13. X. 1914
Die Brüssler [sic] Archive enthüllen ein festumrissenes Komplott zwischen Engländern, Belgiern u. Franzosen, das mehrere Jahre zurückreicht! 1 So war es denn also mehr als gerecht, wenn Beseler in seiner Proklamation an die Antwerpener 2 von einem „perfiden Albion“ 3 spricht. Freilich hat es dann noch seine weiten Wege , bis zur vollen Erkenntnis der Wahrheit bei den Belgiern; denn war nur einmal der Belgier so weit willig, sich vom Engländer imponieren u. anlügen zu lassen, so wird er nunmehr alle Eitelkeit aufbieten, um nicht zuzugeben, daß er belogen wurde. Und so haben die Deutschen augenblicklich wenig Aussicht, ihre Gegner von der Wahrheit zu überzeugen. *Lie-Liechen schickt einen Betrag per Adresse der „N. Fr. Pr.“ für die galizischen Flüchtlinge, womit nicht nur der primäre Zweck verfolgt wird einen kleinen Beitrag zur Linderung des Elends zu leisten, sondern auch der secundäre, der geldsüchtigen Bande 4 in Aussig eine Lection zu geben. 5 *Breisach sagt ab u. bereitet mir dadurch die Unmöglichkeit, den Vater wegen rückständigen Honorars zu mahnen. Briefe u. Prozessakten in Ordnung gebracht bezw. verpackt. *Seit Erschaffung der Welt gab es Tratsch, nur war er anfangs mündlich. Dank den Journalisten als Neuigkeitshändlern liegt der Welttratsch nun gedruckt vor, doch bleibt auch auf den gedruckten Tratsch anzuwenden, was vom mündlichen gilt: daß er die Welt wahrlich nicht besser, nicht klüger macht. Bestenfalls könnte man sagen, daß sich der gedruckte zum mündlichen Tratsch etwa so verhält, wie Eßbesteck zu den natürlichen {742} Werkzeugen. So wenig das Eßbesteck das entscheidende Merkmal menschlicher Kultur ist, so wenig ist auch der gedruckte Tratsch ein wirklicher Kulturfaktor, zumal selbst der Tratsch verschieden von verschiedenen Parteien geführt wird, aber stets nur resultatlos verläuft. *Ein russischer Kreutzer [sic] wird durch ein deutsches Torpedo zum sinken [sic] gebracht! 6 *Ein reicher Kaufmann (Feigl), der einen Baustein fürs Roten Kreuz per Adr. „N. W. Tgbl.“ einschickt, schreibt einen kuriosen Brief dazu, worin er ausführt, daß heute, nachdem die allgemeine Situation in Galizien zusehends besser geworden u. im Zusammenhang damit eine Angst bezüglich der Entwertung überflüssig ist, es den Reichen leichter als früher fallen müßte, einen Betrag für wohltätige Zwecke zu spenden. 7 Eine sonderbare Logik, die für das reiche Gesindel typisch ist. Folgt denn nicht aus dem Gedankengang des Schreibers, daß die Reichen von einem minimalen Teil ihres Besitzes sich nicht einmal zu einer Zeit trennen wollten, da sie den Besitz für wertlos oder mindestens dubios gehalten haben? Also nicht einmal Wertloses herzuschenken[,] bringen die Reichen über sich. Bedenkt man aber, daß die Armen ihre Geschenke d einem Nichts entnehmen, das wirklich noch weniger ist als das Wertlose der Reichen, so offenbart sich die Niedrigkeit der reichen Schmarotzer aufs deutlichste gerade darin, daß sie sich auch in den Spenden von den Armen vertreten lassen. Somit ist obiger [illeg]Gedankengang des reichen Mannes genau so schmutzig wie die Handlungsweise; Ddoch dürfte außer mir sonst niemand darauf gekommen sein. *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 13, 1914.
