27.
— Starker Regen, Nässe dringt in die Schuhe. — An das Kriegshilfsbüro 2 Kr.. 1 — An Sophie 20 Kronen, Brief in Aussicht gestellt. — An Fr. Mendl (Br.): danke für den Besuch u. kündige meinerseits einen eventuell für Montag, den 4. Dez. an. — Orlay (7.); Prozedur abgeschlossen – 30 Kronen, (um 10 Kronen mehr als im Vorjahr.) — — Die Erinnerung des Menschen ist sie der ersten Jahre nicht mächtig u. reicht frühestens bis etwa ins 3. Lebensjahr, der noch früheren Jahre. Aehnlich die Menschheit im Großen! Wer aber war , es, der der [recte die] {519} Menschheit, als sie noch gleichsam in Windeln lag, so pflegte u. hegte, ähnlich wie die Mutter das neugeborene Kind? Muss nicht die Gottheit selbst Mutterstelle vertreten haben? Die Analogie geht noch weiter: Bald vergessen haben die Kinder die ihre Mutter, an deren Stelle nun fremde Erzieher u. Lehrer treten. Und so ähnlich sind schon seit langem so an Stelle der ersten Gottheitsmutter die Genies als Lehrer u. Erzieher der Menschen aufgetreten. Möge die Menschheit nun diesen allezeit verbunden bleiben! — Vor uns das Grab, vor uns doch nur Generationen, die genau so wieder am Anfang stehen werden, wie wir selbst standen, da wir zur Welt kamen. Hinter uns aber das Rätsel unserer Geburt u. viele andere Rätsel, die uns ungleich mehr als das Grab angehen. Sind es aber Darum sich an sie zu klammer ne man sich an die Genies, die uns mit all diesen Rätseln de ms Gestern u. Früher am glücklichsten verbinden, so ist damit wieder ein Grund gegeben. – Aller Fortschritt der Menschheit ist geradezu von vornherein durch immerwährend neue Teilungen des Geschlechtes begrenzt. Am Ende mag als das passendste Symbol dafür der Anblick jener Zahlenreihe gelten, die, zwischen 1 u. 2 eingeschoben u. auf Addition der aus immer neue nr Teilung entstandenen Zahlen beruhend, gleichwohl die Zahl 2 niemals erreichen kann. 2 Aber eben deshalb sei unter uns doch mindestens die Summe alles dessen, was je da war, stets gegenwärtig. Solche Summen-Menschen waren eben Goethe , Lessing, Schiller, Bach während man heutzutage weit u. breit keinen Mann findet, der ähnlich in seinem Geist den bereits aufgehäuften Vorrat an Stoff beherrsche nt würde. (Gerhard Hauptmann? Schnitzler? Wildgans? – Humanismus – Klassizismus von unendlichem Werte!!) — — Himmelsleiter des Fortschrittes – Himmel des Fortschrittes . . . — Die Reichen: Eigentlich sind es die Reichen, die blutige Revolution von oben nach unten † machen! Gegen die tolle Wut, mit der die Reichen ihre aggressive Revolution wider die Armen treiben, ist jene defensive Revolution, die umgekehrt die Armen von Zeit zu Zeit nur[?] aus Abwehr inscenieren, ein reines Kinderspiel. Haltet die Diebe, haltet die Revolutionäre schreien aber die Reichen! — — Presse: (speziell Wiener Presse) eine Art Wiener Mistbauer, der den Mist aus den Häusern {520} aufladet u. ihn dabei wieder in die Luft fliegen macht. — — 11h nachts Ueberführung des Kaisers in die Hofkappelle. Da tagsüber die Nässe anhält, zogen wir es vor, erst gegen ½11h nur einen flüchtigen Blick auf den Zug zu werfen. So spät gekommen, konnten wir tatsächlich nurmehr hinter dem letzten Spalier Platz finden u. zur Not nur gerade einige Windlichter erhaschen. Ueberaus bedauerlich war das Betragen der Bevölkerung, die den Anlaß förmlich zu einer ausgibigen [sic] Unterhaltung u. „Hetz“ benutzte. Unwillkürlich drängte sich das Gefühl auf, daß all diese einfachen Menschen aus dem Volke sich viel würdiger würden betragen haben, wenn sie der Leichenfeier eines Menschen ihresgleichen beigewohnt hätten; über den Kaiser gingen sie aber hinaus aus instinktiver Auflehnung gegen den Höhern [sic] , wie die Menschen ja überhaupt nichts in der Welt so rasch abzutun vermögen, als gerade nur das Höchste u. Würdigste. Nicht einmal in dieser Stunde konnte das tragische Schicksal des verewigten Kaisers, der doch so viel am Leben gelitten, konnte für ihn selbst ihm einigen Respekt des Volkes werben. Wenn doch nur all diese turbulenten Männer u. Frauen aus dem Volke hätten erwägen können, um wieviel leichter u. glücklicher sie ihr eigenes Leben zu tragen begünstigt sind. — — Wenn der Menschen Einbildung stark genug ist, Gott (u. Götter) vom Throne zu reißen, um sich selbst, so elende Erdenwürmer, über sie ihn zu erheben, welch’ leichtes Spiel hat dann dieselbe Einbildungskraft, wenn es gilt, Genies, die ja nur Menschen sind, herunterzusetzen u. sich mit allen Hebeln der Eitelkeit das Tollste, Unnatürlichste u. Unwahrste einzubilden! Als Pensum genommen, ist nicht die letztere Arbeit eine viel bescheidenere u. leichtere als die erstere? Daher auch das Wüten des Einbildungsorkanes im Menschheitsozean! — © Transcription Marko Deisinger. |
27.
