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Bottrop, den 31 Okt. 29.

Sehr geehrter Herr Doktor! 1

Da mich gegenwärtig das Studium Ihrer Werke wieder sehr beschäftigt, trage ich Sorge, ob ich auch wohl alles richtig begreife. Aus diesem Grunde faßte ich den Plan, Ihnen zwei selbstständig unternommene Analysen einzusenden mit der frdl. Bitte, sie gelegentlich durchzusehen, ein Verlangen, das Sie mir, da ich Ihre Güte bereits erfahren habe, sicher nicht Abschlagen werden. Die beiden Beispiele sind: Mendelssohn, Lied ohne Worte A moll, {2} Petersausgabe (leider) No 2 und No 8 der 12 Kleinen Präludien von S. Bach. Dargestellt habe ich nur Urlinie und Stufengang. 2

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Augenblicklich beschäftige ich mich mit Ihrer Harmonielehre, wo mich besonders die Kapitel von der Tonikalisierung fesseln. Wie einfach erscheint mir jetzt manches, was vorher so verwickelt war. Leider ist mein Exemplar etwas mißraten, da es die Seiten 289–304 doppelt enthält, wofür aber die Seiten 305–320 incl. fehlen. Das ganze dritte Kapitel: Von den Arten des Stufenganges hat mir der Verlag also nicht gegönnt. 3 Wie gerne möchte ich dafür Rache nehmen! Wird Ihre Neubear[bei]tung in absehbarer Zeit zu erwarten sein, damit ich mich durch Erwerb der neuen Auflage schadlos halten kann. Gerade die {3} Beschreibung der Stufenschritte scheint mir noch manches Wichtige zu bringen.

Hier fällt mir soeben ein kleinicher Gedanke ein. Sie verwenden an verschiedenen Stellen in Ihren büchern usw. den Ausdruck „Portamento,” wo nach meinem unmaßgeblichen Gefühl „Portato“ stehen müßte. Etymologisch wird beides wohl auf eins hinauslaufen. „Wir“ Geiger sind aber gewöhnt, unter „Portamento“ uns die enge Verbindung zweier Töne durch Fingerschub auf der Saite vorzustellen. Mit „Portato“ meinen wir doch das Forttragen des Tones trotz Absetzen des Bogens, also das was Sie in den Beispielen wohl sagen wollten. Oder irre ich da?

Vor kurzem könnte ich Vrieslanders Biographie über Ph. E. Bach 4 und dessen Kantaten und Lieder meiner Bücherei einverleiben. Die Kantate {4} Phillis und Thirsis werde ich bei unserer winterlichen Schulfeier durch eine Leipziger Sängerin aufführen. Da den Schulmännern Musik dann am wertvollsten erscheint, wenn sie durch die Brille der Kulturgeschichte betrachtet werden kann, habe ich als Rahmen „Zwei Musikabende aus dem Leben Goethes“ gewählt. Im zweiten Teil, der am Weimarer Hof in der Zeit des Rokoko spielt, soll dann die Kantate stehen.

Ich glaube, allmälich Ihre Geduld genug in Anspruch genommen zu haben und beeile mich daher zu schließen. Sollten Sie mich nochmals einiger Zeilen Antwort wert erachten, so würde ich mich glücklich schätzen und von Herzen dankbar sein,


Ihr ergebenster
[signed:] B. Martin

Bottrop iW.
Göbenstr. 4.

© Transcription Ian Bent, 2022


Bottrop, October 31, 1929

Dear Dr. [Schenker], 1

Since I am currently again very busy studying your works, I am apprehensive as to whether I am really understanding it all correctly. For this reason I hatched a plan to send you two independently undertaken analyses, respectfully requesting you to look them over when you have a moment – a request that, since I have already been the beneficiary of your kindness, I feel sure you will not refuse me. The two examples are: Mendelssohn, Song without Words in A minor, {2} Peters edition (unfortunately) No. 2, and No. 8 of the Twelve Short Preludes by J. S. Bach. I have presented just the Urlinie and scale-degree progression. 2

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At the moment, I am busy reading your Theory of Harmony , of which the chapter on tonicization has especially enthralled me. How simple now does so much appear to me that hitherto was so entangled. Unfortunately, my copy is jumbled up, pages 289–304 appearing twice while pp. 305–320 are missing. The publisher has thus deprived me of the entire third chapter [of Part II, Section I], "On the Varieties of Scale-degree Progressions." 3 How I should like to wreak vengeance [on him] for that! Is your revised version expected in the foreseeable future, so that I can be reimbursed upon acquiring the new impression? It seems to me that precisely {3} in the account of the scale-degree steps there is still so much that is important to be said.