The Brussels archives uncover a clear-cut conspiracy between Englishmen, Belgians, and Frenchmen, which dates back several years! 1 Thus it was more than justified of Beseler, in his proclamation to the people of Antwerp, 2 to speak of "perfidious Albion." 3 Admittedly it will be a long time before we know the truth about the Belgians; for if a Belgian was really so willing to be seduced and lied to by an Englishman, then he would summon all his vanity in order not to admit that he had been lied to. And thus the Germans have, for the time being, little prospect of convincing their opponents of the truth. *Lie-Liechen sends a sum of money in care of the Neue freie Presse , for the refugees from Galicia. Not only has the principal purpose, a small contribution to the relief of the misery, been fulfilled, but also a second one, to teach the greedy gang 4 in Aussig a lesson. 5 *Breisach cancels, and thus makes it impossible for me to remind his father of the fee for lessons not yet paid. Letters and legal dossiers put in order and packed up. *Since the creation of the world there has been gossip, but it was only oral at the beginning. Thanks to journalists, the merchants of the news, the world's gossip is now in printed form; yet what was true of the oral gossip applies also to what is published: that it is not making the world a truly better, more intelligent place. At best one could say that the printed gossip is similarly related to the oral as eating utensils are related to natural tools. {742} As little as eating utensils are the critical indicator of human culture, so little is printed gossip a true cultural factor, all the more so as the gossip is transmitted differently by different parties but always proceeds without result. *A Russian cruiser is sunk by a German torpedo! 6 *A rich merchant (Feigl), who sends a [contribution for a] building stone for the Red Cross in care of the Neues Wiener Tagblatt , writes a strange accompanying letter in which he explains that today, after the general situation in Galicia has improved markedly and that, in connection with this, any fear of devaluation is superfluous, it must be easier than before for rich persons to make a contribution to good causes. 7 A strange logic, typical of the rich riff-raff. Does it not follow from the writer's line of reasoning that the rich do not wish to part with a minimal part of their possessions at a time when they regard their possessions as worthless or at least of dubious value? Thus the rich cannot even bring themselves to give away something worthless. If one considers, however, that the poor derive their gifts from a zero level, which is really even less than the worthless gifts of the rich, then the baseness of the rich freeloaders may be seen most clearly in the fact that, even in the act of giving, they let the poor do their work for them. Thus the line of reasoning of the rich man, as indicated above, is just as selfish as his way of doing business; but no one other myself has realized this. *
© Translation William Drabkin. |
13. X. 1914
Die Brüssler [sic] Archive enthüllen ein festumrissenes Komplott zwischen Engländern, Belgiern u. Franzosen, das mehrere Jahre zurückreicht! 1 So war es denn also mehr als gerecht, wenn Beseler in seiner Proklamation an die Antwerpener 2 von einem „perfiden Albion“ 3 spricht. Freilich hat es dann noch seine weiten Wege , bis zur vollen Erkenntnis der Wahrheit bei den Belgiern; denn war nur einmal der Belgier so weit willig, sich vom Engländer imponieren u. anlügen zu lassen, so wird er nunmehr alle Eitelkeit aufbieten, um nicht zuzugeben, daß er belogen wurde. Und so haben die Deutschen augenblicklich wenig Aussicht, ihre Gegner von der Wahrheit zu überzeugen. *Lie-Liechen schickt einen Betrag per Adresse der „N. Fr. Pr.“ für die galizischen Flüchtlinge, womit nicht nur der primäre Zweck verfolgt wird einen kleinen Beitrag zur Linderung des Elends zu leisten, sondern auch der secundäre, der geldsüchtigen Bande 4 in Aussig eine Lection zu geben. 5 *Breisach sagt ab u. bereitet mir dadurch die Unmöglichkeit, den Vater wegen rückständigen Honorars zu mahnen. Briefe u. Prozessakten in Ordnung gebracht bezw. verpackt. *Seit Erschaffung der Welt gab es Tratsch, nur war er anfangs mündlich. Dank den Journalisten als Neuigkeitshändlern liegt der Welttratsch nun gedruckt vor, doch bleibt auch auf den gedruckten Tratsch anzuwenden, was vom mündlichen gilt: daß er die Welt wahrlich nicht besser, nicht klüger macht. Bestenfalls könnte man sagen, daß sich der gedruckte zum mündlichen Tratsch etwa so verhält, wie Eßbesteck zu den natürlichen {742} Werkzeugen. So wenig das Eßbesteck das entscheidende Merkmal menschlicher Kultur ist, so wenig ist auch der gedruckte Tratsch ein wirklicher Kulturfaktor, zumal selbst der Tratsch verschieden von verschiedenen Parteien geführt wird, aber stets nur resultatlos verläuft. *Ein russischer Kreutzer [sic] wird durch ein deutsches Torpedo zum sinken [sic] gebracht! 6 *Ein reicher Kaufmann (Feigl), der einen Baustein fürs Roten Kreuz per Adr. „N. W. Tgbl.“ einschickt, schreibt einen kuriosen Brief dazu, worin er ausführt, daß heute, nachdem die allgemeine Situation in Galizien zusehends besser geworden u. im Zusammenhang damit eine Angst bezüglich der Entwertung überflüssig ist, es den Reichen leichter als früher fallen müßte, einen Betrag für wohltätige Zwecke zu spenden. 7 Eine sonderbare Logik, die für das reiche Gesindel typisch ist. Folgt denn nicht aus dem Gedankengang des Schreibers, daß die Reichen von einem minimalen Teil ihres Besitzes sich nicht einmal zu einer Zeit trennen wollten, da sie den Besitz für wertlos oder mindestens dubios gehalten haben? Also nicht einmal Wertloses herzuschenken[,] bringen die Reichen über sich. Bedenkt man aber, daß die Armen ihre Geschenke d einem Nichts entnehmen, das wirklich noch weniger ist als das Wertlose der Reichen, so offenbart sich die Niedrigkeit der reichen Schmarotzer aufs deutlichste gerade darin, daß sie sich auch in den Spenden von den Armen vertreten lassen. Somit ist obiger [illeg]Gedankengang des reichen Mannes genau so schmutzig wie die Handlungsweise; Ddoch dürfte außer mir sonst niemand darauf gekommen sein. *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 13, 1914.