—Heavy rain; dampness penetrates the shoes. — 2 Kronen for the War Aid Bureau. 1 — To Sophie, 20 Kronen, with the promise of a letter to follow. — Letter to Mrs. Mendl: I thank her for her visit and announce my own possibly for Monday, December 4. — Seventh visit to Orlay; the procedure is completed – 30 Kronen (10 Kronen more than in the previous year). — — A person's memory is not powerful in the first years of his life, and this inability persists until about the third year. It is similar for humanity in the large! But who was it who cared for and nourished {519} humanity as it lay in diapers, so to speak, as a mother looks after her newborn child? Must not the divinity itself taken the mother's place? The analogy can be taken even further: children soon forget their mother, whose place is now taken by new masters and teachers. And similarly, in place of the first mothers of divinity, the geniuses have for a long time appeared on the scene, as the masters and teachers of people. May humanity be beholden to them for all time! — Before us lies the grave; but ahead of us only generations who likewise will stand at the beginning, as we ourselves stood when we came into the world. Behind us, however, the mystery of our birth and many other mysteries that concern us more than the grave. For that reason one should attach oneself to the geniuses, who are best able to connect us to all these mysteries of yesterday and before. – All human progress is limited at the outset by continually new divisions of the generations. Ultimately, the most appropriate symbol for this may be found by looking at that row of numbers that are inserted between 1 and 2, and which, based on an ever new division of the resultant number, can nonetheless never reach the number 2. 2 But for that very reason, the sum of everything that ever was is at least always present among us. Such summative persons were the likes of Goethe , Lessing, Schiller, and Bach whereas nowadays one looks far and wide, and finds no one who is in command of the quantity of material that has accrued. (Gerhard Hauptmann? Schnitzler? Wildgans? – humanism – classicism of infinite worth!!) — — Jacob's ladder of progress – heaven of progress . . . — The rich: it is actually the rich who are making the bloody revolution from the top down! Against that mad viciousness with which the rich perpetrate their aggressive revolution against the poor, the defensive revolution that, conversely, the poor orchestrate from time to time only to protect themselves, is pure child's play. But the rich scream: ["]Restrain the thieves, restrain the revolutionaries!["] — — The press (especially the Viennese press): a kind of Viennese rubbish farmer, who loads the rubbish from the houses {520} and then makes it fly again into the air. — — At 11 o'clock at night, the conveyance of the Emperor to the court chapel. As the wet conditions persisted throughout the day, we decided to have only a quick look at the procession, and not until 10:30. Having arrived so late, we were in fact able to find space only behind the last row and catch a glimpse of just a few lanterns. The behavior of the populace was thoroughly regrettable; they verily used the occasion as entertainment, and "for a laugh." The feeling instinctively arose in me that all these simple folk would have behaved in a more dignified way had they been attending the funeral of one of their own type; but they paid no regard to the emperor, from an instinctive rebellion against one of higher rank, as there is nothing at all in the world that people will dismiss more quickly than that which is highest and most dignified. Not even in this hour could the tragic fate of the immortalized Emperor, who suffered so much in his life, earn him a certain respect from the people. If only all these turbulent men and women of the folk could realize how much more easily and happily they were favored in sustaining their own lives. — — When the vanity of man is strong enough to dethrone God (and gods), to raise themselves, poor earthworms, above Him, what an easy game this same power of imagination would have if it were a case of bringing down geniuses, who are after all only humans, and with all the levers of vanity to imagine themselves as the craziest, most unnatural and untruthful! Considered as a task, is not the latter a much more modest, easier piece of work than the former? Thus also the raging of the storm of conceit in the sea of humanity! — © Translation William Drabkin. |
27.
