30.
Von kleinen Nebeln um die Spitzen abgesehen, die eine schöne Beleuchtung zeigen, zielt die Anlage des Tages überraschenderweise auf Wolkenlosigkeit (!!); zwar schließen sich die Wolken um 8h noch einmal zusammen, verdichten sich so, daß die Sonne abgesperrt erscheint, sie weichen aber schließlich ganz. — Von ½10–½11h im Jamtal; Lie-Liechen macht einen Strauß für unsere Gäste. — Im Gang übergeben uns die Berliner Damen weitere Sommeradressen, wofür ich mich mit Klavierspiel bedanke (Schubert u. Josef Strauß); die Damen reisen mittags ab. — Herr Salmann mit einem Töchterchen ist im eigenen Auto eingetroffen. — An Dir. Halberstam (Ansichtsk.): Dank für die Wünsche; trage die Angelegenheit der Auszeichnung nach. — Nach Tisch auf dem Balkon Zeitung lesend. — Nach der Jause zu „Ernstl“ Zuckerln gebracht; verbringen {3236} eine halbe Stunde beim alten Mattle, der noch immer zum Scherz geneigt, voll Witz u. Humor ist. 1 — Begegnen auf dem Heimweg Frau u. Fräulein Fink; die Mutter benutzt die Gelegenheit, mich nach den Fähigkeiten ihres Dr. Felix Rosenthal zu fragen! Ich taste hin u. her, um festzustellen, welche Antwort am Platze wäre, stoße aber bei jedem Versuch auf einen untauglichen Boden, namentlich fällt den beiden Damen schwer zu verstehen, was ich mit „Gesinnung zur Kunst“ meine, die in jedem Falle ausschlaggebend ist. Die Mutter betont, daß die Tochter gar nicht beabsichtige Künstlerin zu werden (als wäre so etwas möglich!), daß die Tochter mit dem Spiel nur spiele. 2 — Um 8h trifft Klara mit Mann u. Kind ein, wir bleiben bis ¼11h beisammen. Auf mein Lie-Liechen stürmt einige Erregung ein, was zu begreifen ist, hat sie doch 5 Schwestern u. 3 Brüder, über die sie endlich Auskunft zu erhalten Gelegenheit hat, ging sie doch erst in ihrem 36. Lebensjahr aus ihrer Vaterstadt weg, also in erwachsenem Zustand lebte sie mit vielen Menschen, deren Schicksal sie nun kennen lernt. So sehr ich mich freue, daß Klara den Weg zu ihrer ältesten Schwester gefunden hat, so sehr bedauere ich die Erschütterung, die unvermeidlich ist – man kehrt nicht einmal in Gedanken unerschüttert an einem Ort zurück, an dem man so lange gelebt hat. Wenn es der Sinn des Lebens ist zu sterben u. zu werden, 3 so hat es immerhin Beklemmendes, wenn ein Neugewordener gleichsam in das frühere Leben zurückgeht – es liegen Fernen dazwischen, die eine Verbindung beider Welten unmöglich machen, wovon man sich erst überzeugen könnte, wenn man den Fuß in die andere Gegend setzte; so wenig ein erwachsener Mensch Kindesform in Körper u. Geist anzunehmen imstande wäre, so wenig ist es nach Ueberwindung einer gewissen Umgebung möglich, wieder in diese einzutreten. Das trifft auch bei Frauen zu, die doch vermöge ihrer größe- {3237} ren Anpassungsfähigkeit das Widrige eines solchen Wechsels weniger empfinden. Ganz besonders unmöglich wird ein Zurück, wenn es dem Betreffenden unwillkommen ist. — Von Frl. Kahn (Ansichtsk. aus Steinach): Grüße. — Von Prof. Stein das Manuscript zurück (recomm.). — Vollmond wie ein glühender Ball. —© Transcription Marko Deisinger. |
30.
