10.
Abreise! ¼5h auf, ½6h schon aus dem Hause, bei Dunkelheit u. Nebel. Rasch im Vorbeigehn [sic] Café mit trockenem Brot zu uns genommen, während draußen der Träger wartet. Bequem in der II. Klasse Platz gefunden. Während der Reise reagirt Lie-Liechen, offenbar noch von früher beunruhigt, unangenehm auf die Erschütterung, bis sie durch Platzwechsel wieder ins Gleichgewicht kommt. Ein Fleischhauer u. eine Floridsdorfer Wirtin packen in einem politischen Gespräch ich [recte ihr] echt oesterreichisches Talent der Aufschneiderei, der falschen Anschauungen u. betrügerischen Alluren [sic] aus: beide jammern u. schimpfen, sehen aber so aus, daß man sie ohneweiters zu Kriegsgewinnern zählen muß. In St. Pölten schreckliches Gedränge; mit Mühe gelangen wir in ein Coupé III. Klasse, in dem wir noch Wallfahrer aus Mariazell u. viel Militär antreffen. 1 Auf dem Westbahnhof erwartet uns Frau Anna die erzählt, daß das Telegramm u. die Expresskarte beinahe gleichzeitig in Wien ange- {950} kommen sind, daß ihr Sohn gestern vergeblich gewartet habe, heute aber nicht abkommen konnte. Unser Gepäck muß durch weniger als 3 Hände gehen: der erste Trager [sic] holt es aus dem Abteil; im Augenblick, da er einen Wagen zu rufen sich anschickt, bietet sich ein armer Junge an, das Gepäck nachhause zu bringen; ich übergebe es ihm, aber schon nach paar Schritten vom Bahnhofgebäude weg erklärt er, es nur bis zur Tramway tragen zu können, da er ins Geschäft müsse. Er ruft selbst einen ihm bekannten Jungen herbei, der es nun endlich übernimmt, das Gepäck bis nachhause zu bringen; er erhält dafür 10 Kronen u. ein Stück Brot. Bei der Abfahr [sic] ereignet sich ein Vorfall, der Lie-Liechen sehr leicht in eine mißliche Lage hätte bringen können: Der Junge, eben der dritte letzte Träger, sprang sehr behende in den Wagen, die Handtasche vor sich herschleudernd – u. schon rollte der Wagen, ehe Lie-Liechen überhaupt noch hätte einsteigen können, davon. In diesem Augenblick hatte ich die Geistesgegenwart, dem Jungen nachzuspringen, um ihn nicht allein mit dem Gepäck zu lassen. Lie-Liechen u. Anna blieben solcherart zurück. Bei der ersten Haltestelle steigen ich u. der Junge aus, der nun zurückspringt, um Lie-Liechen u. Frau Anna abzuholen – sie hatten beide nur 30 Heller bei sich! Nun erst ging die Heimreise gut von statten. Nichts wurde gestohlen! 2 Zuhause schwarzer Bohnencafé. — Von Cotta Brief 3 u. Geldanweisung: 319.87 Kronen! — Von Frau Gutherz (Br.): bittet mich, Weisse Donnerstag nachmittags zu empfangen. — Vier Säckchen Mehl erliegen schon seit paar tagen bei Frau Kübler — Einige Wege mit Lie-Liechen: um Brot, Mehl, zur Post, um die bestellten Visiten-Karten. — Der alten Botin von Frau Gutherz an der Straße begegnet, Donnerstag Nachmittag ausgemacht. — Sehr früh zu Bette. —© Transcription Marko Deisinger. |
10
Departure! Up at 4:15 and out of the house at 5:30 in the darkness and fog. Quickly and in passing we partake of some coffee and dry bread, while the porter is waiting outside. We comfortably find a place in second class. During the journey, Lie-Liechen, obviously still disquieted from earlier on, reacts with discomfort to the vibrations until she regains her composure by exchanging places. A butcher and a landlady from Floridsdorf, with their truly Austrian talent for bragging, for false ideology and for deceitful airs and graces, launch into their political conversation: both complain and swear, but from their appearance they look as if one could truly number them amongst the war-profiteers. In St. Pölten terrible crowding; with great difficulty we manage to get into a third-class compartment, in which we encounter further pilgrims from Mariazell and many military personnel. 