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1. IX. 16

[in HS's hand:] Schöner Morgen; Nebel dampfen über den jüngsten Schneefeldern. „Lostag“ 1 nach Angabe des Kaplans. An die „Frkf. Ztg.“ (K): Wiener Adresse angegeben. [in JS's hand:] — 9¼–11½h Spaziergang bis hinter das Pettneuerwäldchen. — Von Dahms (Br. OJ 10/1, [23]); : neue Adresse; hofft gänzlich entlassen zu werden u. erkundigt sich nach dem Referat beim „Abend“. — Entschluss Mittwoch, den 6. früh abzureisen. Hiefür in [illeg]erster Linie bestimmend die Absicht, noch in diesem Monat ordentliche Arbeit an II2 zu machen, was aber die Vorsicht nahelegt, Lie-Liechen mindestens eine Woche zur Einstellung auf die in der Zwischenzeit doch sicher neu u. leider ungünstig veränderten Verhältnisse zu lassen. Vom 25. ab kompliziert sich die Sache ja ohnehin durch den Kampf mit den Schülern. —

— Kapitel „Auskomponierung“ in Angriff genommen. —

*

Novalis [’] „Märchen“ in „Ofterdingen“ 2 blos Allegorie (Goethe: „also ein sehr subordiniertes Kunstwerk“) – Goethes „Märchen“ „soll an alles u. nichts“ erinnern „inkalkulable Produktion.“ 3

*

¾5–½7h bei wohltuende warmer u. schöner Sonne improvisierter Spaziergang durch die Wiesen an der Villa Gomperz vorüber in der Richtung der höher gelegenen Häuser von Nasserein; von dort nun auch weiter quer feld- u. wiesenein, zwischen Hecken bis zu den ersten Häusern von St. Jakob. Von dort den oberen Weg zurück nach Nasserein u. nun wieder durch die untere Wiese nach St. Anton. Das erste Viertel des Weges war auch mir unbekannt; Lie-Liechen sogar die ganze erste Hälfte.

{401} Wir gaben uns aAllem, was wir zu sehen bekamen, mit neuer stiller Liebe hin u. es war uns zu Mute, als hätte die Natur all die Blümlein, Gräser, Sträucher, Wald u Feld zum erstenmal geschaffen u. als sähen wir diese Schöpfungen zum erstenmal. Geliebkost von der Natur, liebkosten wir auch sie in jedem Hälmchen. Wie immer hielt Lie-Liechen die Augen auch noch für die Geheimnisse offen u. wir gingen den Spuren der Zeugung nach, die so vielfältig sich manifestierend so rätselhaft in d ieas ewigen Rätsel des Endlosen strebt! Lie-Liechen pflückte auch einige Erd- u. Himbeeren, die uns au fs der Schüssel der Natur besser als auf dem Service der Gesellschaft schmeckten. Unterwegs trafen wir Kindergruppen, meist spielend – manches schöne Kind war darunter –, doch auch vielfach behilflich u. arbeitend unter Leitung von Erwachsenen. Im letzten Abschnitt des Weges begegnete uns ein Wägelchen mit Laub beladen u. geführt von einer jungen Frau u. einem kleinen Mädchen. Hinter ihnen ging ein kleiner Knabe mit, Feldgeräte u. Eßgeschirr tragend. Wir traten ins Gespräch u erfuhren so manchen Beitrag zum Kapitel der Leistungsfähigkeit der Frau in den gegenwärtigen Kriegszeiten. Dies nahm ich nun, zumal mich die Frau kannte, zum Anlaß, um den Frauen überhaupt ein Wort zu reden. Die Frau war nicht wenig erstaunt, von einem Mann ein solches Urteil für die Frauen u. gegen die Ueberhebung der Männer zu hören, u. gelegentlich meinte sie, ich möge darüber eine „Predigt halten“. Von Geheimrat Wendt erzählt sie dieselbe Frau, er wäre ihr „bester Freund“ gewesen u. hätte ihr öfter Briefe geschrieben, die sie noch verwahre. Das Männerregiment befürwortete glaubte sie aber damit selbst befürworten zu müssen, daß Frauen untereinander immer nur „Unfrieden“ hätten. —

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© Transcription Marko Deisinger.

September 1, 1916.

