13. V. 17 (Sonntag) 11°, schön.
— Kaufmann Lustig (Kranz-Prozess) bleibt auch in der Uniform eines Rittmeisters vor allem Kaufmann, also auf Vorteile für sich u. seine Mutter auf Kosten des Staates bedacht. 1 — Der Gärtner verlangt pro Tag Kr. 2 unter dem Titel Spesen – ein Diebsgriff seltenster Art. — Synkope zu ende zuende. — „Man hat verlernt auf Entwicklung zu hoffen“ – Fritz Stahl im „Berliner Tgbl.“; 2 ich sage: weil man nicht gelernt hat zu unterscheiden, auf welche Entwicklung zu hoffen wäre. — — — Gerhard Hauptmann, in einem Brief an den Theaterverein, spricht von einer „bürgerlichen Moral“ – es gibt aber nur eine Moral überhaupt, für die der Dichter einzutreten hat, u. die ist mit der Wahrheit u. Gerechtigkeit jeder einzelnen Situation identisch ist. In der Regel aber eher „bürgerliche Unmoral“. — Harden „Zukunft“ vom 5. V.: von Satz zu Satz Widerspruch, dennoch anmaßendster Ton. 3 — Altenberg („N. W. J.“) legt einem 17-jährigen Mädchen Worte der Erkenntnis einer Selbsttäuschung in den Mund: sie träumte davon, etwas „Besonderes“ im Leben eines Mannes zu sein u. sieht alle Hoffnungen zuschanden. 4 Der Interpret des Mädchens irrt sich aber schon in der Voraussetzung: ein solcher Wunsch des jungen Geschöpfes läuft durchaus nicht auf das hinaus, was es meint, nämlich um liebend zu dienen; vielmehr liegt darin ein durch die Kultur erst künstlich in die Menschenseele hineingetragener u. großgezogener Trik [sic], den Egoismus vor sich selbst mit einem scheinbaren Altruismus zu bemänteln. Wort u. Gefühl, etwas „Besonders“, „Licht, Sonne“ im Leben eines Mannes zu sein, sind in Wahrheit eine Art übeln Parfums, dessen sich das Mädchen bedient, um auf sich selbst {672} zu locken; denn wer wirklich zu dienen vor hat vorhat, der entbehrt vor allem des Parfums der Selbsttäuschung. Es ist aber nichts so verwirrend, als daß wenn schreibende Menschen, gleichviel ob Dichter oder keine, auch solchem Selbstbetrug noch immerhin Worte finden. Worte u. der Betrug bleiben, die Wahrheit aber ist trotz allem trotzallem nicht wegzurauben, wie dies ja das Eingeständnis der Täuschung unwiderleglich beweist. So passe man die Worte doch lieber endlich der Wahrheit an u. sage dem Mädchen offen ins Gesicht: Du belügst dich u. den Anderen nur, wenn du so denkst; suche doch lieber vor allem erst die Voraussetzungen zu erwerben, die dich befähigen könnten, ein Besonderes zu werden, denn Worte ersetzen die Mühe de sn wirklichen Erwerbens nicht. — Nachmittag Spaziergang im neu eröffneten Belvedere-Teil; auf den ersten Blick fällt die rasche Verwüstung durch das „Volk“ auf! Es genügt eben nicht etwas zu wollen, man muß es auch besitzen, d. h. haben können. —© Transcription Marko Deisinger. |
May 13, 1917 (Sunday). 11°, fair weather.
