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24. 0°, Schnee auf den Dächern.

— Von Dahms (Br.OJ 10/1, [27]): neueste Bildaufnahme; dankt bewegt für das ihm meinerseits Zugedachte. — Von Roth (Br.OJ 13/30, [30]): dankt ebenfalls für meine Aufmerksamkeit u. äußert sich über die Beziehung Brahmsens zu Händel noch recht verworren. — Von Hupka ein für seine Schwester bestimmter Brief, den ich sofort retourniere; bei dieser Gelegenheit bringe ich meine Teilnahme zum Ausdruck wegen seines neuerlichen Mißgeschickes. — Von An Dr. Plattensteiner (Br.): Dank für Beethoven; 1 wie immer in solchen unbequemen Situationen habe ich es schwer Worte zu finden, die bei aller Liebenswürdigkeit gegenüber dem freundlichen Absender doch auch nicht irre- {628} führendes Lob des eingesandten Werkes enthalten sollen. — Um 3h zu Marienbergs, wo wir auch die gegenwärtig im Kriegsdienst stehende Söhne antreffen. Aus den Aeußerungen des Dr. Siegmund war bedauerlicherweise zu konstatieren, wie verderblich die Methode der deutschen Intellektuellen wird, die gleichsam über Anklage unserer politischen u. intellektuellen wirtschaftlichen Feinde eine hochnotpeinliche Untersuchung ihrer selbst anstellen u. vor aller Welt führen. So z. B. schien das Wort „Barbaren“ doch dahin gewirkt zu haben, daß sich die jungen Leute offenbar erschreckt fragen, weshalb die Deutschen so genannt werden, u. nun einmal bei solcher Fragestellung allzu willig auch schon eine Erklärung zu haben vorgeben, die in Wahrheit aber den Verhältnissen durchaus nicht entspricht u. höchstens nur den bösen Wünschen unserer Feinde. Auch die Uneinigkeit der Deutschen, besonders der Gegensatz der Deutschen in der Schweiz u. in Nordamerika scheint starken Eindruck zu machen, ohne daß sich der Beobachter eine Erklärung für diese Erscheinung zu verschaffen wüßte. In der Tat ist all die Selbstkasteiung der Deutschen nur als letzter Rest jener hündischen Unterwürfigkeit zu betrachten, in der sie bis vor 50 Jahren gegenüber aller Welt sich befanden. Eine schöne Tugend der Deutschen ist ihnen im Laufe der früheren Jahrhunderte zum Verhängnis geworden: die Tugend nämlich, auch dem fFremden liebevoll nachzugehen u. vor allem die Pflicht auch in einem fremden Staate so genau zu nehmen, als sie sie zuhause zu nehmen gewohnt sind. Wir blieben bei Marienbergs bis 5h. Der alte Herr erzählt eine hübsche jüdische Anekdote, die freilich gut nur im Jargon wirkt: Ein Jude empfindet plötzlich am Samstag nachmittag ein heftiges Verlangen nach einer Zigarre, geniert sich aber vor dem andern Juden, das Verbot zu umgehen, läuft daher zum Fenster, läßt den Vorhang herunter u. macht am hellichten Tage Licht u. sagt: Die Nacht fällt zu (ein),man weiß nicht wieso – u. schon hat er die Zigarre im Munde. {629} Zum Schluß sei noch eine seltsame Scene erwähnt, die sich so zutrug: Dr. Siegmund erklärte, uns nachhause begleiten zu wollen; die Situation war mir sehr unangenehm, weil ich unter allen Umständen den Begleiter, wenn nicht für dieses, so doch für ein anderesmal der allgemeinen Sitte folgend zu uns hätte bitten müssen. Ich benütze daher schnell die Gelegenheit, um mit gespielter Unbefangenheit das Geheimnis unserer beiden zwei Wohnungen zu lüften, das erklären sollte, weshalb wir weder einladen, noch Einladungen erwidern. Eine gewisse Betroffenheit war sofort auf allen Gesichtern wahrzunehmen, während ich, immerzu den Unbefangenen spielend, diese Unbequemlichkeit der Wohnungen lediglich mit den hohen Mietpreisen zu erklären mich bestrebte. Auch Lie-Liechen empfand diesen Augenblick, wie sie mir später sagte, überaus peinlich, doch belehrte ich sie, daß es kein Mittel gegen solche Unannehmlichkeiten gäbe, ausgenommen das Schicksal nicht einmal aus Laune herauszufordern, d. h. gar nicht erst in eine Situation hineingehen, in der solche oder ähnliche Scenen mit aller Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Wie recht ich habe ergibt sich schon daraus, daß wir sonst in größter Verlegenheit wären, der Familie M. zu erklären, weshalb wir nicht einmal die beiden Söhne zu uns bitten, wenn wir auch schon daran nicht denken, die alten Leute einzuladen.