Apart from small mist patches around the mountain peaks, which provide an attractive illumination, the outlook for the day is, surprisingly, directed at cloudlessness (!!); to be sure, the clouds close together around 8 o'clock and thicken in such a way that the sun appears to be blocked out; but in the end they disperse completely. — From 9:30 to 10:30 in the Jam Valley; Lie-Liechen makes a bouquet for our guests. — In due course the ladies from Berlin give us further summer addresses, for which I thank them by playing the piano (Schubert and Josef Strauß); the ladies leave at midday. — Mr. Salmann, with a young daughter, arrives in his own automobile. — To Director Halberstam (picture postcard): thanks for the greetings; I add an account of the matter of the commendation for an honor. — After lunch, on the balcony, reading the newspaper. — After teatime, candies brought to "little Ernst"; we spend {3236} half an hour with old Mattle, who is still inclined towards joking, full of wit and humor. 1 — On the way home, we meet Mrs. and Miss Fink; the mother uses the occasion to ask me about the capabilities of Dr. Felix Rosenthal! I poke here and there, to determine which answer would be appropriate, but stumble at each attempt on shaky ground; in particular the two ladies find it difficult to understand what I mean by "attitude towards art," which is in every case critical. The mother stresses that her daughter has no intention of becoming an artist (as if such a thing were possible!), that her daughter only plays at playing. 2 — At 8 o'clock, Klara arrives with her husband and child; we stay together until 10:15. My Lie-Liechen is assailed by a turmoil that is all too understandable: she has, after all, five sisters and three brothers, about whom she finally has the opportunity of receiving some information. She did not leave her home town until she was thirty-six years old; thus she lived as an adult with many people whose fates she now learns about. As much as I am glad that Klara has found the way to her eldest sister, I regret very much the disturbance, which is unavoidable – one does not remain unshaken when returning to thoughts about a place in which one has lived for such a long time. If it is the purpose of life to die and to become, 3 there is nonetheless something oppressive when one who has become something new returns to one's earlier life, so to speak – there are spaces between them, which makes a connection between the two worlds impossible – something which one becomes convinced of only after setting foot in the other place. As little as a grown person were capable of assuming the form and intellect of a child, so little is it possible, having outgrown a particular environment, to step into it once again. This is also the case with women, though, thanks to their greater {3237} adaptability, they are less sensitive to the unpleasant features of such a change. A return is especially impossible if it is undesirable to the person concerned. — From Miss Kahn (picture postcard from Steinach): greetings. — From Prof. Stein, the manuscript returned (by registered post). — Full moon, like a glowing ball. —© Translation William Drabkin. |
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Von kleinen Nebeln um die Spitzen abgesehen, die eine schöne Beleuchtung zeigen, zielt die Anlage des Tages überraschenderweise auf Wolkenlosigkeit (!!); zwar schließen sich die Wolken um 8h noch einmal zusammen, verdichten sich so, daß die Sonne abgesperrt erscheint, sie weichen aber schließlich ganz. — Von ½10–½11h im Jamtal; Lie-Liechen macht einen Strauß für unsere Gäste. — Im Gang übergeben uns die Berliner Damen weitere Sommeradressen, wofür ich mich mit Klavierspiel bedanke (Schubert u. Josef Strauß); die Damen reisen mittags ab. — Herr Salmann mit einem Töchterchen ist im eigenen Auto eingetroffen. — An Dir. Halberstam (Ansichtsk.): Dank für die Wünsche; trage die Angelegenheit der Auszeichnung nach. — Nach Tisch auf dem Balkon Zeitung lesend. — Nach der Jause zu „Ernstl“ Zuckerln gebracht; verbringen {3236} eine halbe Stunde beim alten Mattle, der noch immer zum Scherz geneigt, voll Witz u. Humor ist. 1 — Begegnen auf dem Heimweg Frau u. Fräulein Fink; die Mutter benutzt die Gelegenheit, mich nach den Fähigkeiten ihres Dr. Felix Rosenthal zu fragen! Ich taste hin u. her, um festzustellen, welche Antwort am Platze wäre, stoße aber bei jedem Versuch auf einen untauglichen Boden, namentlich fällt den beiden Damen schwer zu verstehen, was ich mit „Gesinnung zur Kunst“ meine, die in jedem Falle ausschlaggebend ist. Die Mutter betont, daß die Tochter gar nicht beabsichtige Künstlerin zu werden (als wäre so etwas möglich!), daß die Tochter mit dem Spiel nur spiele. 