— Businessman Lustig (at the Kranz trial), even when wearing the uniform of a riding master, is still above all a businessman, and thus concerned about the advantages for himself and his mother, at the state's expense. 1 — The gardener demands 2 Kronen per day, under the rubric "expenses" – a thief's term of the rarest sort. — " Syncopation " finished. — "We have forgotten how to hope for development" – Fritz Stahl in the Berliner Tageblatt ; 2 I say: because we have not learned to discern which development it is that we should hope for. — — Gerhard Hauptmann, in a letter to the Association of Theaters, speaks about a "civic morality" – but there is only one morality at all for which the poet should intervene, and which is identical with the truth and justice of every individual situation. Generally speaking, "civic immorality" would be the more appropriate expression. — Harden's Die Zukunft of May 5: contradiction from one sentence to the next, in spite of the most presumptuous tone. 3 — Altenberg (in the Neues Wiener Journal ) puts words about the recognition of a self-deception into the mouth of a seventeen-year-old girl, who was dreaming about there being something "special" in the life of a man, and who sees all her hopes dashed. 4 The girl's interpreter is mistaken already in his presupposition: such a wish from a young creature does not at all amount to what she is saying, namely, to serve by loving; what one is instead witnessing is a trick, artificially planted and nurtured by culture into the human soul, of concealing egoism from itself with an illusory altruism. To be words and feelings, something "special," "light, sunshine" in the life of a man, is a sort of foul spelling perfume, which young ladies use to attract themselves; {672} for anyone who truly intends to serve can do above all without the perfume of self-deception. But there is nothing more confusing than when writers, whether they are poets or not, nonetheless find words even for such self-deception. Words and deception may remain; but in spite of everything, one cannot get away from the truth, as this very admission of deception proves beyond doubt. And so one should instead adapt the words to the truth, finally, and tell the young later to her face: "you are only deceiving yourself and the other person if you think that; seek first instead to acquire the necessary qualities that will enable you to become something special; for words cannot replace true accomplishment. — In the afternoon, a walk in the newly inaugurated section of the Belvedere; at first glance one is struck by its rapid destruction by "the people"! It is just not enough to wish for something, one must also possess it, that is, to have it. © Translation William Drabkin. |
13. V. 17 (Sonntag) 11°, schön.
— Kaufmann Lustig (Kranz-Prozess) bleibt auch in der Uniform eines Rittmeisters vor allem Kaufmann, also auf Vorteile für sich u. seine Mutter auf Kosten des Staates bedacht. 1 — Der Gärtner verlangt pro Tag Kr. 2 unter dem Titel Spesen – ein Diebsgriff seltenster Art. — Synkope zu ende zuende. — „Man hat verlernt auf Entwicklung zu hoffen“ – Fritz Stahl im „Berliner Tgbl.“; 2 ich sage: weil man nicht gelernt hat zu unterscheiden, auf welche Entwicklung zu hoffen wäre. — — — Gerhard Hauptmann, in einem Brief an den Theaterverein, spricht von einer „bürgerlichen Moral“ – es gibt aber nur eine Moral überhaupt, für die der Dichter einzutreten hat, u. die ist mit der Wahrheit u. Gerechtigkeit jeder einzelnen Situation identisch ist. In der Regel aber eher „bürgerliche Unmoral“. — Harden „Zukunft“ vom 5. V.: von Satz zu Satz Widerspruch, dennoch anmaßendster Ton. 3 — Altenberg („N. W. J.“) legt einem 17-jährigen Mädchen Worte der Erkenntnis einer Selbsttäuschung in den Mund: sie träumte davon, etwas „Besonderes“ im Leben eines Mannes zu sein u. sieht alle Hoffnungen zuschanden. 4 Der Interpret des Mädchens irrt sich aber schon in der Voraussetzung: ein solcher Wunsch des jungen Geschöpfes läuft durchaus nicht auf das hinaus, was es meint, nämlich um liebend zu dienen; vielmehr liegt darin ein durch die Kultur erst künstlich in die Menschenseele hineingetragener u. großgezogener Trik [sic], den Egoismus vor sich selbst mit einem scheinbaren Altruismus zu bemänteln. Wort u. Gefühl, etwas „Besonders“, „Licht, Sonne“ im Leben eines Mannes zu sein, sind in Wahrheit eine Art übeln Parfums, dessen sich das Mädchen bedient, um auf sich selbst {672} zu locken; denn wer wirklich zu dienen vor hat vorhat, der entbehrt vor allem des Parfums der Selbsttäuschung. Es ist aber nichts so verwirrend, als daß wenn schreibende Menschen, gleichviel ob Dichter oder keine, auch solchem Selbstbetrug noch immerhin Worte finden. Worte u. der Betrug bleiben, die Wahrheit aber ist trotz allem trotzallem nicht wegzurauben, wie dies ja das Eingeständnis der Täuschung unwiderleglich beweist. So passe man die Worte doch lieber endlich der Wahrheit an u. sage dem Mädchen offen ins Gesicht: Du belügst dich u. den Anderen nur, wenn du so denkst; suche doch lieber vor allem erst die Voraussetzungen zu erwerben, die dich befähigen könnten, ein Besonderes zu werden, denn Worte ersetzen die Mühe de sn wirklichen Erwerbens nicht. — Nachmittag Spaziergang im neu eröffneten Belvedere-Teil; auf den ersten Blick fällt die rasche Verwüstung durch das „Volk“ auf! Es genügt eben nicht etwas zu wollen, man muß es auch besitzen, d. h. haben können. —© Transcription Marko Deisinger. |
May 13, 1917 (Sunday). 11°, fair weather.