[in HS's hand:] A fine morning; mists are steaming over the most recent snow fields. "Weather Prognostication Day," 1 according to the chaplain. Postcard to the Frankfurter Zeitung : address in Vienna given. [in JS's hand:] — From 8:15 to 10:30, a walk as far as the Pettneu woods. — LetterOJ 10/1, [23] from Dahms: new address; he hopes to be released [from military service] completely and asks about the position at the Der Abend . — Decision to depart early on Wednesday 6th, primarily to get proper work done on Counterpoint 2 still this month, which however suggests taking the precaution of allowing at least one week for Lie-Liechen to adjust to the conditions which will surely have changed for the worse, unfortunately. From the 25th, the matter will in any event be complicated by the struggle with my pupils. —

— Chapter " Composing-Out " taken up. —

*

Novalis's "fairy tale" in Ofterdingen 2 is merely an allegory (Goethe: "thus a very subordinate art work") – Goethe's "fairy tale" "should recall everything and nothing" – "incalculable production." 3

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From 4:45 to 6:30, in soothingly warm and beautiful sunshine, an improvised walk passing by the meadows by the Villa Gomperz in the direction of the houses of Nasserein, which lie higher up. From there, now further again, through fields and meadows, between hedges as far as the first houses of St. Jakob. From there, back along the upper road to Nasserein and now again through the lower meadow to St. Anton. The first quarter of the way was unknown even to me; to Lie-Liechen, the entire first half was in fact new.

{401} We dedicated ourselves to everything we were able to see with a new, calm love; and we had the feeling that nature had made all the flowers, grasses, shrubs, woods and fields for the first time, and as if we were seeing these creations for the first time. Caressed by nature, we caressed it, too, in every stalk. As ever, Lie-Liechen's eyes still remained open even for the secrets [of nature], and we pursued the trail of procreation which, as much as it manifested itself in a varied way, strives so inscrutably for the eternally infinite! Lie-Liechen also picked a few strawberries and raspberries, which tasted better to us from nature's bowl than from the ritual of society. Along the way we met groups of children, most of whom were at play – many an attractive child were among them – but many of which were helpfully working under the supervision of adults. In the last section of our trip, we were met by a little wagon laden with foliage, drawn by a young woman and a small girl. Behind them walked a small boy, carrying field tools and cutlery. We fell into conversation and learned a great deal of information about the chapter on women's capabilities in the present wartime. This gave me the occasion, all the more as the woman knew me, to say a few words about women in general. The woman was not a little astonished to hear a man pronouncing such a judgment in favor of women and against the presumptuousness of men, and she said casually that I might "give a sermon" on it. The same women said of privy councilor Wendt that he had been her "best friend" and had often written letters to her, which she still possesses. But she believed that she herself had to endorse the rule of men, as women always displayed only "dissatisfaction" among themselves. —

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© Translation William Drabkin.

1. IX. 16

[in HS's hand:] Schöner Morgen; Nebel dampfen über den jüngsten Schneefeldern. „Lostag“ 1 nach Angabe des Kaplans. An die „Frkf. Ztg.“ (K): Wiener Adresse angegeben. [in JS's hand:] — 9¼–11½h Spaziergang bis hinter das Pettneuerwäldchen. — Von Dahms (Br. OJ 10/1, [23]); : neue Adresse; hofft gänzlich entlassen zu werden u. erkundigt sich nach dem Referat beim „Abend“. — Entschluss Mittwoch, den 6. früh abzureisen. Hiefür in [illeg]erster Linie bestimmend die Absicht, noch in diesem Monat ordentliche Arbeit an II2 zu machen, was aber die Vorsicht nahelegt, Lie-Liechen mindestens eine Woche zur Einstellung auf die in der Zwischenzeit doch sicher neu u. leider ungünstig veränderten Verhältnisse zu lassen. Vom 25. ab kompliziert sich die Sache ja ohnehin durch den Kampf mit den Schülern. —

— Kapitel „Auskomponierung“ in Angriff genommen. —

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Novalis [’] „Märchen“ in „Ofterdingen“ 2 blos Allegorie (Goethe: „also ein sehr subordiniertes Kunstwerk“) – Goethes „Märchen“ „soll an alles u. nichts“ erinnern „inkalkulable Produktion.“ 3

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¾5–½7h bei wohltuende warmer u. schöner Sonne improvisierter Spaziergang durch die Wiesen an der Villa Gomperz vorüber in der Richtung der höher gelegenen Häuser von Nasserein; von dort nun auch weiter quer feld- u. wiesenein, zwischen Hecken bis zu den ersten Häusern von St. Jakob. Von dort den oberen Weg zurück nach Nasserein u. nun wieder durch die untere Wiese nach St. Anton. Das erste Viertel des Weges war auch mir unbekannt; Lie-Liechen sogar die ganze erste Hälfte.

