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27. März 1925 +9°, schön, zum erstenmal nicht geheizt.

— Von Prof. Altmann (Br.): gestattet die autographen Blätter zu behalten, freut sich, daß seine Vermittlung bei Einstein (von der ich zum erstenmal erfahre) Früchte getragen; er gesteht, die letzten Tonwille -Hefte noch nicht gelesen zu haben, auch nicht das, was einige Musik-Schriftsteller gegen die Urlinie vorbringen; wird den Sommer in Nordtirol zubringen. — Von Weigl Einladung zum Kompositions-Konzert. — Bei Baumgarten; von 10¼–1h: Korrektur des Entwurfs. Eine volle Stunde widmet er der Frage, weshalb ich eigentlich in Wien unbekannt sei; er rät mir, mehr hinauszutreten u. für Verbreitung meiner Werke zu sorgen. Alle Einwände scheitern an seiner eigensinnigen u. bornirten Vorstellung u. immer wieder holt er zum Satz aus: „Sie verstehen mich nicht oder wollen mich nicht verstehen.“ — An Dr. Baumgarten; (expreß Br.): 7 Zettel über meine Werke bei der U.-E.: gleichsam ihre Lebensgeschichte, mit Hervorhebung jener Punkte, die für die Art des Verlags kennzeichnend sind, selbstverständlich immer im schlechten Sinne. — 1 Bei Shaws „Heilige Johanna“ im Volkstheater. Ohne Kennt- {2803} nis des Buches sollte nicht erlaubt sein, über das Stück zu urteilen, denn möglicherweise hat der Regisseur manches zum Nachteil der Dichtung verändert oder gestrichen. Mit Vorbehalt aber sei gesagt: Die ersten Bilder haben mich entsetzt! Das Annekdotische [sic] u. die Ausführung sind offenbar zu dürftig, um als Zeugnis einer übernatürlichen Kraft in der Johanna gelten zu können. Hier klafft ein ungeheuerer Abstand zwischen einem Vorwurf, der durch begnadeten Ursprung im Grunde jeder Darstellung u. Zergliederung unzugänglich bleibt u. gar der dichterischen Kraft Shaws. Schon einmal, glaube ich in diesen Blättern erklärt zu haben, daß das Genie darzustellen, nicht Aufgabe eines Dramas sein kann, so fällt auch Johanna aus dem Rahmen eines Dramas heraus. Zumal wenn ein Dichter wie Shaw mehr darauf ausgeht, an dem Genie ein Schicksal zu exemplifizieren[,] als eine bestimmte Lebensepoche oder Begebenheit im Leben des Genies dramatisch zu bändigen, d. h.: Wer dem Zuschauer die Analyse des Genies vorhält, um daran Kritik an den Zeitgenossen des Genies oder den eigenen Zeitgenossen zu üben, der muß beide Ziele verfehlen, die Dichtung sowohl wie die Analyse. In der Tat stellt Shaws Werk eine Aneinanderreihung von Bildern dar, in denen die Kritik des Verfassers zudringlich zu uns spricht u. das eigentlich Dichterische zurückdrängt. Doch ist die Scene vor Gericht für sich betrachtet ein trefflicher dramatischer Akt, u. ebenso für sich betrachtet ist auch die letzte Groteske nicht ohne Witz, wenn auch ganz außer Zusammenhang mit dem dramatischen Vorwurf. Das widerliche Gefühl ist allmählich gewichen, aber zu einer behaglich künstlerischen Freude habe ich es nicht bringen konnen [sic]. Lie-Liechen {2804} war sehr gespannt den ganzen Abend hindurch, fand großes Interesse an dem Stück, doch glaube ich, daß sie meine Bedenken teilt. Gespielt wurde meist gut. — Zum erstenmal bei offenem Fenster gearbeitet. —

© Transcription Marko Deisinger.

March 27, 1925 +9°, nice, did not heat the apartment for the first time.