— Businessman Lustig (at the Kranz trial), even when wearing the uniform of a riding master, is still above all a businessman, and thus concerned about the advantages for himself and his mother, at the state's expense. 1 — The gardener demands 2 Kronen per day, under the rubric "expenses" – a thief's term of the rarest sort. — " Syncopation " finished. — "We have forgotten how to hope for development" – Fritz Stahl in the Berliner Tageblatt ; 2 I say: because we have not learned to discern which development it is that we should hope for. — — Gerhard Hauptmann, in a letter to the Association of Theaters, speaks about a "civic morality" – but there is only one morality at all for which the poet should intervene, and which is identical with the truth and justice of every individual situation. Generally speaking, "civic immorality" would be the more appropriate expression. — Harden's Die Zukunft of May 5: contradiction from one sentence to the next, in spite of the most presumptuous tone. 3 — Altenberg (in the Neues Wiener Journal ) puts words about the recognition of a self-deception into the mouth of a seventeen-year-old girl, who was dreaming about there being something "special" in the life of a man, and who sees all her hopes dashed. 4 The girl's interpreter is mistaken already in his presupposition: such a wish from a young creature does not at all amount to what she is saying, namely, to serve by loving; what one is instead witnessing is a trick, artificially planted and nurtured by culture into the human soul, of concealing egoism from itself with an illusory altruism. To be words and feelings, something "special," "light, sunshine" in the life of a man, is a sort of foul spelling perfume, which young ladies use to attract themselves; {672} for anyone who truly intends to serve can do above all without the perfume of self-deception. But there is nothing more confusing than when writers, whether they are poets or not, nonetheless find words even for such self-deception. Words and deception may remain; but in spite of everything, one cannot get away from the truth, as this very admission of deception proves beyond doubt. And so one should instead adapt the words to the truth, finally, and tell the young later to her face: "you are only deceiving yourself and the other person if you think that; seek first instead to acquire the necessary qualities that will enable you to become something special; for words cannot replace true accomplishment. — In the afternoon, a walk in the newly inaugurated section of the Belvedere; at first glance one is struck by its rapid destruction by "the people"! It is just not enough to wish for something, one must also possess it, that is, to have it. © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 "Die Untersuchung gegen Rittmeister Lustig," Neues Wiener Journal, No. 8454, May 14, 1917, 25th year, p. 2. 2 Fritz Stahl, "Berliner Sezession," Berliner Tageblatt, No. 241, 46th year, May 12, 1917, evening edition, p. [2]. 3 [Maximilian Harden], "Der rothe Mond. Antworten," Die Zukunft 99 (1917), pp. 378-144. 4 Peter Altenberg, "Erinnerungen," Neues Wiener Journal, No. 8453, May 13, 1917, 25th year, pp. 5-6. |