© Transcription Marko Deisinger.

24. 0°, snow on the rooftops.

— LetterOJ 10/1, [27] from Dahms: latest photograph; he thanks me movingly for my intentions for him. — LetterOJ 13/30, [30] from Roth: he likewise thanks me for my attention and says something quite unintelligible about Brahms's relationship to Händel. — From Hupka, a letter intended for his sister, which I return immediately; on this occasion I express my sympathy regarding his recent misfortune. — Letter to Dr. Plattensteiner: thanks for Beethoven; 1 as always in such awkward situations, I have difficulty finding the words which, in spite of all kindness with respect to the amicable sender, ought not contain misleading words of praise. {628} — At 3 o'clock, to the Marienbergs, where we also meet their sons who are at present in military service. From the remarks made by Dr. Siegmund one could regrettably establish how pernicious the German intellectuals' method of reasoning is: when denounced by our political and commercial enemies, they subject themselves to an examination which makes one cringe, and which they parade before the whole world. Thus for example the word "barbarians" seems to have had such an effect that the young people evidently ask, in shock, why the Germans are referred to in this way; and once they have put this question they only too willingly purport to have an explanation, which in truth bears no relationship to the circumstances – at most, with the wicked intentions of our enemies. The lack of unity among the Germans, especially the opposition of the Germans in Switzerland and North America, seems to make a strong impression, without the observer being able to offer an explanation for this phenomenon. In fact, all the self-chastisement of the Germans is only the last vestige of that dog-like subservience which existed up until 50 years ago in relation to the entire world. A beautiful virtue of the Germans has become their undoing in the course of the previous centuries: the virtue, namely, of engaging foreigners with kindness, and especially the duty of treating them in an alien state in the same way as they are accustomed to being treated at home. We stayed at the Marienbergs until 5 o'clock. The old gentleman told a nice Jewish anecdote, which admittedly is effective only in the vernacular: a Jew is suddenly seized by the strong craving for a cigar, but feels embarrassed before another Jew about evading the proscription. And so he runs to the window, closes the curtain, turns on the light on the brightest of days and says: "Night has fallen, I don't know how this came about" – and already he has the cigar in his mouth. {629} At the end, there was yet another strange scene which took place as follows: Dr. Siegmund said that he wanted to accompany us home. The situation was very unpleasant to me, for under all circumstances I would have had to invite my escort to us – if not now, then for another time – in accordance with general custom. And so I quickly used the occasion to reveal, with feigned uninhibitedness, the secret of our two places of abode, which was supposed to explain why we neither make nor return invitations. A certain dismay was immediately perceptible on everyone's faces, while I, always playing the innocent, strove to explain this inconvenience of the dwellings simply with the high rental costs. Even Lie-Liechen found this moment thoroughly painful, as she later told me; but I explained to her that there is no remedy against such inconveniences except by not even once tempting fate on a whim, that is, to avoid getting into a situation in which these or similar scenes may in all probability be expected. How much I am in the right can already be seen by our embarrassment in explaining to the Marienberg family why we do not invite their two sons to our place, as we are already not thinking of inviting the elderly couple.

© Translation William Drabkin.

24. 0°, Schnee auf den Dächern.