1 At the Westbahnhof, Anna is waiting for us, and tells us that our telegram and the express postcard arrived in Vienna almost simultaneously. {950} Her son waited for us yesterday to no avail, but today was unable to come. Our luggage must pass through no less than three sets of hands: the first porter fetches it from the compartment; in the very instant when he indicates that he might call a cab, a poor young man offers to carry the luggage home; I entrust him with it, but only a few steps away from the railway station building he declares that he can carry it only as far as the tram, since he has to go to work. He calls over another young man he knows, who ultimately takes on the task of carrying our luggage home; for this he receives 10 Kronen and a piece of bread. On our departure, there is a mishap that could easily have put Lie-Liechen in a most compromising position: The young man, porter number three, no less, leapt on to the tram with great agility, throwing her handbag before him – and then the tram began to roll away, before Lie-Liechen was able to board it. In that instant, I had the presence of mind to leap on after the young man, so that he would not be left alone with our luggage. With this, Lie-Liechen and Anna remained behind. At the first stop, the young man and I disembark, while he runs back to pick up Lie-Liechen and Frau Anna – they had only 30 Heller between the two of them! The journey home then proceeded without further incident. Nothing had been stolen! 2 At home, coffee made with real black coffee beans. — From Cotta, 3 letter and money order: 319.87 Kronen! — From Mrs. Gutherz (letter): she entreats me to receive Weisse on Thursday afternoon. — Four little bags of flour deposited with Mrs. Kübler.a few days ago — Several errands run with Lie-Liechen: to get bread, flour, to the post office, to pick up the calling cards we ordered. — We bump into the old lady messenger of Mrs. Gutherz. The arrangements have been made for Thursday afternoon. — Very early to bed. —© Translation Stephen Ferguson. |
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Abreise! ¼5h auf, ½6h schon aus dem Hause, bei Dunkelheit u. Nebel. Rasch im Vorbeigehn [sic] Café mit trockenem Brot zu uns genommen, während draußen der Träger wartet. Bequem in der II. Klasse Platz gefunden. Während der Reise reagirt Lie-Liechen, offenbar noch von früher beunruhigt, unangenehm auf die Erschütterung, bis sie durch Platzwechsel wieder ins Gleichgewicht kommt. Ein Fleischhauer u. eine Floridsdorfer Wirtin packen in einem politischen Gespräch ich [recte ihr] echt oesterreichisches Talent der Aufschneiderei, der falschen Anschauungen u. betrügerischen Alluren [sic] aus: beide jammern u. schimpfen, sehen aber so aus, daß man sie ohneweiters zu Kriegsgewinnern zählen muß. In St. Pölten schreckliches Gedränge; mit Mühe gelangen wir in ein Coupé III. Klasse, in dem wir noch Wallfahrer aus Mariazell u. viel Militär antreffen. 1 Auf dem Westbahnhof erwartet uns Frau Anna die erzählt, daß das Telegramm u. die Expresskarte beinahe gleichzeitig in Wien ange- {950} kommen sind, daß ihr Sohn gestern vergeblich gewartet habe, heute aber nicht abkommen konnte. Unser Gepäck muß durch weniger als 3 Hände gehen: der erste Trager [sic] holt es aus dem Abteil; im Augenblick, da er einen Wagen zu rufen sich anschickt, bietet sich ein armer Junge an, das Gepäck nachhause zu bringen; ich übergebe es ihm, aber schon nach paar Schritten vom Bahnhofgebäude weg erklärt er, es nur bis zur Tramway tragen zu können, da er ins Geschäft müsse. Er ruft selbst einen ihm bekannten Jungen herbei, der es nun endlich übernimmt, das Gepäck bis nachhause zu bringen; er erhält dafür 10 Kronen u. ein Stück Brot. Bei der Abfahr [sic] ereignet sich ein Vorfall, der Lie-Liechen sehr leicht in eine mißliche Lage hätte bringen können: Der Junge, eben der dritte letzte Träger, sprang sehr behende in den Wagen, die Handtasche vor sich herschleudernd – u. schon rollte der Wagen, ehe Lie-Liechen überhaupt noch hätte einsteigen können, davon. In diesem Augenblick hatte ich die Geistesgegenwart, dem Jungen nachzuspringen, um ihn nicht allein mit dem Gepäck zu lassen. Lie-Liechen u. Anna blieben solcherart zurück. Bei der ersten Haltestelle steigen ich u. der Junge aus, der nun zurückspringt, um Lie-Liechen u. Frau Anna abzuholen – sie hatten beide nur 30 Heller bei sich! Nun erst ging die Heimreise gut von statten. Nichts wurde gestohlen! 