A pedantic point has just come to mind. At various places in your books etc. you use the term portamento where to my unauthoritative mind portato ought to be used. Etymologically, the two doubtless come to the same thing. But “we” violinists are accustomed by portamento to imagine the close connecting of two tones by sliding the finger along the string. By portato we mean, on the other hand, the continuation of the tone despite stopping the bow, therefore what you really intend in the examples. Or have I got this wrong?

A short while ago I was able to add Vrieslander’s biography of C. P. E. Bach 4 and his cantatas and songs to my library. I am going to perform the cantata {4} Phyllis and Thirsis at our winter school festival, using a Leipzig female singer. Since music seems to the schoolmen to be most valuable when it can be viewed through the lens of cultural history, I have selected “two evenings of music from the life of Goethe” as its frame. The cantata will be placed in Part II, which is played at the Weimar court in the rococo period.

I believe I have gradually trespassed sufficiently on your patience, so I will hurry to a close. If you were some time to deem it worthy [to send] a few lines in answer, I should consider myself fortunate and thankful from the bottom of my heart.


Your most devoted
[signed:] B. Martin

Bottrop in Westphalia
Göbenstraße 4

© Translation Ian Bent, 2022


Bottrop, den 31 Okt. 29.

Sehr geehrter Herr Doktor! 1

Da mich gegenwärtig das Studium Ihrer Werke wieder sehr beschäftigt, trage ich Sorge, ob ich auch wohl alles richtig begreife. Aus diesem Grunde faßte ich den Plan, Ihnen zwei selbstständig unternommene Analysen einzusenden mit der frdl. Bitte, sie gelegentlich durchzusehen, ein Verlangen, das Sie mir, da ich Ihre Güte bereits erfahren habe, sicher nicht Abschlagen werden. Die beiden Beispiele sind: Mendelssohn, Lied ohne Worte A moll, {2} Petersausgabe (leider) No 2 und No 8 der 12 Kleinen Präludien von S. Bach. Dargestellt habe ich nur Urlinie und Stufengang. 2

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Augenblicklich beschäftige ich mich mit Ihrer Harmonielehre, wo mich besonders die Kapitel von der Tonikalisierung fesseln. Wie einfach erscheint mir jetzt manches, was vorher so verwickelt war. Leider ist mein Exemplar etwas mißraten, da es die Seiten 289–304 doppelt enthält, wofür aber die Seiten 305–320 incl. fehlen. Das ganze dritte Kapitel: Von den Arten des Stufenganges hat mir der Verlag also nicht gegönnt. 3 Wie gerne möchte ich dafür Rache nehmen! Wird Ihre Neubear[bei]tung in absehbarer Zeit zu erwarten sein, damit ich mich durch Erwerb der neuen Auflage schadlos halten kann. Gerade die {3} Beschreibung der Stufenschritte scheint mir noch manches Wichtige zu bringen.

Hier fällt mir soeben ein kleinicher Gedanke ein. Sie verwenden an verschiedenen Stellen in Ihren büchern usw. den Ausdruck „Portamento,” wo nach meinem unmaßgeblichen Gefühl „Portato“ stehen müßte. Etymologisch wird beides wohl auf eins hinauslaufen. „Wir“ Geiger sind aber gewöhnt, unter „Portamento“ uns die enge Verbindung zweier Töne durch Fingerschub auf der Saite vorzustellen. Mit „Portato“ meinen wir doch das Forttragen des Tones trotz Absetzen des Bogens, also das was Sie in den Beispielen wohl sagen wollten. Oder irre ich da?

Vor kurzem könnte ich Vrieslanders Biographie über Ph. E. Bach 4 und dessen Kantaten und Lieder meiner Bücherei einverleiben. Die Kantate {4} Phillis und Thirsis werde ich bei unserer winterlichen Schulfeier durch eine Leipziger Sängerin aufführen. Da den Schulmännern Musik dann am wertvollsten erscheint, wenn sie durch die Brille der Kulturgeschichte betrachtet werden kann, habe ich als Rahmen „Zwei Musikabende aus dem Leben Goethes“ gewählt. Im zweiten Teil, der am Weimarer Hof in der Zeit des Rokoko spielt, soll dann die Kantate stehen.

