetzendorf Hütteldorf ; from there we take a forbidden path that leads us to Weidlingau. Here we have lunch; as the weather has in the meantime continually improved, we go into the Wurzbach Valley, past attractive villas. This path, too, we take for the first time, and thus make a loop. *Extra editions report a comforting situation with regard to the Russian offensive. 1 — — Postcard from Mittelmann: ex-editor! — — The Pentecost edition of the Neue Freie Presse includes an article by Nietzsche's sister concerning her brother's relationship to France and England. 2 The essay is worth reading but makes a crude contextual error, in that no value is, in principle, attached to determining the particular epochs in which Nietzsche expressed his opinions. And yet it is most important to learn that Nietzsche was apparently attracted to French culture only in an early stage of his development; that is, at a stage in which he was mainly collecting intellectual experiences without being able or wishing to reach a conclusive judgment! In their early years even the greatest geniuses suffer from mistakes; for this reason it is not appropriate to automatically co-ordinate such beliefs with the final formulations of their philosophical work. *In the Neues Wiener Journal , Fridell accomplishes the trick of going into battle against Shakespeare, indeed against all art in general. 3 He relates life to art in such a way, as if the former would, and must, negate the latter; and he does not realize that already, just with a comparison of art and life, the innate, independent function of art appears circumscribed from the outset. {287} Art is, and must be, something different from life; and by actually being something else it also finds the justification for its existence. With what higher purpose it is and remains, moreover, a necessity of life – the greatest necessity, for sure – is something that would be rather worth investigating; but it is not necessary to doubt this in the first place. *Weingartner, writing in the Neue Freie Presse [recte Neues Wiener Journal], speaks of his previous internationalism 4 which, in relation to the present financial circumstances, he would prefer to disavow. But it is of course completely unclear to him what nationalism and internationalism mean. Thus everything that he offers in the way of confessions on this topic to his interviewer is hot air. If one still needed evidence of the immaturity of this musician, then it would suffice to point out that, to change the subject again, he believes to have found "new seeds" in Russian music. Mr. Weingartner, who at this moment feels excluded from the French, English, and American markets, is apparently counting on the Russian market and thus finds "seeds" even where the most flaccid humanity can surely never develop into seed-bearers! — *Siegfried Ochs ( Neue Freie Presse ) says farewell to the Vienna audience, complimenting it on their innate disposition but criticizing their lack of diligence and stamina. 5 — *Leading article in the Neue Freie Presse : the journalist is boasting of being a "publicist"! Thus something disgraceful must surely lie in the title and character of a journalist, if he stubbornly insists on being called a publicist. 6 *
© Translation William Drabkin. |
11. VI. 16 8°, heftiger Wettersturz, sehr kühl.
Wir gehen dennoch, wenn auch später als sonst fort. Per tTrambahn nach Hetzendorf Hütteldorf ; von dort geraten wir auf einen verbotenen Weg, der uns nach Weidlingau führt. Hier zu Tisch gegessen; dann, da inzwischen das Wetter immer besser wird, an schönen Villen vorüber ins Wurzbachtal. Auch diesen Weg gehen wir zum erstenmale u. machen so eine Schleife. *Extraausgaben melden eine beruhigende Lage gegenüber der Russenoffensive. 1 — — Karte von Mittelmann: Ex-Redakteur! — — Die Pfingstnummer der „N. Fr. Pr.“ bringt einen Aufsatz von Nietzsche’s Schwester über die Beziehungen ihres Bruders zu Frankreich u. England. 2 Die lesenswerte Studie zeigt in der Grund Anlage leider einen den gro ßben Fehler auf, daß prinzipiell kein Wert gelegt wird auf die Bestimmung der einzelnen Epochen, in der nen sich N.s [recte N.] seine Ansichten geäußert ha btten. Und doch kommt es gerade darauf am meisten an, zu wissen erfahren, daß N. offenbar nur in einem früheren Entwicklungsstadium für französische Kultur eingenommen war, in einem Stadium also, in dem er zunächst geistige Erfahrungen sammelte, ohne noch aber zu einem abschließenden Urteil gelangen zu können u. zu wollen! In jungen Jahren leidet auch das größte Genie an Irrtümern, u. weshalb es auch nicht angeht, solche Bekenntnisse ohneweiters den letzten Ergebnissen seiner Denkarbeit zu coordinieren. *Fridell leistet sich im „N. W. Journal“ den Jux, wider Shakespeare, ja sogar wider alle Kunst überhaupt zu Felde zu ziehen. 3 Er stellt ihr das Leben in einem Sinne gegenüber als würde u. müßte dieses die Kunst jene negieren u. ahnt nicht, daß schon allein mit der einer Gegenüberstellung von Kunst u. Leben die eigene selbstständige Funktion der Kunst von vornherein um- {287} schrieben ist erscheint. Die Kunst ist u. will eben etwas anderes sein als das Leben, u. da sie eben ein Anderes ist, findet sie darin zugleich ihre Existenzberechtigung. In welchem hohen [recte hohem] Sinne sie überdies auch eine Notwendigkeit des Lebens, sicher die höchste war, ist u. bleibt, eher dieses zu untersuchen wäre lohnend gewesen, nicht aber sie erst anzuzweifeln nötig. *Weingartner in der „N. Fr. Pr.“ [recte „N. W. Journal“] spricht von seinem bisherigen Internationalismus, 4 den er, in Anpassung an d enie gegenwärtigen Geschäftsverhältnissen sich anpassend, am liebsten ableugnen möchte. Aber freilich ist ihm noch völlig unklar, was Nationalismus u. was Internationalismus bedeute tn. ; Ddaher ist alles windig, was er an solchen hierhergehörenden Bekenntnissen dem Interviewer zum Besten gegeben hat. Wenn es für die Unreife dieses Musikers noch eines Beweises bedürfte, so genügte es darauf hinzuweisen, daß er zur Abwechslung schon wieder in der russischen Musik „neue Keime“ zu finden glaubt. Herr W., der sich soeben vom französischen, englischen u. amerikanischen Markt abgedrängt fühlt, rechnet offenbar auf den russischen Markt u. sieht daher „Keime“ auch dort, wo schlaffstes Menschentum sich wohl niemals zu Keimträgern entwickeln kann! — *Siegfried Ochs („N. Fr. Pr.“) nimmt Abschied vom Wiener Publikum, macht ihm Komplimente zur angeborenen Anlage, tadelt aber den Mangel an Fleiß u. Ausdauer. 5 — *„N. Fr. Pr.“, Leitartikel: Der Journalist streicht sich als „Publizisten“ heraus! Es So muß doch wohl etwas Schandvolles im Namen Titel u. Charakter des Journalisten liegen, wenn er hartnäckig darauf besteht, sich einen Publizisten zu nennen genannt zu werden. 6 *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 11, 1916. 8°, severe decline in the weather, very cool.