— From Professor Altmann (letter): he allows me to keep the autograph manuscript pages, is happy that his contacting Einstein (which I hear about for the first time) bore fruit; he admits that he has not yet read the last issues of Tonwille , nor what a few music authors say against the Urlinie; he will be spending the summer in the North Tyrol Tyrol Tyrol. — Invitation to the composition concert from Weigl. — At Baumgarten's from 10:15 to 1:00: corrections to the draft. He dedicates a full hour to the question as to why it is that I am unknown in Vienna; he advises me to be more forward and to see to it that my works are disseminated. All objections fail on account of his obstinate and narrow-minded viewpoint, and he repeatedly comes up with the sentence: "You don't understand me or you don't want to understand me." — To Dr. Baumgarten; (express letter): seven slips of paper about my works published by UE: at the same time their history, stressing all those points that bring out the character of the publisher, of course always in a negative light. — 1 At Shaw's Saint Joan in the Volkstheater. Without knowledge {2803} of the book, it should not be permitted to pass judgment on the play because it is possible that the director changed or cut some things and had a negative impact on the work. However, with reservation it can be said: the first scenes horrified me! The anecdotal nature and the performance are apparently too meager to be able to serve as a witness to the supernatural power in Joan. Here an enormous gap opens up between a reproach which remains inaccessible by virtue of the inspired origin of basically every portrayal and dissection and indeed Shaw's poetic power. I believe to have once before already explained in these pages that it cannot be the purpose of drama to portray genius, and so Joan also falls beyond the limits of a drama. Even more so when a poet such as Shaw is more intent on exemplifying a fate via the genius than dramatically containing a certain epoch of life or event in the life of the genius, i.e. Whoever provides an analysis of the genius for the audience in order to criticize the contemporaries of the genius or his own contemporaries must fail on both accounts, the poetic work as well as the analysis. Shaw's work is actually a series of pictures in which the author's critique speaks to us urgently and pushes aside the actual poetry. However, the scene in the court is an excellent dramatic act in and of itself and, likewise viewed in and of itself, the final grotesqueness is not without humor, though totally lacking a correlation to the dramatic reproach. The horrible feeling gradually subsided, but I was not able to muster a sense of comfortable artistic joy. Lie-Liechen {2804} was very curious the entire evening, was very interested in the piece, but I believe that she shared my misgivings. The acting was good for the most part. — Worked with the window open for the first time.

© Translation Scott Witmer.

27. März 1925 +9°, schön, zum erstenmal nicht geheizt.

— Von Prof. Altmann (Br.): gestattet die autographen Blätter zu behalten, freut sich, daß seine Vermittlung bei Einstein (von der ich zum erstenmal erfahre) Früchte getragen; er gesteht, die letzten Tonwille -Hefte noch nicht gelesen zu haben, auch nicht das, was einige Musik-Schriftsteller gegen die Urlinie vorbringen; wird den Sommer in Nordtirol zubringen. — Von Weigl Einladung zum Kompositions-Konzert. — Bei Baumgarten; von 10¼–1h: Korrektur des Entwurfs. Eine volle Stunde widmet er der Frage, weshalb ich eigentlich in Wien unbekannt sei; er rät mir, mehr hinauszutreten u. für Verbreitung meiner Werke zu sorgen. Alle Einwände scheitern an seiner eigensinnigen u. bornirten Vorstellung u. immer wieder holt er zum Satz aus: „Sie verstehen mich nicht oder wollen mich nicht verstehen.“ — An Dr. Baumgarten; (expreß Br.): 7 Zettel über meine Werke bei der U.-E.: gleichsam ihre Lebensgeschichte, mit Hervorhebung jener Punkte, die für die Art des Verlags kennzeichnend sind, selbstverständlich immer im schlechten Sinne. — 1 Bei Shaws „Heilige Johanna“ im Volkstheater. Ohne Kennt- {2803} nis des Buches sollte nicht erlaubt sein, über das Stück zu urteilen, denn möglicherweise hat der Regisseur manches zum Nachteil der Dichtung verändert oder gestrichen. Mit Vorbehalt aber sei gesagt: Die ersten Bilder haben mich entsetzt! Das Annekdotische [sic] u. die Ausführung sind offenbar zu dürftig, um als Zeugnis einer übernatürlichen Kraft in der Johanna gelten zu können. Hier klafft ein ungeheuerer Abstand zwischen einem Vorwurf, der durch begnadeten Ursprung im Grunde jeder Darstellung u. Zergliederung unzugänglich bleibt u. gar der dichterischen Kraft Shaws. Schon einmal, glaube ich in diesen Blättern erklärt zu haben, daß das Genie darzustellen, nicht Aufgabe eines Dramas sein kann, so fällt auch Johanna aus dem Rahmen eines Dramas heraus. Zumal wenn ein Dichter wie Shaw mehr darauf ausgeht, an dem Genie ein Schicksal zu exemplifizieren[,] als eine bestimmte Lebensepoche oder Begebenheit im Leben des Genies dramatisch zu bändigen, d. h.: Wer dem Zuschauer die Analyse des Genies vorhält, um daran Kritik an den Zeitgenossen des Genies oder den eigenen Zeitgenossen zu üben, der muß beide Ziele verfehlen, die Dichtung sowohl wie die Analyse. In der Tat stellt Shaws Werk eine Aneinanderreihung von Bildern dar, in denen die Kritik des Verfassers zudringlich zu uns spricht u. das eigentlich Dichterische zurückdrängt. Doch ist die Scene vor Gericht für sich betrachtet ein trefflicher dramatischer Akt, u. ebenso für sich betrachtet ist auch die letzte Groteske nicht ohne Witz, wenn auch ganz außer Zusammenhang mit dem dramatischen Vorwurf. Das widerliche Gefühl ist allmählich gewichen, aber zu einer behaglich künstlerischen Freude habe ich es nicht bringen konnen [sic]. Lie-Liechen {2804} war sehr gespannt den ganzen Abend hindurch, fand großes Interesse an dem Stück, doch glaube ich, daß sie meine Bedenken teilt. Gespielt wurde meist gut. — Zum erstenmal bei offenem Fenster gearbeitet. —