— Von Dahms (Br.OJ 10/1, [27]): neueste Bildaufnahme; dankt bewegt für das ihm meinerseits Zugedachte. — Von Roth (Br.OJ 13/30, [30]): dankt ebenfalls für meine Aufmerksamkeit u. äußert sich über die Beziehung Brahmsens zu Händel noch recht verworren. — Von Hupka ein für seine Schwester bestimmter Brief, den ich sofort retourniere; bei dieser Gelegenheit bringe ich meine Teilnahme zum Ausdruck wegen seines neuerlichen Mißgeschickes. — Von An Dr. Plattensteiner (Br.): Dank für Beethoven; 1 wie immer in solchen unbequemen Situationen habe ich es schwer Worte zu finden, die bei aller Liebenswürdigkeit gegenüber dem freundlichen Absender doch auch nicht irre- {628} führendes Lob des eingesandten Werkes enthalten sollen. — Um 3h zu Marienbergs, wo wir auch die gegenwärtig im Kriegsdienst stehende Söhne antreffen. Aus den Aeußerungen des Dr. Siegmund war bedauerlicherweise zu konstatieren, wie verderblich die Methode der deutschen Intellektuellen wird, die gleichsam über Anklage unserer politischen u. intellektuellen wirtschaftlichen Feinde eine hochnotpeinliche Untersuchung ihrer selbst anstellen u. vor aller Welt führen. So z. B. schien das Wort „Barbaren“ doch dahin gewirkt zu haben, daß sich die jungen Leute offenbar erschreckt fragen, weshalb die Deutschen so genannt werden, u. nun einmal bei solcher Fragestellung allzu willig auch schon eine Erklärung zu haben vorgeben, die in Wahrheit aber den Verhältnissen durchaus nicht entspricht u. höchstens nur den bösen Wünschen unserer Feinde. Auch die Uneinigkeit der Deutschen, besonders der Gegensatz der Deutschen in der Schweiz u. in Nordamerika scheint starken Eindruck zu machen, ohne daß sich der Beobachter eine Erklärung für diese Erscheinung zu verschaffen wüßte. In der Tat ist all die Selbstkasteiung der Deutschen nur als letzter Rest jener hündischen Unterwürfigkeit zu betrachten, in der sie bis vor 50 Jahren gegenüber aller Welt sich befanden. Eine schöne Tugend der Deutschen ist ihnen im Laufe der früheren Jahrhunderte zum Verhängnis geworden: die Tugend nämlich, auch dem fFremden liebevoll nachzugehen u. vor allem die Pflicht auch in einem fremden Staate so genau zu nehmen, als sie sie zuhause zu nehmen gewohnt sind. Wir blieben bei Marienbergs bis 5h. Der alte Herr erzählt eine hübsche jüdische Anekdote, die freilich gut nur im Jargon wirkt: Ein Jude empfindet plötzlich am Samstag nachmittag ein heftiges Verlangen nach einer Zigarre, geniert sich aber vor dem andern Juden, das Verbot zu umgehen, läuft daher zum Fenster, läßt den Vorhang herunter u. macht am hellichten Tage Licht u. sagt: Die Nacht fällt zu (ein),man weiß nicht wieso – u. schon hat er die Zigarre im Munde. {629} Zum Schluß sei noch eine seltsame Scene erwähnt, die sich so zutrug: Dr. Siegmund erklärte, uns nachhause begleiten zu wollen; die Situation war mir sehr unangenehm, weil ich unter allen Umständen den Begleiter, wenn nicht für dieses, so doch für ein anderesmal der allgemeinen Sitte folgend zu uns hätte bitten müssen. Ich benütze daher schnell die Gelegenheit, um mit gespielter Unbefangenheit das Geheimnis unserer beiden zwei Wohnungen zu lüften, das erklären sollte, weshalb wir weder einladen, noch Einladungen erwidern. Eine gewisse Betroffenheit war sofort auf allen Gesichtern wahrzunehmen, während ich, immerzu den Unbefangenen spielend, diese Unbequemlichkeit der Wohnungen lediglich mit den hohen Mietpreisen zu erklären mich bestrebte. Auch Lie-Liechen empfand diesen Augenblick, wie sie mir später sagte, überaus peinlich, doch belehrte ich sie, daß es kein Mittel gegen solche Unannehmlichkeiten gäbe, ausgenommen das Schicksal nicht einmal aus Laune herauszufordern, d. h. gar nicht erst in eine Situation hineingehen, in der solche oder ähnliche Scenen mit aller Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind. Wie recht ich habe ergibt sich schon daraus, daß wir sonst in größter Verlegenheit wären, der Familie M. zu erklären, weshalb wir nicht einmal die beiden Söhne zu uns bitten, wenn wir auch schon daran nicht denken, die alten Leute einzuladen.