We go out nevertheless, later than usual. Tram to Hetzendorf Hütteldorf ; from there we take a forbidden path that leads us to Weidlingau. Here we have lunch; as the weather has in the meantime continually improved, we go into the Wurzbach Valley, past attractive villas. This path, too, we take for the first time, and thus make a loop. *Extra editions report a comforting situation with regard to the Russian offensive. 1 — — Postcard from Mittelmann: ex-editor! — — The Pentecost edition of the Neue Freie Presse includes an article by Nietzsche's sister concerning her brother's relationship to France and England. 2 The essay is worth reading but makes a crude contextual error, in that no value is, in principle, attached to determining the particular epochs in which Nietzsche expressed his opinions. And yet it is most important to learn that Nietzsche was apparently attracted to French culture only in an early stage of his development; that is, at a stage in which he was mainly collecting intellectual experiences without being able or wishing to reach a conclusive judgment! In their early years even the greatest geniuses suffer from mistakes; for this reason it is not appropriate to automatically co-ordinate such beliefs with the final formulations of their philosophical work. *In the Neues Wiener Journal , Fridell accomplishes the trick of going into battle against Shakespeare, indeed against all art in general. 3 He relates life to art in such a way, as if the former would, and must, negate the latter; and he does not realize that already, just with a comparison of art and life, the innate, independent function of art appears circumscribed from the outset. {287} Art is, and must be, something different from life; and by actually being something else it also finds the justification for its existence. With what higher purpose it is and remains, moreover, a necessity of life – the greatest necessity, for sure – is something that would be rather worth investigating; but it is not necessary to doubt this in the first place. *Weingartner, writing in the Neue Freie Presse [recte Neues Wiener Journal], speaks of his previous internationalism 4 which, in relation to the present financial circumstances, he would prefer to disavow. But it is of course completely unclear to him what nationalism and internationalism mean. Thus everything that he offers in the way of confessions on this topic to his interviewer is hot air. If one still needed evidence of the immaturity of this musician, then it would suffice to point out that, to change the subject again, he believes to have found "new seeds" in Russian music. Mr. Weingartner, who at this moment feels excluded from the French, English, and American markets, is apparently counting on the Russian market and thus finds "seeds" even where the most flaccid humanity can surely never develop into seed-bearers! — *Siegfried Ochs ( Neue Freie Presse ) says farewell to the Vienna audience, complimenting it on their innate disposition but criticizing their lack of diligence and stamina. 5 — *Leading article in the Neue Freie Presse : the journalist is boasting of being a "publicist"! Thus something disgraceful must surely lie in the title and character of a journalist, if he stubbornly insists on being called a publicist. 6 *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 "Die Russen bei Kolki über den Styr zurückgeworfen," Neuigkeits-Welt-Blatt, June 11, 1916, 43rd year, extra edition, p. 1. The Brusilov Offensive against the armies of the Central Powers on the Eastern Front was the Russian Empire's greatest feat of arms during World War I. Launched on 4 June 1916, it lasted until late September. The offensive was highly successful, but it came at a tremendous loss of life. 2 Elisabeth Förster-Nietzsche, "Nietzsche, Frankreich und England," Neue Freie Presse, No. 18608, June 11, 1916, Pfingstbeilage, pp. 43-46. 3 Egon Friedell, "Dialog über Shakespear," Neues Wiener Journal, No. 8123, June 11, 1916, 24th year, pp. 11-12. 4 J. M. J–k., "Stunden mit Felix v. Weingartner," Neues Wiener Journal, No. 8123, June 11, 1916, 24th year, p. 9. 5 Siegfried Ochs, "Abschied von Wien," Neue Freie Presse, No. 18608, June 11, 1916, Pfingstbeilage, pp. 37-38. 6 "An unsere Leser!," Neue Freie Presse, No. 18608, June 11, 1916, p. 1. |