© Transcription Marko Deisinger.

March 27, 1925 +9°, nice, did not heat the apartment for the first time.

— From Professor Altmann (letter): he allows me to keep the autograph manuscript pages, is happy that his contacting Einstein (which I hear about for the first time) bore fruit; he admits that he has not yet read the last issues of Tonwille , nor what a few music authors say against the Urlinie; he will be spending the summer in the North Tyrol Tyrol Tyrol. — Invitation to the composition concert from Weigl. — At Baumgarten's from 10:15 to 1:00: corrections to the draft. He dedicates a full hour to the question as to why it is that I am unknown in Vienna; he advises me to be more forward and to see to it that my works are disseminated. All objections fail on account of his obstinate and narrow-minded viewpoint, and he repeatedly comes up with the sentence: "You don't understand me or you don't want to understand me." — To Dr. Baumgarten; (express letter): seven slips of paper about my works published by UE: at the same time their history, stressing all those points that bring out the character of the publisher, of course always in a negative light. — 1 At Shaw's Saint Joan in the Volkstheater. Without knowledge {2803} of the book, it should not be permitted to pass judgment on the play because it is possible that the director changed or cut some things and had a negative impact on the work. However, with reservation it can be said: the first scenes horrified me! The anecdotal nature and the performance are apparently too meager to be able to serve as a witness to the supernatural power in Joan. Here an enormous gap opens up between a reproach which remains inaccessible by virtue of the inspired origin of basically every portrayal and dissection and indeed Shaw's poetic power. I believe to have once before already explained in these pages that it cannot be the purpose of drama to portray genius, and so Joan also falls beyond the limits of a drama. Even more so when a poet such as Shaw is more intent on exemplifying a fate via the genius than dramatically containing a certain epoch of life or event in the life of the genius, i.e. Whoever provides an analysis of the genius for the audience in order to criticize the contemporaries of the genius or his own contemporaries must fail on both accounts, the poetic work as well as the analysis. Shaw's work is actually a series of pictures in which the author's critique speaks to us urgently and pushes aside the actual poetry. However, the scene in the court is an excellent dramatic act in and of itself and, likewise viewed in and of itself, the final grotesqueness is not without humor, though totally lacking a correlation to the dramatic reproach. The horrible feeling gradually subsided, but I was not able to muster a sense of comfortable artistic joy. Lie-Liechen {2804} was very curious the entire evening, was very interested in the piece, but I believe that she shared my misgivings. The acting was good for the most part. — Worked with the window open for the first time.

© Translation Scott Witmer.

Footnotes

1 Jeanette inerts emdash, then writes continuously without paragraph-break.