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22. VI. 16 Wolkenlos!

— Von Kaltenleutgeben fort in der Richtung Heiligenkreuz. Die Atmosphäre macht gewittrigen Eindruck; nur aber mit Rücksicht darauf, daß mindestens vormittags kein Regen zu erwarten ist war, riskierten wir den Weg über Sittendorf nach Heiligenkreuz fortzusetzen. Im Walde vor Heiligenkreuz finden wir an einer Stelle starke Bodennässe; dort scheint die Sonne wegen der großen Höhe der Baumkronen überhaupt keinen Zutritt zu finden. Als wir diese Stelle passierten, vernahmen wir ein befremdendes, ja peinliches Gesumme von Insekten, das beinahe die Kraft eines Propellergeräusches hatte erreichte. Wir hatten nicht wenig Angst sogar vor Insektenstiche u. dgl. Glücklicherweise hielten sich die Schwärme ganz hoch oben auf, wo sie in Sonne ihre Evolutionen ausführten. Um 1h trafen wir in Heiligenkreuz bei in bester Stimmung ein u. das gute Essen veranlaßte uns, Erkundigungen nach Wohnungspreisen im Gasthof einzuziehen. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit günstige Bedingungen, die einen Aufenthalt in Heiligenkreuz sogar rätlich erscheinen lassen könnten. Nach kurzer Ruhepause wandern wir weiter über Siegenfeld nach Baden. Der uns schon vertraute Weg nach Siegenfeld erscheint uns heute beinahe in neuer Schönheit: die weiten Wiesen, die einsamen Wälder runden sich zu einem Naturganzen, das hier besondere Wirkung tut. Baden sehen wir in voller Gepflegtheit; wenig vorteilhaft erscheinen uns dagegen die Bewohner, wenn wir wieder von der aufdringlichen Kleidung der in Gärten u. Promenaden anzutreffenden Gesellschaft absehen. – Im ganzen hatten wir 5 Stunden Gehzeit hinter uns! —

*

Extraausgabe bringt günstige Meldung aus Ost-Galizien. 1 — Die Schönheit des Tages steigert sich, je mehr der Tag vorrückt u. wir erleben in Wien einen Abend voll seltenem Zauber.

*

Förster (s. „Arbeiter Ztg.;“) fordert von den Deutschen, die sollten sich von „machtpolitischen Traditionen loslösen“. Er fordert dies unter dem Vorwande, daß auch alle übrigen Staaten {301} „dasselbe werden tun müssen“. 2 Seine Forderung ist u. bleibt, auch wenn zunächst auch sie nur in Worten ausgesprochen wird, doch immerhin eine Tatsache, ja eine Tat selbst. Und da ist eben das Unlogische sowie Hochverräterische dieser Tat, daß F. damit etwas sie in die Welt setzt, ohne die entsprechenden Garantien ihr mitzugeben. Würde F. dieselbe Tat auch, ja ganz besonders u. in erster Linie an Deutschlands Gegner, an Frankreich u. England adressiert haben, so würde besten Falls die Zumutung seiner Ideen an Deutschland dann bestenfalls noch zu begreifen u. zu entschuldigen sein. Die Beleidigung durch die Tat drückt sich also darin aus, daß F. tut, als hätten Deutschlands Gegner sich von ihren machtpolitischen Traditionen bereits losgesagt, daß er tut, als hätten die Engländer schon getan, was sie nach Försters Meinung tun müssen u. daß nur noch Deutschland der einzige Staat ist, der diesen Ideen Gefolgschaft versagt. Welche Unzulänglichkeit eines wahren Professorengehirnes nicht zu begreifen, daß eine Forderung, auch wenn sie ein das Wort Müssen ausspricht in den Mund nimmt, noch lange nicht mit Erfüllung identisch ist. —

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© Transcription Marko Deisinger.

June 22, 1916, cloudless!

