17. Juli 1927 Sonntag; Wolken, Nebel, regnerisch, zuletzt Regen!
— Einmal in Schwingung, setze ich das Gespräch mit Lie-Liechen fort, im Grunde ein heftiges Selbstgespräch, das meinen Gedanken Luft zu machen bestimmt ist. Das Thema lautet: Wie es Pflicht wäre jedes einzelnen Menschen, wenigstens eine schöne Sekunde zu erhaschen, ehe er ins Grab sinkt, wie es seine Pflicht wäre, sich damit dringendst zu beeilen je näher er dem Grabe ist, so wäre es Pflicht der heutigen Welt, die eigentlich eine alte zu nennen ist, da sie schon so viele Formen schon ausgelebt hat, sich auf eine schöne Sekunde zu besinnen, ehe sie dahinstirbt. Nötig wäre vor allem, die sogenannte Aufklärung im weiten Bogen von sich zu schleudern. Die da aufklären wollten – ausgenommen im jugendlichen Drange verharrende Dichter – nur unreife Spießgesellen, deren Horizont nicht über die öde Eitelkeit der Feder oder eines phrasengeschwollenen Mundes hinauslief, wobei ich vorzüglich an die Männer der sogenannten Aufklärung denke. 1 — Bei Tisch überreicht uns eine Dame die Extraausgabe , aus Innsbruck, die der Chauffeur mitgebracht hat – das ist freilich eine ganz anderes Ereignis, als ich gestern vermutet habe. Einem Telegramm entnehme ich, daß die Katastrophe ihren Ursprung in dem Schattendorfer Prozeß 2 hat, den ich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, weil ich darin nichts anderes sah, als den üblichen Radau zwischen Sozialdemokraten {3091} u. ihren Gegnern, üblich sogar einschließlich des tötlichen [sic] Ausgangs. Weshalb aber diesmal der Radau in eine so furchtbare Katastrophe mündete, konnte ich aus der Ferne nicht beurteilen. Jedenfalls bemächtigte sich meiner u. Lie-Liechens eine große Erregung, die sich in allen Gesprächen, die wir unterwegs führen, äußert. Ich machte Lie-Liechen die große Not der Gegenwart klar, die in so vielen Fragen eine die letzte überlange hinausgeschobene Entscheidung zu bringen hat, die aber allen diesen Fragen nicht gewachsen ist, sie weder versteht, noch entscheiden kann. Alle Politiker, Staatsmänner, öffentliche u. geheime Diplomaten, alle Historiker, Philosophen u. Geschichtsschreiber, Religionsmenschen – alle alle wissen von dieser Gefahr nicht eine Spur, Nniemals ist die Menschheit an einem so gefährlichen Punkt gestanden, Zzu keiner Zeit. wWie immer Politik, Religion, Imperien sich wandelten, die Welt war damals noch jung u. Auswege fanden sich; Hheute aber sind alle Wege abgelaufen, kein Weg führt weiter, die Menschheit ist in ihrer Unfähigkeit u. Niedertracht eingefangen, es bleibt ihr nichts übrig, als in diesem Kerker sich selbst aufzuheben, gewissermaßen die Unfähigkeit durch den Tod auszulöschen. Mag diese Agonie Jahrtausende währen, eine Agonie bleibt es, ein Verröcheln des an falschem Verstandes- u. Gemüts-Gebrauch zugrunde gehenden Mensch-Tieres. 3 — Vom Spaziergang zurückgekehrt, kommen wir mit einem Amtsrichter aus Ludwigshafen (?) in ein Gespräch; der Arme leidet an Gedankenflucht 4 u. kein Gespräch mit ihm führt zu irgend einem Ziele. Außerdem scheint er wenig Bildung zu haben, wohl aber guter deutscher Gesinnung zu sein – er hofft auf eine Einsicht auch bei jenen Teilen des Volkes, die deutsche Gesinnung für rückständig halten. — Türtscher berichtet Schauerliches aus Wien, fügt aber hinzu, daß der Verkehr wieder freigegeben sei. Nun reizt es uns, in den alten Zeitungen, die schon weggelegt sind, nachzulesen, was im {3092} Schattendorfer Prozeß vorgegangen sein mag. Wir finden noch Blätter, aus denen wir immerhin einiges erfahren. Darnach mag der Verlauf ungefähr so gewesen sein: Die Geschworenen haben die Angeklagten freigesprochen, d. h., sie haben ihnen „Notwehr“ zuerkannt gegenüber einer gerichtsordnungsmäßig nachgewiesenen Gefahr, die durch sozialdemokratischen Terror schon auf dem Bahnhof in Sch. heraufbeschworen war. Diesen Freispruch hat die Partei als Beleidigung empfunden u. als Verrat ihres Rechtes auf das Leben. dDiejenigen, die allezeit in der Geschichte der Menschheit nach der Waffe gegriffen, Revolutionen gepredigt u. ausgeführt, jeden Terror geübt haben sind werden empfindlich, wenn sich eine Abwehr gegen diese ihre Vergewaltigung wendet. Nun erklären schreien sie, sie wären ja vogelfrei (ihren Terror streichen sie!) , u. verlangen Genugtuung u. irgendwelche politische Pfänder, worunter auch der Rücktritt Schobers zählt. —© Transcription Marko Deisinger. |
17, 1927, Sunday; clouds, fog, rainy conditions, finally rain!
