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OJ 12/9, [3] - Handwritten letter from Karpath to Schenker, dated March 10, 1911
zunächst muss ich Sie bitten, deutlicher zu schreiben. So oft ich in den letzten zwei Jahren von Ihnen Briefe bekomme, zittere ich, denn ich habe die grösste Mühe sie zu entziffern. Dann rate ich Ihnen, nicht so gallig zu sein. Das Leben ist kurz, warum es sich auch noch selber verbittern. Auch denke man an die „Zores“ der Anderen, nicht nur an die eigenen! Was wissen Sie, was ich in den letzten Wochen durchgemacht habe! Einen Vortrag Hirschfeld’s hervorzuheben, kostet nicht die geringste Mühe, höchstens die, daß man die 3 Zeilen niederschreibt. Das ist Alles. Das Continuo-Büchlein 2 muß ich doch lesen † , ebenso Ihr Werk, dessen Nichtanzeige eigentlich Ihr Repriment gilt. 3 Das mit dem öffentlichen Gewissen und mit der Pflicht – ist ja eine sehr schöne Sache, aber man muss auch darnach gestellt sein, um sie ausüben zu können. Warum grade ich der Übermensch sein soll, der alle eigenen Interessen {2} beiseite schiebend, immer für die Anderen tätig sei, vermag ich nicht einzusehen. Ich hab’s genug lang getan und muß nun, – in meinem 45. Lebensjahre – endlich auch dazu schauen, für mich selber was vorzusorgen. Ein öffentliches Pflichtbewusstsein also drückt mich nicht † . Meinetwegen sagen Sie auch von mir: korrumpiert. Das kann ich angesichts unserer öffentlichen Verhältnisse ertragen. Bliebe also die Pflicht eines Freundes übrig. Diese habe ich wohl immer betätigt. Wenn ich 'mal säumig werde, wie jetzt z.B., dann hat das seine guten Gründe, die zu erforschen vielleicht eher {3} Ihre Pflicht wäre, als mich abzukanzeln. Warum kümmern Sie sich gar nicht um mich? Täten Sie’s, dann wäre Ihr Brief ungeschrieben geblieben. © Transcription Martin Eybl, 2013 |
First I must ask you to write more clearly. Whenever in the last two years I receive letters from you I get agitated because I have the greatest trouble deciphering them. I also advise you not to be so acrimonious. Life is short; why make it even more miserable for yourself? Think of other people's "vexations" as well, not just of your own! What do you know of the things I have endured in recent weeks! Publicising a lecture by Hirschfeld does not cost me the slightest effort, at most writing down the three lines. That's all. I must certainly read † the continuo booklet 2 as well as your work, of which my failure to publish an announcement was the true reason for your reprimand. 3 What you say about public conscience and duty ‒ that's all very nice, but one must also then be in a position to put it into practice. I cannot understand why it has to be I who must be the superman, {2} setting all personal interests aside and forever acting on behalf of others. I've done it for long enough, and must now, in the forty-fifth year of my life, finally also take care to provide for myself a little. So a sense of public duty does not weigh me down. I don't mind even that you call me "corrupt." In light of our public dealings, I can bear that. Which leaves the duty of a friend. That I have surely always fulfilled. If I am sometimes tardy ‒ as for example now ‒ then there is a good reason, which it would perhaps be {3} your duty to look into rather than hauling me over the coals. Why don't you show me any consideration? If you had done that, then your letter might have remained unwritten. © Translation Ian Bent, 2016 |
zunächst muss ich Sie bitten, deutlicher zu schreiben. So oft ich in den letzten zwei Jahren von Ihnen Briefe bekomme, zittere ich, denn ich habe die grösste Mühe sie zu entziffern. Dann rate ich Ihnen, nicht so gallig zu sein. Das Leben ist kurz, warum es sich auch noch selber verbittern. Auch denke man an die „Zores“ der Anderen, nicht nur an die eigenen! Was wissen Sie, was ich in den letzten Wochen durchgemacht habe! Einen Vortrag Hirschfeld’s hervorzuheben, kostet nicht die geringste Mühe, höchstens die, daß man die 3 Zeilen niederschreibt. Das ist Alles. Das Continuo-Büchlein 2 muß ich doch lesen † , ebenso Ihr Werk, dessen Nichtanzeige eigentlich Ihr Repriment gilt. 3 Das mit dem öffentlichen Gewissen und mit der Pflicht – ist ja eine sehr schöne Sache, aber man muss auch darnach gestellt sein, um sie ausüben zu können. Warum grade ich der Übermensch sein soll, der alle eigenen Interessen {2} beiseite schiebend, immer für die Anderen tätig sei, vermag ich nicht einzusehen. Ich hab’s genug lang getan und muß nun, – in meinem 45. Lebensjahre – endlich auch dazu schauen, für mich selber was vorzusorgen. Ein öffentliches Pflichtbewusstsein also drückt mich nicht † . Meinetwegen sagen Sie auch von mir: korrumpiert. Das kann ich angesichts unserer öffentlichen Verhältnisse ertragen. Bliebe also die Pflicht eines Freundes übrig. Diese habe ich wohl immer betätigt. Wenn ich 'mal säumig werde, wie jetzt z.B., dann hat das seine guten Gründe, die zu erforschen vielleicht eher {3} Ihre Pflicht wäre, als mich abzukanzeln. Warum kümmern Sie sich gar nicht um mich? Täten Sie’s, dann wäre Ihr Brief ungeschrieben geblieben. © Transcription Martin Eybl, 2013 |
First I must ask you to write more clearly. Whenever in the last two years I receive letters from you I get agitated because I have the greatest trouble deciphering them. I also advise you not to be so acrimonious. Life is short; why make it even more miserable for yourself? Think of other people's "vexations" as well, not just of your own! What do you know of the things I have endured in recent weeks! Publicising a lecture by Hirschfeld does not cost me the slightest effort, at most writing down the three lines. That's all. I must certainly read † the continuo booklet 2 as well as your work, of which my failure to publish an announcement was the true reason for your reprimand. 3 What you say about public conscience and duty ‒ that's all very nice, but one must also then be in a position to put it into practice. I cannot understand why it has to be I who must be the superman, {2} setting all personal interests aside and forever acting on behalf of others. I've done it for long enough, and must now, in the forty-fifth year of my life, finally also take care to provide for myself a little. So a sense of public duty does not weigh me down. I don't mind even that you call me "corrupt." In light of our public dealings, I can bear that. Which leaves the duty of a friend. That I have surely always fulfilled. If I am sometimes tardy ‒ as for example now ‒ then there is a good reason, which it would perhaps be {3} your duty to look into rather than hauling me over the coals. Why don't you show me any consideration? If you had done that, then your letter might have remained unwritten. © Translation Ian Bent, 2016 |
Footnotes1 Receipt of this letter is not recorded in Schenker's diary (which has no entries for March). The letter to which it responds is not known to survive, but its subject matter and abrasive tone (not to mention illegibility!) ‒ which may be judged from Karpath's reaction ‒ are addressed to Karpath as music critic of the Neues Wiener Tagblatt . 2 Moriz Violin, Über das sogenannte Continuo. Ein Beitrag zur Lösung des Problems (Vienna: UE, 1910). 3 The first half-volume of Schenker's Kontrapunkt had been published five months earlier, on October 4, 1910. |
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Format† Double underlined |
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Commentary
Digital version created: 2016-06-08 |