— Starker Regen, Nässe dringt in die Schuhe. — An das Kriegshilfsbüro 2 Kr.. 1 — An Sophie 20 Kronen, Brief in Aussicht gestellt. — An Fr. Mendl (Br.): danke für den Besuch u. kündige meinerseits einen eventuell für Montag, den 4. Dez. an. — Orlay (7.); Prozedur abgeschlossen – 30 Kronen, (um 10 Kronen mehr als im Vorjahr.) — — Die Erinnerung des Menschen ist sie der ersten Jahre nicht mächtig u. reicht frühestens bis etwa ins 3. Lebensjahr, der noch früheren Jahre. Aehnlich die Menschheit im Großen! Wer aber war , es, der der [recte die] {519} Menschheit, als sie noch gleichsam in Windeln lag, so pflegte u. hegte, ähnlich wie die Mutter das neugeborene Kind? Muss nicht die Gottheit selbst Mutterstelle vertreten haben? Die Analogie geht noch weiter: Bald vergessen haben die Kinder die ihre Mutter, an deren Stelle nun fremde Erzieher u. Lehrer treten. Und so ähnlich sind schon seit langem so an Stelle der ersten Gottheitsmutter die Genies als Lehrer u. Erzieher der Menschen aufgetreten. Möge die Menschheit nun diesen allezeit verbunden bleiben! — Vor uns das Grab, vor uns doch nur Generationen, die genau so wieder am Anfang stehen werden, wie wir selbst standen, da wir zur Welt kamen. Hinter uns aber das Rätsel unserer Geburt u. viele andere Rätsel, die uns ungleich mehr als das Grab angehen. Sind es aber Darum sich an sie zu klammer ne man sich an die Genies, die uns mit all diesen Rätseln de ms Gestern u. Früher am glücklichsten verbinden, so ist damit wieder ein Grund gegeben. – Aller Fortschritt der Menschheit ist geradezu von vornherein durch immerwährend neue Teilungen des Geschlechtes begrenzt. Am Ende mag als das passendste Symbol dafür der Anblick jener Zahlenreihe gelten, die, zwischen 1 u. 2 eingeschoben u. auf Addition der aus immer neue nr Teilung entstandenen Zahlen beruhend, gleichwohl die Zahl 2 niemals erreichen kann. 2 Aber eben deshalb sei unter uns doch mindestens die Summe alles dessen, was je da war, stets gegenwärtig. Solche Summen-Menschen waren eben Goethe , Lessing, Schiller, Bach während man heutzutage weit u. breit keinen Mann findet, der ähnlich in seinem Geist den bereits aufgehäuften Vorrat an Stoff beherrsche nt würde. (Gerhard Hauptmann? Schnitzler? Wildgans? – Humanismus – Klassizismus von unendlichem Werte!!) — — Himmelsleiter des Fortschrittes – Himmel des Fortschrittes . . . — Die Reichen: Eigentlich sind es die Reichen, die blutige Revolution von oben nach unten † machen! Gegen die tolle Wut, mit der die Reichen ihre aggressive Revolution wider die Armen treiben, ist jene defensive Revolution, die umgekehrt die Armen von Zeit zu Zeit nur[?] aus Abwehr inscenieren, ein reines Kinderspiel. Haltet die Diebe, haltet die Revolutionäre schreien aber die Reichen! — — Presse: (speziell Wiener Presse) eine Art Wiener Mistbauer, der den Mist aus den Häusern {520} aufladet u. ihn dabei wieder in die Luft fliegen macht. — — 11h nachts Ueberführung des Kaisers in die Hofkappelle. Da tagsüber die Nässe anhält, zogen wir es vor, erst gegen ½11h nur einen flüchtigen Blick auf den Zug zu werfen. So spät gekommen, konnten wir tatsächlich nurmehr hinter dem letzten Spalier Platz finden u. zur Not nur gerade einige Windlichter erhaschen. Ueberaus bedauerlich war das Betragen der Bevölkerung, die den Anlaß förmlich zu einer ausgibigen [sic] Unterhaltung u. „Hetz“ benutzte. Unwillkürlich drängte sich das Gefühl auf, daß all diese einfachen Menschen aus dem Volke sich viel würdiger würden betragen haben, wenn sie der Leichenfeier eines Menschen ihresgleichen beigewohnt hätten; über den Kaiser gingen sie aber hinaus aus instinktiver Auflehnung gegen den Höhern [sic] , wie die Menschen ja überhaupt nichts in der Welt so rasch abzutun vermögen, als gerade nur das Höchste u. Würdigste. Nicht einmal in dieser Stunde konnte das tragische Schicksal des verewigten Kaisers, der doch so viel am Leben gelitten, konnte für ihn selbst ihm einigen Respekt des Volkes werben. Wenn doch nur all diese turbulenten Männer u. Frauen aus dem Volke hätten erwägen können, um wieviel leichter u. glücklicher sie ihr eigenes Leben zu tragen begünstigt sind. — — Wenn der Menschen Einbildung stark genug ist, Gott (u. Götter) vom Throne zu reißen, um sich selbst, so elende Erdenwürmer, über sie ihn zu erheben, welch’ leichtes Spiel hat dann dieselbe Einbildungskraft, wenn es gilt, Genies, die ja nur Menschen sind, herunterzusetzen u. sich mit allen Hebeln der Eitelkeit das Tollste, Unnatürlichste u. Unwahrste einzubilden! Als Pensum genommen, ist nicht die letztere Arbeit eine viel bescheidenere u. leichtere als die erstere? Daher auch das Wüten des Einbildungsorkanes im Menschheitsozean! — © Transcription Marko Deisinger. |
27.