July — Once I get going, I continue the discussion with Lie-Liechen, in reality an intense monologue, which is intended to create space for my thoughts. The argument goes as follows: Since it ought to be the duty of every individual person to glimpse a beautiful moment before sinking into his grave ‒ as it should be his duty to move with greatest urgency the closer he comes to the grave ‒ so it ought to be the duty of today's world, which in reality can be called an old one since it has already outlived so many forms, to consider one beautiful moment before it expires. It would be essential, above all, to cast off the so-called Enlightenment from oneself in a wide arc. Those who wished to enlighten – the relentless poets in their youthful compulsion excepted – are merely immature lance-hurling men whose horizons do not rise above the barren vanity of the pen or a platitude-swollen mouth, by which I am principally thinking of the men of the so-called Enlightenment. 1 — At lunch, a lady presents us with a special edition of an Innsbruck newspaper, which the driver has brought. – This is, admittedly, a completely different event from that which I suspected yesterday. From a telegram I learn that the catastrophe has its origins in the Schattendorf trial, 2 which I had not at all made myself aware of, while I saw in it nothing other than the usual row between social democrats {3091} and their opponents, typical even to the point of a fatal outcome. Why the fight led to such a frightful catastrophe, I could not judge from a distance. In any event, a great excitement takes possession of Lie-Liechen and me, which expresses itself in all the conversations that we have at the time. I made Lie-Liechen clear about the great distress of the present generation, which must bring a the final, overly long-delayed decision regarding so many questions, but which is incapable of dealing with all these questions, neither understanding them nor being able to act upon them. All politicians, statesmen, public and secret diplomats, all historians, philosophers and historiographers, religious figures: not one of them has any inkling of this danger; never has humanity stood at such a precipice – never before. However politics, religion and empire may have been transformed [in the past], the world was then young and able to find a way out. Today, however, all paths have reached an end, no path leads further, humanity is trapped in its incapacity and malevolence; there is nothing left to do but to annul one another in this prison, in a certain sense to extinguish the incapacity through death. Even if this agony will last for millennia, it remains an agony, a death-rattle of the human beast from a false use of reason and spirit. 3 — Having returned from a walk, we get into conversation with a circuit judge from Ludwigshafen (?); the poor man suffers from the escape of ideas, 4 and no conversation with him can lead to any sort of goal. Moreover, he appears to have little education, though he is probably of good German character – he hopes for an understanding even by those segments of the people who regard German character as regressive. — Türtscher reports dreadful news from Vienna, but adds that the transportation is running again. Now we are keen to reread in the old newspapers, which have already been put away, what may have happened at the {3092} Schattendorf trial. We still find a few papers from which we nonetheless learn some things. According to these, events may have taken something like the following course: The jury acquitted the accused, that is, they have recognized in them an "emergency force" against a danger identified by court order that had already been invoked as a result of Social-Democratic terror on the train station in Schattendorf. The Party felt this acquittal to be an insult, and as a betrayal of their right to life. Those who from time immemorial in the history of humanity have reached for their weapons, preached and carried out revolution, and perpetrated every act of violence become sensitive when a resistance force is employed against their own acts of violence. Now, they scream, they were outlawed (they make no mention of their own acts of terror!) and demand retribution and some kind of political reparations, including the resignation of Schober. —© Translation William Drabkin. |
