4. September 1927 Sonntag.
— Vor- u. Nachmittag kurzer Spazierg aänge: ungeheuere Ebene, reicher Wald in der Ferne, starker Wind, der Eindruck fast einer Oede. Viele Hirten u. Vieh zu sehen, doch reicht die reichste Staffage nicht hin, die Oede zu beleben. Ich fühle mich sehr unbehaglich, zumal ich spüre, daß ich an Zucker zunehme u. hier zu keiner Diät kommen kann, ja im Gegenteil, um den Hunger zu stillen, viel sündigen muß. Auf den Spaziergängen kommt Wilhelm wieder auf den schon öfter vorgebrachten Gedanken Wunsch zurück: Er hätte den Wunsch, daß wir beide ein Häuschen kaufen u. uns zur Ruhe setzen – ein leichtsinniger Gedanke, der nicht einmal die Ehre verdient, Gedanke genannt zu {3110} werden, denn Wilhelm hat sich nichts Ernstes dabei gedacht, als nur nach Art kleiner Kinder den Wunsch geäußert, mit dem Bruder noch ein paar heitere Jahre zu erleben, des Bruders Möglichkeiten aber erwog er nicht, weil er sie zu erwägen gar nicht fähig wäre. Und so bereitete er mir den Schmerz, ihm diese Bitte, gewiß die letzte seines Lebens, versagen zu müssen, da ich die Erfüllung eines so leichsinnigen Begehrens mit meinem u. Lie-Liechens Untergang bezahlen müßte. An diesem Schmerz litt ich am meisten, denn wie gern würde ich meinem Bruder die Möglichkeit geboten haben, an meiner Seite vergnüglich zu leben, zumal er, wenn alles Verhältnisse Äußere im richtigen Gange sind ist, eine gesunde Heiterkeit, guten , ja sogar u. originellen Witz hervorzukehren doch in der Lage ist. Doch ist die Kluft zwischen uns unüberbrückbar: er empfindet sein Leben schon als sehr zu lang, ich bange vor jeder Abendstunde, die mir Leben u. Werk zu verringern droht, Lie-Liechens nicht zu gedenken, die doch vollen Anspruch auf ein Leben nach meinem Tode hat, das nach ihrem Geschmacke wäre. Wilhelm war nicht wenig überrascht, als ich ihm die Eröffnung machte, daß wir morgen, Montag, abreisen. Ich erklärte dies mit meinem körperlichen Zustand, mit der Notwendigkeit, zum Zahnarzt zu gehen u. unser Haus wieder in Stand zu setzen; er fügte sich. —© Transcription Marko Deisinger. |
September 4, 1927, Sunday.
— In the morning and afternoon, short walks: immense stretches of land, a rich forest in the distance, a strong wind, the impression almost of desolation. Many shepherds and cattle to be seen, but the richest assemblage of animal and human figures in the landscape is insufficient to make the bleakness come to life. I feel very uneasy, all the more since I sense that my sugar level is rising and here I cannot get a proper diet; on the contrary, I must actually sin a lot to stave off my hunger. On the walks, Wilhelm returns to a thought wish that he has often expressed: that the two of us buy a little house and retire in peace – a frivolous thought, that does not even deserve to be called a thought, {3110} since Wilhelm had meant nothing serious by it, merely that, in a childlike way, he had expressed the wish to spend a few more enjoyable years in the company of his brother; but he did not consider his brother's interest, because he was utterly incapable of considering them. And so he caused me the pain of having to refuse him this request – for sure, the last of his life – since I would have had to pay for the fulfillment of such a frivolous desire with Lie-Liechen's and my demise. I suffered the most from this pain; for how gladly would I have offered my brother the possibility of living happily by my side – the more so since he is in a position to emphasize his healthy cheerfulness and good and original sense of humor, when all superficial considerations are working properly. And yet the cleft between us is unbridgeable: he already senses he has lived very too long, [whereas] I am fearful of every evening hour that threatens to curtail my life and work – [in spite of] not paying heed to Lie-Liechen, who nonetheless has a right to an existence after my death that would suit her tastes. Wilhelm was not a little surprised when I suggested to him that we would leave tomorrow, Monday. I explained this with my physical condition, that we needed to go to the dentist and to put our house in order once again; he acquiesced. © Translation William Drabkin. |