The Brussels archives uncover a clear-cut conspiracy between Englishmen, Belgians, and Frenchmen, which dates back several years! 1 Thus it was more than justified of Beseler, in his proclamation to the people of Antwerp, 2 to speak of "perfidious Albion." 3 Admittedly it will be a long time before we know the truth about the Belgians; for if a Belgian was really so willing to be seduced and lied to by an Englishman, then he would summon all his vanity in order not to admit that he had been lied to. And thus the Germans have, for the time being, little prospect of convincing their opponents of the truth. *Lie-Liechen sends a sum of money in care of the Neue freie Presse , for the refugees from Galicia. Not only has the principal purpose, a small contribution to the relief of the misery, been fulfilled, but also a second one, to teach the greedy gang 4 in Aussig a lesson. 5 *Breisach cancels, and thus makes it impossible for me to remind his father of the fee for lessons not yet paid. Letters and legal dossiers put in order and packed up. *Since the creation of the world there has been gossip, but it was only oral at the beginning. Thanks to journalists, the merchants of the news, the world's gossip is now in printed form; yet what was true of the oral gossip applies also to what is published: that it is not making the world a truly better, more intelligent place. At best one could say that the printed gossip is similarly related to the oral as eating utensils are related to natural tools. {742} As little as eating utensils are the critical indicator of human culture, so little is printed gossip a true cultural factor, all the more so as the gossip is transmitted differently by different parties but always proceeds without result. *A Russian cruiser is sunk by a German torpedo! 6 *A rich merchant (Feigl), who sends a [contribution for a] building stone for the Red Cross in care of the Neues Wiener Tagblatt , writes a strange accompanying letter in which he explains that today, after the general situation in Galicia has improved markedly and that, in connection with this, any fear of devaluation is superfluous, it must be easier than before for rich persons to make a contribution to good causes. 7 A strange logic, typical of the rich riff-raff. Does it not follow from the writer's line of reasoning that the rich do not wish to part with a minimal part of their possessions at a time when they regard their possessions as worthless or at least of dubious value? Thus the rich cannot even bring themselves to give away something worthless. If one considers, however, that the poor derive their gifts from a zero level, which is really even less than the worthless gifts of the rich, then the baseness of the rich freeloaders may be seen most clearly in the fact that, even in the act of giving, they let the poor do their work for them. Thus the line of reasoning of the rich man, as indicated above, is just as selfish as his way of doing business; but no one other myself has realized this. *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 "Wie Belgien auf Englands Betreiben seine Neutralität brach. Aus den Archiven des belgischen Generalstabes," Berliner Tageblatt, No. 520, 42nd year, October 13, 1914, morning edition, p. [1]. 2 The proclamation of the German general Hans von Beseler to the population of Antwerp is reproduced in a number of newspapers, for instance the Berliner Tageblatt, No. 517, 42nd year, October 11, 1914, morning edition, p. [2]; the Neue Freie Presse, No. 18008, October 12, 1914, afternoon edition, p. 3. The phrase "perfidious Albion" (see note 3) is, however, not included in it. 3 The phrase "perfidious Albion," used to describe the apparent deviousness of English foreign policy, surfaced for the first time in France. In Augustin Louis Ximénès's poem L'Ère des Français (1793) it expresses bitterness about England's participation in the European coalition against revolutionary France. It resurfaced whenever there was a conflict between France and England, later also between Germany and England. In German-speaking lands the expression was used frequently during the Wilhelmine period, as the tension between Germany and Great Britain increased. 4 That is, Jeanette's husband Emil Kornfeld and his lawyers, with whom she fought a long-running battle for divorce. 5 Jeanette's contribution of 10 Kronen appeared in print two days later; see "Sammlung der „Neuen Freien Presse“ für die armen Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina," Neue Freie Presse, No. 18011, October 15, 1914, morning edition, p. 6. 6 "Ein russischer Kreuzer in den Grund gebohrt. Durch den Torpedoschuß eines deutschen Kriegsschiffes im Finnischen Meerbusen," Neue Freie Presse, No. 18009, October 13, 1914, evening edition, p. 1. 7 "Bausteine für das Rote Kreuz," Neues Wiener Tagblatt, No. 283, October 13, 1914, 48th year, p. 11. |