17. Juli 1927 Sonntag; Wolken, Nebel, regnerisch, zuletzt Regen!
— Einmal in Schwingung, setze ich das Gespräch mit Lie-Liechen fort, im Grunde ein heftiges Selbstgespräch, das meinen Gedanken Luft zu machen bestimmt ist. Das Thema lautet: Wie es Pflicht wäre jedes einzelnen Menschen, wenigstens eine schöne Sekunde zu erhaschen, ehe er ins Grab sinkt, wie es seine Pflicht wäre, sich damit dringendst zu beeilen je näher er dem Grabe ist, so wäre es Pflicht der heutigen Welt, die eigentlich eine alte zu nennen ist, da sie schon so viele Formen schon ausgelebt hat, sich auf eine schöne Sekunde zu besinnen, ehe sie dahinstirbt. Nötig wäre vor allem, die sogenannte Aufklärung im weiten Bogen von sich zu schleudern. Die da aufklären wollten – ausgenommen im jugendlichen Drange verharrende Dichter – nur unreife Spießgesellen, deren Horizont nicht über die öde Eitelkeit der Feder oder eines phrasengeschwollenen Mundes hinauslief, wobei ich vorzüglich an die Männer der sogenannten Aufklärung denke. 1 — Bei Tisch überreicht uns eine Dame die Extraausgabe , aus Innsbruck, die der Chauffeur mitgebracht hat – das ist freilich eine ganz anderes Ereignis, als ich gestern vermutet habe. Einem Telegramm entnehme ich, daß die Katastrophe ihren Ursprung in dem Schattendorfer Prozeß 2 hat, den ich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, weil ich darin nichts anderes sah, als den üblichen Radau zwischen Sozialdemokraten {3091} u. ihren Gegnern, üblich sogar einschließlich des tötlichen [sic] Ausgangs. Weshalb aber diesmal der Radau in eine so furchtbare Katastrophe mündete, konnte ich aus der Ferne nicht beurteilen. Jedenfalls bemächtigte sich meiner u. Lie-Liechens eine große Erregung, die sich in allen Gesprächen, die wir unterwegs führen, äußert. Ich machte Lie-Liechen die große Not der Gegenwart klar, die in so vielen Fragen eine die letzte überlange hinausgeschobene Entscheidung zu bringen hat, die aber allen diesen Fragen nicht gewachsen ist, sie weder versteht, noch entscheiden kann. Alle Politiker, Staatsmänner, öffentliche u. geheime Diplomaten, alle Historiker, Philosophen u. Geschichtsschreiber, Religionsmenschen – alle alle wissen von dieser Gefahr nicht eine Spur, Nniemals ist die Menschheit an einem so gefährlichen Punkt gestanden, Zzu keiner Zeit. wWie immer Politik, Religion, Imperien sich wandelten, die Welt war damals noch jung u. Auswege fanden sich; Hheute aber sind alle Wege abgelaufen, kein Weg führt weiter, die Menschheit ist in ihrer Unfähigkeit u. Niedertracht eingefangen, es bleibt ihr nichts übrig, als in diesem Kerker sich selbst aufzuheben, gewissermaßen die Unfähigkeit durch den Tod auszulöschen. Mag diese Agonie Jahrtausende währen, eine Agonie bleibt es, ein Verröcheln des an falschem Verstandes- u. Gemüts-Gebrauch zugrunde gehenden Mensch-Tieres. 3 — Vom Spaziergang zurückgekehrt, kommen wir mit einem Amtsrichter aus Ludwigshafen (?) in ein Gespräch; der Arme leidet an Gedankenflucht 4 u. kein Gespräch mit ihm führt zu irgend einem Ziele. Außerdem scheint er wenig Bildung zu haben, wohl aber guter deutscher Gesinnung zu sein – er hofft auf eine Einsicht auch bei jenen Teilen des Volkes, die deutsche Gesinnung für rückständig halten. — Türtscher berichtet Schauerliches aus Wien, fügt aber hinzu, daß der Verkehr wieder freigegeben sei. Nun reizt es uns, in den alten Zeitungen, die schon weggelegt sind, nachzulesen, was im {3092} Schattendorfer Prozeß vorgegangen sein mag. Wir finden noch Blätter, aus denen wir immerhin einiges erfahren. Darnach mag der Verlauf ungefähr so gewesen sein: Die Geschworenen haben die Angeklagten freigesprochen, d. h., sie haben ihnen „Notwehr“ zuerkannt gegenüber einer gerichtsordnungsmäßig nachgewiesenen Gefahr, die durch sozialdemokratischen Terror schon auf dem Bahnhof in Sch. heraufbeschworen war. Diesen Freispruch hat die Partei als Beleidigung empfunden u. als Verrat ihres Rechtes auf das Leben. dDiejenigen, die allezeit in der Geschichte der Menschheit nach der Waffe gegriffen, Revolutionen gepredigt u. ausgeführt, jeden Terror geübt haben sind werden empfindlich, wenn sich eine Abwehr gegen diese ihre Vergewaltigung wendet. Nun erklären schreien sie, sie wären ja vogelfrei (ihren Terror streichen sie!) , u. verlangen Genugtuung u. irgendwelche politische Pfänder, worunter auch der Rücktritt Schobers zählt. —© Transcription Marko Deisinger. |
17, 1927, Sunday; clouds, fog, rainy conditions, finally rain!