2 — Um 8h trifft Klara mit Mann u. Kind ein, wir bleiben bis ¼11h beisammen. Auf mein Lie-Liechen stürmt einige Erregung ein, was zu begreifen ist, hat sie doch 5 Schwestern u. 3 Brüder, über die sie endlich Auskunft zu erhalten Gelegenheit hat, ging sie doch erst in ihrem 36. Lebensjahr aus ihrer Vaterstadt weg, also in erwachsenem Zustand lebte sie mit vielen Menschen, deren Schicksal sie nun kennen lernt. So sehr ich mich freue, daß Klara den Weg zu ihrer ältesten Schwester gefunden hat, so sehr bedauere ich die Erschütterung, die unvermeidlich ist – man kehrt nicht einmal in Gedanken unerschüttert an einem Ort zurück, an dem man so lange gelebt hat. Wenn es der Sinn des Lebens ist zu sterben u. zu werden, 3 so hat es immerhin Beklemmendes, wenn ein Neugewordener gleichsam in das frühere Leben zurückgeht – es liegen Fernen dazwischen, die eine Verbindung beider Welten unmöglich machen, wovon man sich erst überzeugen könnte, wenn man den Fuß in die andere Gegend setzte; so wenig ein erwachsener Mensch Kindesform in Körper u. Geist anzunehmen imstande wäre, so wenig ist es nach Ueberwindung einer gewissen Umgebung möglich, wieder in diese einzutreten. Das trifft auch bei Frauen zu, die doch vermöge ihrer größe- {3237} ren Anpassungsfähigkeit das Widrige eines solchen Wechsels weniger empfinden. Ganz besonders unmöglich wird ein Zurück, wenn es dem Betreffenden unwillkommen ist. — Von Frl. Kahn (Ansichtsk. aus Steinach): Grüße. — Von Prof. Stein das Manuscript zurück (recomm.). — Vollmond wie ein glühender Ball. —© Transcription Marko Deisinger. |
30.
Apart from small mist patches around the mountain peaks, which provide an attractive illumination, the outlook for the day is, surprisingly, directed at cloudlessness (!!); to be sure, the clouds close together around 8 o'clock and thicken in such a way that the sun appears to be blocked out; but in the end they disperse completely. — From 9:30 to 10:30 in the Jam Valley; Lie-Liechen makes a bouquet for our guests. — In due course the ladies from Berlin give us further summer addresses, for which I thank them by playing the piano (Schubert and Josef Strauß); the ladies leave at midday. — Mr. Salmann, with a young daughter, arrives in his own automobile. — To Director Halberstam (picture postcard): thanks for the greetings; I add an account of the matter of the commendation for an honor. — After lunch, on the balcony, reading the newspaper. — After teatime, candies brought to "little Ernst"; we spend {3236} half an hour with old Mattle, who is still inclined towards joking, full of wit and humor. 1 — On the way home, we meet Mrs. and Miss Fink; the mother uses the occasion to ask me about the capabilities of Dr. Felix Rosenthal! I poke here and there, to determine which answer would be appropriate, but stumble at each attempt on shaky ground; in particular the two ladies find it difficult to understand what I mean by "attitude towards art," which is in every case critical. The mother stresses that her daughter has no intention of becoming an artist (as if such a thing were possible!), that her daughter only plays at playing. 2 — At 8 o'clock, Klara arrives with her husband and child; we stay together until 10:15. My Lie-Liechen is assailed by a turmoil that is all too understandable: she has, after all, five sisters and three brothers, about whom she finally has the opportunity of receiving some information. She did not leave her home town until she was thirty-six years old; thus she lived as an adult with many people whose fates she now learns about. As much as I am glad that Klara has found the way to her eldest sister, I regret very much the disturbance, which is unavoidable – one does not remain unshaken when returning to thoughts about a place in which one has lived for such a long time. If it is the purpose of life to die and to become, 3 there is nonetheless something oppressive when one who has become something new returns to one's earlier life, so to speak – there are spaces between them, which makes a connection between the two worlds impossible – something which one becomes convinced of only after setting foot in the other place. As little as a grown person were capable of assuming the form and intellect of a child, so little is it possible, having outgrown a particular environment, to step into it once again. This is also the case with women, though, thanks to their greater {3237} adaptability, they are less sensitive to the unpleasant features of such a change. A return is especially impossible if it is undesirable to the person concerned. — From Miss Kahn (picture postcard from Steinach): greetings. — From Prof. Stein, the manuscript returned (by registered post). — Full moon, like a glowing ball. —© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 No paragraph-break in source. 2 No paragraph-break in source. 3 i.e. to cease being a child, and to act like an adult: a poetic locution, as one might expect Schenker to use when describing his wife's emotional state. |