Ich glaube, allmälich Ihre Geduld genug in Anspruch genommen zu haben und beeile mich daher zu schließen. Sollten Sie mich nochmals einiger Zeilen Antwort wert erachten, so würde ich mich glücklich schätzen und von Herzen dankbar sein,


Ihr ergebenster
[signed:] B. Martin

Bottrop iW.
Göbenstr. 4.

© Transcription Ian Bent, 2022


Bottrop, October 31, 1929

Dear Dr. [Schenker], 1

Since I am currently again very busy studying your works, I am apprehensive as to whether I am really understanding it all correctly. For this reason I hatched a plan to send you two independently undertaken analyses, respectfully requesting you to look them over when you have a moment – a request that, since I have already been the beneficiary of your kindness, I feel sure you will not refuse me. The two examples are: Mendelssohn, Song without Words in A minor, {2} Peters edition (unfortunately) No. 2, and No. 8 of the Twelve Short Preludes by J. S. Bach. I have presented just the Urlinie and scale-degree progression. 2

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At the moment, I am busy reading your Theory of Harmony , of which the chapter on tonicization has especially enthralled me. How simple now does so much appear to me that hitherto was so entangled. Unfortunately, my copy is jumbled up, pages 289–304 appearing twice while pp. 305–320 are missing. The publisher has thus deprived me of the entire third chapter [of Part II, Section I], "On the Varieties of Scale-degree Progressions." 3 How I should like to wreak vengeance [on him] for that! Is your revised version expected in the foreseeable future, so that I can be reimbursed upon acquiring the new impression? It seems to me that precisely {3} in the account of the scale-degree steps there is still so much that is important to be said.

A pedantic point has just come to mind. At various places in your books etc. you use the term portamento where to my unauthoritative mind portato ought to be used. Etymologically, the two doubtless come to the same thing. But “we” violinists are accustomed by portamento to imagine the close connecting of two tones by sliding the finger along the string. By portato we mean, on the other hand, the continuation of the tone despite stopping the bow, therefore what you really intend in the examples. Or have I got this wrong?

A short while ago I was able to add Vrieslander’s biography of C. P. E. Bach 4 and his cantatas and songs to my library. I am going to perform the cantata {4} Phyllis and Thirsis at our winter school festival, using a Leipzig female singer. Since music seems to the schoolmen to be most valuable when it can be viewed through the lens of cultural history, I have selected “two evenings of music from the life of Goethe” as its frame. The cantata will be placed in Part II, which is played at the Weimar court in the rococo period.

I believe I have gradually trespassed sufficiently on your patience, so I will hurry to a close. If you were some time to deem it worthy [to send] a few lines in answer, I should consider myself fortunate and thankful from the bottom of my heart.


Your most devoted
[signed:] B. Martin

Bottrop in Westphalia
Göbenstraße 4

© Translation Ian Bent, 2022

Footnotes

1 Receipt of this letter is recorded in Schenker’s diary for November 4, 1929: “Von Martin (Br.): zwei Urlinien: Mendelssohn Lied ohne Worte No. 2 u. Kleines Präludium von Bach Fdur.” (“From Martin (letter): two Urlinie graphs: Mendelssohn's Song without Words No. 2 and Short Prelude in F by Bach.”).

2 Martin writes continuously at this point without paragraph-break.

3 Chapter 3 of Part II, Section I, occupies pp. 311–19.

4 Otto Vrieslander, Carl Philipp Emanuel Bach (Munich: Piper, 1923).

Commentary

Format
4p letter, recto-verso, holograph salutation, message, valediction, and signature + 1 sheet with musical notation
Provenance
Schenker, Heinrich (document date-1935)--Schenker, Jeanette (1935-c.1942)--Ratz, Erwin (c.1942-c.1955)--Jonas, Oswald (c.1955-1978)--University of California, Riverside (1978-)
Rights Holder
Heirs and representatives of Bernhard Martin. Deemed to be in the public domain.
License
All reasonable attempts have been made to identify the heirs or representatives of Bernhard Martin. This document is deemed to be in the public domain. Any claim to intellectual rights on this document should be addressed to the Schenker Correspondence Project, Faculty of Music, University of Cambridge, at schenkercorrespondence[at]mus(dot)cam(dot)ac(dot)uk

Digital version created: 2022-05-25
Last updated: 2011-06-09