July — Once I get going, I continue the discussion with Lie-Liechen, in reality an intense monologue, which is intended to create space for my thoughts. The argument goes as follows: Since it ought to be the duty of every individual person to glimpse a beautiful moment before sinking into his grave ‒ as it should be his duty to move with greatest urgency the closer he comes to the grave ‒ so it ought to be the duty of today's world, which in reality can be called an old one since it has already outlived so many forms, to consider one beautiful moment before it expires. It would be essential, above all, to cast off the so-called Enlightenment from oneself in a wide arc. Those who wished to enlighten – the relentless poets in their youthful compulsion excepted – are merely immature lance-hurling men whose horizons do not rise above the barren vanity of the pen or a platitude-swollen mouth, by which I am principally thinking of the men of the so-called Enlightenment. 1 — At lunch, a lady presents us with a special edition of an Innsbruck newspaper, which the driver has brought. – This is, admittedly, a completely different event from that which I suspected yesterday. From a telegram I learn that the catastrophe has its origins in the Schattendorf trial, 2 which I had not at all made myself aware of, while I saw in it nothing other than the usual row between social democrats {3091} and their opponents, typical even to the point of a fatal outcome. Why the fight led to such a frightful catastrophe, I could not judge from a distance. In any event, a great excitement takes possession of Lie-Liechen and me, which expresses itself in all the conversations that we have at the time. I made Lie-Liechen clear about the great distress of the present generation, which must bring a the final, overly long-delayed decision regarding so many questions, but which is incapable of dealing with all these questions, neither understanding them nor being able to act upon them. All politicians, statesmen, public and secret diplomats, all historians, philosophers and historiographers, religious figures: not one of them has any inkling of this danger; never has humanity stood at such a precipice – never before. However politics, religion and empire may have been transformed [in the past], the world was then young and able to find a way out. Today, however, all paths have reached an end, no path leads further, humanity is trapped in its incapacity and malevolence; there is nothing left to do but to annul one another in this prison, in a certain sense to extinguish the incapacity through death. Even if this agony will last for millennia, it remains an agony, a death-rattle of the human beast from a false use of reason and spirit. 3 — Having returned from a walk, we get into conversation with a circuit judge from Ludwigshafen (?); the poor man suffers from the escape of ideas, 4 and no conversation with him can lead to any sort of goal. Moreover, he appears to have little education, though he is probably of good German character – he hopes for an understanding even by those segments of the people who regard German character as regressive. — Türtscher reports dreadful news from Vienna, but adds that the transportation is running again. Now we are keen to reread in the old newspapers, which have already been put away, what may have happened at the {3092} Schattendorf trial. We still find a few papers from which we nonetheless learn some things. According to these, events may have taken something like the following course: The jury acquitted the accused, that is, they have recognized in them an "emergency force" against a danger identified by court order that had already been invoked as a result of Social-Democratic terror on the train station in Schattendorf. The Party felt this acquittal to be an insult, and as a betrayal of their right to life. Those who from time immemorial in the history of humanity have reached for their weapons, preached and carried out revolution, and perpetrated every act of violence become sensitive when a resistance force is employed against their own acts of violence. Now, they scream, they were outlawed (they make no mention of their own acts of terror!) and demand retribution and some kind of political reparations, including the resignation of Schober. —© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 No paragraph-break in source. 2 On January 30, 1927, the Social-Democratic Party of Austria gathered in the small Burgenland village of Schattendorf, but were shot at from inside a hotel by members of the right-wing Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs, leaving two dead and five injured. In the "Schattendorf Trial" that followed, the perpetrators were acquitted by a trial jury; this was seen as a scandalous decision and led to violent demonstrations in Vienna (the July Revolt). 3 No paragraph-break in source. 4 "Gedankenflucht": a neologism of Schenker's, probably a play on the word "Gedankenflut," "flood of ideas." |