— From Kaltenleutgeben in the direction of Heiligenkreuz. The atmosphere gives the impression of a storm brewing; but only in view of there being no rain expected, at least in the morning, we risked continuing our journey via Sittendorf to Heiligenkreuz. In the forest before Heiligenkreuz we find one spot where the ground is very wet; there the sun seems to have found no access on account of the height of the treetops. As we passed this place, we encountered a disconcerting, indeed distressing, humming of insects that nearly reached the intensity of the noise from a propeller. We were not a little afraid of insect bites and the like. Fortunately the swarm remained high up, where they carried out their evolutions in the sunshine. At 1 o'clock we arrived in Heiligenkreuz in the best of spirits; and a good meal prompted us to enquire about the price of accommodation in the guest house. On this occasion we learn of favorable conditions that could make a stay in Heiligenkreuz even advisable. After a short pause, we walked further, past Siegenfeld to Baden. The path to Siegenfeld, which we already knew, appeared to us today almost in new beauty: the broad meadows and the isolated woods join to form a natural whole, which has a special effect here. We see Baden in its full sleekness; less advantageous, on the other hand, was the appearance of the residents, if we again disregard the showy clothing of the people we saw in gardens and along walks. – In all we had five hours of walking behind us! —

*

Extra editions offer favorable reports from East Galicia. 1 — The weather becomes ever more beautiful as the day progresses, and we experience in Vienna an evening of rare magic.

*

Förster (see the Arbeiter-Zeitung ) tells the Germans that they should "free themselves from the power-political traditions." He asks this under the pretext that all the other states would also {301} "have to do the same thing." 2 His demand, though spoken only in words, nonetheless remains a matter of fact, verily a deed. And here is the very illogical, and highly treasonous, aspect of this deed: that Förster places it in the world without providing it with the appropriate guarantees. If Förster had addressed the same deed, particularly and in the first place to France and England, then the imposition of his ideas on Germany would then be at best still understandable and excusable. The abusiveness of the deed comes from Förster's assumption that Germany's opponents have already renounced their power-political traditions; he behaves as if the English have already done what, according to Förster, "they ought to do" and that Germany is the only country that has still refused allegiance to these ideas. What deficiency of a true professorial brain not to understand that a demand, even when it uses the word "must," is by no means identical with fulfillment. —

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© Translation William Drabkin.

22. VI. 16 Wolkenlos!

— Von Kaltenleutgeben fort in der Richtung Heiligenkreuz. Die Atmosphäre macht gewittrigen Eindruck; nur aber mit Rücksicht darauf, daß mindestens vormittags kein Regen zu erwarten ist war, riskierten wir den Weg über Sittendorf nach Heiligenkreuz fortzusetzen. Im Walde vor Heiligenkreuz finden wir an einer Stelle starke Bodennässe; dort scheint die Sonne wegen der großen Höhe der Baumkronen überhaupt keinen Zutritt zu finden. Als wir diese Stelle passierten, vernahmen wir ein befremdendes, ja peinliches Gesumme von Insekten, das beinahe die Kraft eines Propellergeräusches hatte erreichte. Wir hatten nicht wenig Angst sogar vor Insektenstiche u. dgl. Glücklicherweise hielten sich die Schwärme ganz hoch oben auf, wo sie in Sonne ihre Evolutionen ausführten. Um 1h trafen wir in Heiligenkreuz bei in bester Stimmung ein u. das gute Essen veranlaßte uns, Erkundigungen nach Wohnungspreisen im Gasthof einzuziehen. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit günstige Bedingungen, die einen Aufenthalt in Heiligenkreuz sogar rätlich erscheinen lassen könnten. Nach kurzer Ruhepause wandern wir weiter über Siegenfeld nach Baden. Der uns schon vertraute Weg nach Siegenfeld erscheint uns heute beinahe in neuer Schönheit: die weiten Wiesen, die einsamen Wälder runden sich zu einem Naturganzen, das hier besondere Wirkung tut. Baden sehen wir in voller Gepflegtheit; wenig vorteilhaft erscheinen uns dagegen die Bewohner, wenn wir wieder von der aufdringlichen Kleidung der in Gärten u. Promenaden anzutreffenden Gesellschaft absehen. – Im ganzen hatten wir 5 Stunden Gehzeit hinter uns! —

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Extraausgabe bringt günstige Meldung aus Ost-Galizien. 1 — Die Schönheit des Tages steigert sich, je mehr der Tag vorrückt u. wir erleben in Wien einen Abend voll seltenem Zauber.