4. September 1927 Sonntag.
— Vor- u. Nachmittag kurzer Spazierg aänge: ungeheuere Ebene, reicher Wald in der Ferne, starker Wind, der Eindruck fast einer Oede. Viele Hirten u. Vieh zu sehen, doch reicht die reichste Staffage nicht hin, die Oede zu beleben. Ich fühle mich sehr unbehaglich, zumal ich spüre, daß ich an Zucker zunehme u. hier zu keiner Diät kommen kann, ja im Gegenteil, um den Hunger zu stillen, viel sündigen muß. Auf den Spaziergängen kommt Wilhelm wieder auf den schon öfter vorgebrachten Gedanken Wunsch zurück: Er hätte den Wunsch, daß wir beide ein Häuschen kaufen u. uns zur Ruhe setzen – ein leichtsinniger Gedanke, der nicht einmal die Ehre verdient, Gedanke genannt zu {3110} werden, denn Wilhelm hat sich nichts Ernstes dabei gedacht, als nur nach Art kleiner Kinder den Wunsch geäußert, mit dem Bruder noch ein paar heitere Jahre zu erleben, des Bruders Möglichkeiten aber erwog er nicht, weil er sie zu erwägen gar nicht fähig wäre. Und so bereitete er mir den Schmerz, ihm diese Bitte, gewiß die letzte seines Lebens, versagen zu müssen, da ich die Erfüllung eines so leichsinnigen Begehrens mit meinem u. Lie-Liechens Untergang bezahlen müßte. An diesem Schmerz litt ich am meisten, denn wie gern würde ich meinem Bruder die Möglichkeit geboten haben, an meiner Seite vergnüglich zu leben, zumal er, wenn alles Verhältnisse Äußere im richtigen Gange sind ist, eine gesunde Heiterkeit, guten , ja sogar u. originellen Witz hervorzukehren doch in der Lage ist. Doch ist die Kluft zwischen uns unüberbrückbar: er empfindet sein Leben schon als sehr zu lang, ich bange vor jeder Abendstunde, die mir Leben u. Werk zu verringern droht, Lie-Liechens nicht zu gedenken, die doch vollen Anspruch auf ein Leben nach meinem Tode hat, das nach ihrem Geschmacke wäre. Wilhelm war nicht wenig überrascht, als ich ihm die Eröffnung machte, daß wir morgen, Montag, abreisen. Ich erklärte dies mit meinem körperlichen Zustand, mit der Notwendigkeit, zum Zahnarzt zu gehen u. unser Haus wieder in Stand zu setzen; er fügte sich. —© Transcription Marko Deisinger. |
September 4, 1927, Sunday.
— In the morning and afternoon, short walks: immense stretches of land, a rich forest in the distance, a strong wind, the impression almost of desolation. Many shepherds and cattle to be seen, but the richest assemblage of animal and human figures in the landscape is insufficient to make the bleakness come to life. I feel very uneasy, all the more since I sense that my sugar level is rising and here I cannot get a proper diet; on the contrary, I must actually sin a lot to stave off my hunger. On the walks, Wilhelm returns to a thought wish that he has often expressed: that the two of us buy a little house and retire in peace – a frivolous thought, that does not even deserve to be called a thought, {3110} since Wilhelm had meant nothing serious by it, merely that, in a childlike way, he had expressed the wish to spend a few more enjoyable years in the company of his brother; but he did not consider his brother's interest, because he was utterly incapable of considering them. And so he caused me the pain of having to refuse him this request – for sure, the last of his life – since I would have had to pay for the fulfillment of such a frivolous desire with Lie-Liechen's and my demise. I suffered the most from this pain; for how gladly would I have offered my brother the possibility of living happily by my side – the more so since he is in a position to emphasize his healthy cheerfulness and good and original sense of humor, when all superficial considerations are working properly. And yet the cleft between us is unbridgeable: he already senses he has lived very too long, [whereas] I am fearful of every evening hour that threatens to curtail my life and work – [in spite of] not paying heed to Lie-Liechen, who nonetheless has a right to an existence after my death that would suit her tastes. Wilhelm was not a little surprised when I suggested to him that we would leave tomorrow, Monday. I explained this with my physical condition, that we needed to go to the dentist and to put our house in order once again; he acquiesced. © Translation William Drabkin. |