—Heavy rain; dampness penetrates the shoes. — 2 Kronen for the War Aid Bureau. 1 — To Sophie, 20 Kronen, with the promise of a letter to follow. — Letter to Mrs. Mendl: I thank her for her visit and announce my own possibly for Monday, December 4. — Seventh visit to Orlay; the procedure is completed – 30 Kronen (10 Kronen more than in the previous year). — — A person's memory is not powerful in the first years of his life, and this inability persists until about the third year. It is similar for humanity in the large! But who was it who cared for and nourished {519} humanity as it lay in diapers, so to speak, as a mother looks after her newborn child? Must not the divinity itself taken the mother's place? The analogy can be taken even further: children soon forget their mother, whose place is now taken by new masters and teachers. And similarly, in place of the first mothers of divinity, the geniuses have for a long time appeared on the scene, as the masters and teachers of people. May humanity be beholden to them for all time! — Before us lies the grave; but ahead of us only generations who likewise will stand at the beginning, as we ourselves stood when we came into the world. Behind us, however, the mystery of our birth and many other mysteries that concern us more than the grave. For that reason one should attach oneself to the geniuses, who are best able to connect us to all these mysteries of yesterday and before. – All human progress is limited at the outset by continually new divisions of the generations. Ultimately, the most appropriate symbol for this may be found by looking at that row of numbers that are inserted between 1 and 2, and which, based on an ever new division of the resultant number, can nonetheless never reach the number 2. 2 But for that very reason, the sum of everything that ever was is at least always present among us. Such summative persons were the likes of Goethe , Lessing, Schiller, and Bach whereas nowadays one looks far and wide, and finds no one who is in command of the quantity of material that has accrued. (Gerhard Hauptmann? Schnitzler? Wildgans? – humanism – classicism of infinite worth!!) — — Jacob's ladder of progress – heaven of progress . . . — The rich: it is actually the rich who are making the bloody revolution from the top down! Against that mad viciousness with which the rich perpetrate their aggressive revolution against the poor, the defensive revolution that, conversely, the poor orchestrate from time to time only to protect themselves, is pure child's play. But the rich scream: ["]Restrain the thieves, restrain the revolutionaries!["] — — The press (especially the Viennese press): a kind of Viennese rubbish farmer, who loads the rubbish from the houses {520} and then makes it fly again into the air. — — At 11 o'clock at night, the conveyance of the Emperor to the court chapel. As the wet conditions persisted throughout the day, we decided to have only a quick look at the procession, and not until 10:30. Having arrived so late, we were in fact able to find space only behind the last row and catch a glimpse of just a few lanterns. The behavior of the populace was thoroughly regrettable; they verily used the occasion as entertainment, and "for a laugh." The feeling instinctively arose in me that all these simple folk would have behaved in a more dignified way had they been attending the funeral of one of their own type; but they paid no regard to the emperor, from an instinctive rebellion against one of higher rank, as there is nothing at all in the world that people will dismiss more quickly than that which is highest and most dignified. Not even in this hour could the tragic fate of the immortalized Emperor, who suffered so much in his life, earn him a certain respect from the people. If only all these turbulent men and women of the folk could realize how much more easily and happily they were favored in sustaining their own lives. — — When the vanity of man is strong enough to dethrone God (and gods), to raise themselves, poor earthworms, above Him, what an easy game this same power of imagination would have if it were a case of bringing down geniuses, who are after all only humans, and with all the levers of vanity to imagine themselves as the craziest, most unnatural and untruthful! Considered as a task, is not the latter a much more modest, easier piece of work than the former? Thus also the raging of the storm of conceit in the sea of humanity! — © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 The War Aid Bureau, part of the Ministry of the Interior, supported wartime assistance through the collection of donations, the mounting of events, and the publication of books, picture books and postcards. 2 Schenker is referring to the convergent series in mathematics formed by the sum 1 + 1/2 + 1/4 + 1/8 + 1/16 + …, of which the limit (2) – is never actually reached. |
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Format† Double underlined |