2 Zuhause schwarzer Bohnencafé. — Von Cotta Brief 3 u. Geldanweisung: 319.87 Kronen! — Von Frau Gutherz (Br.): bittet mich, Weisse Donnerstag nachmittags zu empfangen. — Vier Säckchen Mehl erliegen schon seit paar tagen bei Frau Kübler — Einige Wege mit Lie-Liechen: um Brot, Mehl, zur Post, um die bestellten Visiten-Karten. — Der alten Botin von Frau Gutherz an der Straße begegnet, Donnerstag Nachmittag ausgemacht. — Sehr früh zu Bette. —© Transcription Marko Deisinger. |
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Departure! Up at 4:15 and out of the house at 5:30 in the darkness and fog. Quickly and in passing we partake of some coffee and dry bread, while the porter is waiting outside. We comfortably find a place in second class. During the journey, Lie-Liechen, obviously still disquieted from earlier on, reacts with discomfort to the vibrations until she regains her composure by exchanging places. A butcher and a landlady from Floridsdorf, with their truly Austrian talent for bragging, for false ideology and for deceitful airs and graces, launch into their political conversation: both complain and swear, but from their appearance they look as if one could truly number them amongst the war-profiteers. In St. Pölten terrible crowding; with great difficulty we manage to get into a third-class compartment, in which we encounter further pilgrims from Mariazell and many military personnel. 1 At the Westbahnhof, Anna is waiting for us, and tells us that our telegram and the express postcard arrived in Vienna almost simultaneously. {950} Her son waited for us yesterday to no avail, but today was unable to come. Our luggage must pass through no less than three sets of hands: the first porter fetches it from the compartment; in the very instant when he indicates that he might call a cab, a poor young man offers to carry the luggage home; I entrust him with it, but only a few steps away from the railway station building he declares that he can carry it only as far as the tram, since he has to go to work. He calls over another young man he knows, who ultimately takes on the task of carrying our luggage home; for this he receives 10 Kronen and a piece of bread. On our departure, there is a mishap that could easily have put Lie-Liechen in a most compromising position: The young man, porter number three, no less, leapt on to the tram with great agility, throwing her handbag before him – and then the tram began to roll away, before Lie-Liechen was able to board it. In that instant, I had the presence of mind to leap on after the young man, so that he would not be left alone with our luggage. With this, Lie-Liechen and Anna remained behind. At the first stop, the young man and I disembark, while he runs back to pick up Lie-Liechen and Frau Anna – they had only 30 Heller between the two of them! The journey home then proceeded without further incident. Nothing had been stolen! 2 At home, coffee made with real black coffee beans. — From Cotta, 3 letter and money order: 319.87 Kronen! — From Mrs. Gutherz (letter): she entreats me to receive Weisse on Thursday afternoon. — Four little bags of flour deposited with Mrs. Kübler.a few days ago — Several errands run with Lie-Liechen: to get bread, flour, to the post office, to pick up the calling cards we ordered. — We bump into the old lady messenger of Mrs. Gutherz. The arrangements have been made for Thursday afternoon. — Very early to bed. —© Translation Stephen Ferguson. |
Footnotes1 Jeanette writes continuously, with no paragraph break. 2 Jeanette writes continuously, with no paragraph break. 3 = OJ 9/32, [37], September 1, 1918. |