{401} Wir gaben uns aAllem, was wir zu sehen bekamen, mit neuer stiller Liebe hin u. es war uns zu Mute, als hätte die Natur all die Blümlein, Gräser, Sträucher, Wald u Feld zum erstenmal geschaffen u. als sähen wir diese Schöpfungen zum erstenmal. Geliebkost von der Natur, liebkosten wir auch sie in jedem Hälmchen. Wie immer hielt Lie-Liechen die Augen auch noch für die Geheimnisse offen u. wir gingen den Spuren der Zeugung nach, die so vielfältig sich manifestierend so rätselhaft in d ieas ewigen Rätsel des Endlosen strebt! Lie-Liechen pflückte auch einige Erd- u. Himbeeren, die uns au fs der Schüssel der Natur besser als auf dem Service der Gesellschaft schmeckten. Unterwegs trafen wir Kindergruppen, meist spielend – manches schöne Kind war darunter –, doch auch vielfach behilflich u. arbeitend unter Leitung von Erwachsenen. Im letzten Abschnitt des Weges begegnete uns ein Wägelchen mit Laub beladen u. geführt von einer jungen Frau u. einem kleinen Mädchen. Hinter ihnen ging ein kleiner Knabe mit, Feldgeräte u. Eßgeschirr tragend. Wir traten ins Gespräch u erfuhren so manchen Beitrag zum Kapitel der Leistungsfähigkeit der Frau in den gegenwärtigen Kriegszeiten. Dies nahm ich nun, zumal mich die Frau kannte, zum Anlaß, um den Frauen überhaupt ein Wort zu reden. Die Frau war nicht wenig erstaunt, von einem Mann ein solches Urteil für die Frauen u. gegen die Ueberhebung der Männer zu hören, u. gelegentlich meinte sie, ich möge darüber eine „Predigt halten“. Von Geheimrat Wendt erzählt sie dieselbe Frau, er wäre ihr „bester Freund“ gewesen u. hätte ihr öfter Briefe geschrieben, die sie noch verwahre. Das Männerregiment befürwortete glaubte sie aber damit selbst befürworten zu müssen, daß Frauen untereinander immer nur „Unfrieden“ hätten. —

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© Transcription Marko Deisinger.

September 1, 1916.

[in HS's hand:] A fine morning; mists are steaming over the most recent snow fields. "Weather Prognostication Day," 1 according to the chaplain. Postcard to the Frankfurter Zeitung : address in Vienna given. [in JS's hand:] — From 8:15 to 10:30, a walk as far as the Pettneu woods. — LetterOJ 10/1, [23] from Dahms: new address; he hopes to be released [from military service] completely and asks about the position at the Der Abend . — Decision to depart early on Wednesday 6th, primarily to get proper work done on Counterpoint 2 still this month, which however suggests taking the precaution of allowing at least one week for Lie-Liechen to adjust to the conditions which will surely have changed for the worse, unfortunately. From the 25th, the matter will in any event be complicated by the struggle with my pupils. —

— Chapter " Composing-Out " taken up. —

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Novalis's "fairy tale" in Ofterdingen 2 is merely an allegory (Goethe: "thus a very subordinate art work") – Goethe's "fairy tale" "should recall everything and nothing" – "incalculable production." 3

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From 4:45 to 6:30, in soothingly warm and beautiful sunshine, an improvised walk passing by the meadows by the Villa Gomperz in the direction of the houses of Nasserein, which lie higher up. From there, now further again, through fields and meadows, between hedges as far as the first houses of St. Jakob. From there, back along the upper road to Nasserein and now again through the lower meadow to St. Anton. The first quarter of the way was unknown even to me; to Lie-Liechen, the entire first half was in fact new.

{401} We dedicated ourselves to everything we were able to see with a new, calm love; and we had the feeling that nature had made all the flowers, grasses, shrubs, woods and fields for the first time, and as if we were seeing these creations for the first time. Caressed by nature, we caressed it, too, in every stalk. As ever, Lie-Liechen's eyes still remained open even for the secrets [of nature], and we pursued the trail of procreation which, as much as it manifested itself in a varied way, strives so inscrutably for the eternally infinite! Lie-Liechen also picked a few strawberries and raspberries, which tasted better to us from nature's bowl than from the ritual of society. Along the way we met groups of children, most of whom were at play – many an attractive child were among them – but many of which were helpfully working under the supervision of adults. In the last section of our trip, we were met by a little wagon laden with foliage, drawn by a young woman and a small girl. Behind them walked a small boy, carrying field tools and cutlery. We fell into conversation and learned a great deal of information about the chapter on women's capabilities in the present wartime. This gave me the occasion, all the more as the woman knew me, to say a few words about women in general. The woman was not a little astonished to hear a man pronouncing such a judgment in favor of women and against the presumptuousness of men, and she said casually that I might "give a sermon" on it. The same women said of privy councilor Wendt that he had been her "best friend" and had often written letters to her, which she still possesses. But she believed that she herself had to endorse the rule of men, as women always displayed only "dissatisfaction" among themselves. —

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 Lostag: a specific day in the farming calendar which, according to folk traditions, is significant for the weather in the coming weeks and thus for the execution of various agricultural tasks.

2 Heinrich von Ofterdingen: a fragmentary novel, first published posthumously by Friedrich Schlegel in 1802. As is typical of Romantic novelistic poetry, numerous dreams, conversations, songs or fairy tales are embedded in it.

3 Schenker took this Goethe quotation from the editor's introduction to Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in Goethes Werke 10, ed. Harry Maync (Meyers Klassiker-Ausgaben: Leipzig: Bibliographisches Institut, n.d.), pp. 214–215. The diary entry for August 21, 1916, shows that Schenker had read this edition (see diary entry for that day).