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Förster (s. „Arbeiter Ztg.;“) fordert von den Deutschen, die sollten sich von „machtpolitischen Traditionen loslösen“. Er fordert dies unter dem Vorwande, daß auch alle übrigen Staaten {301} „dasselbe werden tun müssen“. 2 Seine Forderung ist u. bleibt, auch wenn zunächst auch sie nur in Worten ausgesprochen wird, doch immerhin eine Tatsache, ja eine Tat selbst. Und da ist eben das Unlogische sowie Hochverräterische dieser Tat, daß F. damit etwas sie in die Welt setzt, ohne die entsprechenden Garantien ihr mitzugeben. Würde F. dieselbe Tat auch, ja ganz besonders u. in erster Linie an Deutschlands Gegner, an Frankreich u. England adressiert haben, so würde besten Falls die Zumutung seiner Ideen an Deutschland dann bestenfalls noch zu begreifen u. zu entschuldigen sein. Die Beleidigung durch die Tat drückt sich also darin aus, daß F. tut, als hätten Deutschlands Gegner sich von ihren machtpolitischen Traditionen bereits losgesagt, daß er tut, als hätten die Engländer schon getan, was sie nach Försters Meinung tun müssen u. daß nur noch Deutschland der einzige Staat ist, der diesen Ideen Gefolgschaft versagt. Welche Unzulänglichkeit eines wahren Professorengehirnes nicht zu begreifen, daß eine Forderung, auch wenn sie ein das Wort Müssen ausspricht in den Mund nimmt, noch lange nicht mit Erfüllung identisch ist. —

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© Transcription Marko Deisinger.

June 22, 1916, cloudless!

— From Kaltenleutgeben in the direction of Heiligenkreuz. The atmosphere gives the impression of a storm brewing; but only in view of there being no rain expected, at least in the morning, we risked continuing our journey via Sittendorf to Heiligenkreuz. In the forest before Heiligenkreuz we find one spot where the ground is very wet; there the sun seems to have found no access on account of the height of the treetops. As we passed this place, we encountered a disconcerting, indeed distressing, humming of insects that nearly reached the intensity of the noise from a propeller. We were not a little afraid of insect bites and the like. Fortunately the swarm remained high up, where they carried out their evolutions in the sunshine. At 1 o'clock we arrived in Heiligenkreuz in the best of spirits; and a good meal prompted us to enquire about the price of accommodation in the guest house. On this occasion we learn of favorable conditions that could make a stay in Heiligenkreuz even advisable. After a short pause, we walked further, past Siegenfeld to Baden. The path to Siegenfeld, which we already knew, appeared to us today almost in new beauty: the broad meadows and the isolated woods join to form a natural whole, which has a special effect here. We see Baden in its full sleekness; less advantageous, on the other hand, was the appearance of the residents, if we again disregard the showy clothing of the people we saw in gardens and along walks. – In all we had five hours of walking behind us! —

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Extra editions offer favorable reports from East Galicia. 1 — The weather becomes ever more beautiful as the day progresses, and we experience in Vienna an evening of rare magic.

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Förster (see the Arbeiter-Zeitung ) tells the Germans that they should "free themselves from the power-political traditions." He asks this under the pretext that all the other states would also {301} "have to do the same thing." 2 His demand, though spoken only in words, nonetheless remains a matter of fact, verily a deed. And here is the very illogical, and highly treasonous, aspect of this deed: that Förster places it in the world without providing it with the appropriate guarantees. If Förster had addressed the same deed, particularly and in the first place to France and England, then the imposition of his ideas on Germany would then be at best still understandable and excusable. The abusiveness of the deed comes from Förster's assumption that Germany's opponents have already renounced their power-political traditions; he behaves as if the English have already done what, according to Förster, "they ought to do" and that Germany is the only country that has still refused allegiance to these ideas. What deficiency of a true professorial brain not to understand that a demand, even when it uses the word "must," is by no means identical with fulfillment. —

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Der heutige österreichisch-ungarische Generalstabsbericht," Neuigkeits-Welt-Blatt, June 22, 1916, 43rd year, extra edition, p. 1.

2 "Politik und Moral. Eine Ansprache Professor Försters an seine Hörer," Arbeiter-Zeitung, No. 171, June 22, 1916, 28th year, p. 4.