© Transcription Marko Deisinger.

24. 0°, snow on the rooftops.

— LetterOJ 10/1, [27] from Dahms: latest photograph; he thanks me movingly for my intentions for him. — LetterOJ 13/30, [30] from Roth: he likewise thanks me for my attention and says something quite unintelligible about Brahms's relationship to Händel. — From Hupka, a letter intended for his sister, which I return immediately; on this occasion I express my sympathy regarding his recent misfortune. — Letter to Dr. Plattensteiner: thanks for Beethoven; 1 as always in such awkward situations, I have difficulty finding the words which, in spite of all kindness with respect to the amicable sender, ought not contain misleading words of praise. {628} — At 3 o'clock, to the Marienbergs, where we also meet their sons who are at present in military service. From the remarks made by Dr. Siegmund one could regrettably establish how pernicious the German intellectuals' method of reasoning is: when denounced by our political and commercial enemies, they subject themselves to an examination which makes one cringe, and which they parade before the whole world. Thus for example the word "barbarians" seems to have had such an effect that the young people evidently ask, in shock, why the Germans are referred to in this way; and once they have put this question they only too willingly purport to have an explanation, which in truth bears no relationship to the circumstances – at most, with the wicked intentions of our enemies. The lack of unity among the Germans, especially the opposition of the Germans in Switzerland and North America, seems to make a strong impression, without the observer being able to offer an explanation for this phenomenon. In fact, all the self-chastisement of the Germans is only the last vestige of that dog-like subservience which existed up until 50 years ago in relation to the entire world. A beautiful virtue of the Germans has become their undoing in the course of the previous centuries: the virtue, namely, of engaging foreigners with kindness, and especially the duty of treating them in an alien state in the same way as they are accustomed to being treated at home. We stayed at the Marienbergs until 5 o'clock. The old gentleman told a nice Jewish anecdote, which admittedly is effective only in the vernacular: a Jew is suddenly seized by the strong craving for a cigar, but feels embarrassed before another Jew about evading the proscription. And so he runs to the window, closes the curtain, turns on the light on the brightest of days and says: "Night has fallen, I don't know how this came about" – and already he has the cigar in his mouth. {629} At the end, there was yet another strange scene which took place as follows: Dr. Siegmund said that he wanted to accompany us home. The situation was very unpleasant to me, for under all circumstances I would have had to invite my escort to us – if not now, then for another time – in accordance with general custom. And so I quickly used the occasion to reveal, with feigned uninhibitedness, the secret of our two places of abode, which was supposed to explain why we neither make nor return invitations. A certain dismay was immediately perceptible on everyone's faces, while I, always playing the innocent, strove to explain this inconvenience of the dwellings simply with the high rental costs. Even Lie-Liechen found this moment thoroughly painful, as she later told me; but I explained to her that there is no remedy against such inconveniences except by not even once tempting fate on a whim, that is, to avoid getting into a situation in which these or similar scenes may in all probability be expected. How much I am in the right can already be seen by our embarrassment in explaining to the Marienberg family why we do not invite their two sons to our place, as we are already not thinking of inviting the elderly couple.

© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 Richard Plattensteiner, "Beethoven". Der große Musikant zur Ehre Gottes. 5 Bilder in 1 Vorspiel (Vienna: Mozarthaus, 1916).