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4. XII.

Früh morgens läuft die Schwester ein, die uns erzählt, wie der Schwager zunächst vergeblich mich u. Lie-Liechen gesucht habe, hernach aber zur Mama gefahren sei, wo er die Adresse sich geholt habe. Hierauf ging ich mit ihr zu Direktor Hofmokl, um ihm den Fall des Schwagers nahezulegen. In der Tat gab er ein Empfehlungsschreiben an einen Ober-Stabsarzt der Schwester {795} mit. Im Grunde scheint die Darstellung des Schwagers keine ganz aufrichtige; er ist so sehr vom eigensinnigen Wunsche in Wien zu bleiben beherrscht, daß er alle anderen Möglichkeiten so viel als wie möglich zur Seite schiebt, u. so wissen wir bis zur Stunde nicht, ob er wirklich entlassen worde oder blos zur Dienstleistung an einem anderen Ort bestimmt worden ist. Um seinen Wunsch durchzudrücken, scheint er ein offenbar günstiges Moment zu verschweigen u. im Grunde uns irrezuführen. Indessen tat ich meine Pflicht, verwies im übrigen die Schwester auch noch auf die Verbindung Isaak Mosler – Lanzkoronski 1 u. harre nun der Entscheidung. – Hofmokl war sonst sehr liebenswürdig u. wenn seine Empfehlungskarte nicht gerade überaus warm klang, so liegt das, wie ich glaube, mehr an der organischen Unbildung des Aerztestandes überhaupt, als im Mangel an guten Willen.

Ich kehre noch zu Lie-Liechen am Vormittag zurück; kaum war ich fortgegangen, entschied sich – u. wieder mit sehr unerwartetem Ausgange – eine sehr wichtige Angelegenheit der Mama. Auf unser Betreiben erschien nämlich die bereits engagierte Haushälterin u. teilte Lie-Liechen mit, daß sie jetzt überhaupt gar nicht daran denken könne in den Dienst zu treten, da sie selbst der Pflege bedarf u. unseren Antrag nur angenommen habe, um von seiten [sic] der Mutter irgend eine Pflege zu haben. Wie stark die Natur es nur darauf angelegt hat, die Lebewesen einfach ihren Lebens-Film abrollen zu lassen, zeigt sich am besten an solchen Beispielen. Die Haushälterin denkt sich bei der Annahme eines Antrages etwas anderes, nimmt ihn gleichwohl an, um ihn später, im entscheidenden Moment, doch wieder abzulehnen! Wie viel Zeit doch bei solchem Hin u. Her verloren geht! In Prolongation der Ewigkeit u. der Milliarden von Menschen ergibt ein solches Hin u. Her gerade das jammervolle Bild der Menschheit u. ihrer Entwicklung!

*

Brief an Wilhelm vormittags u. nachmittags geschrieben, um ihn in die Falle seines eigenen verschmitzten Antrags hineinzulocken.

*

Weisse erscheint wieder etwas früher, um außerhalb der Stunde einige Minuten zu gewinnen, {796} worauf ich eine scharf pointierte Philippika losließ wieder [sic] alle diejenigen, die meine Zeit plündern, blos weil sie sich nicht Rechenschaft geben können, wie sehr ich der Zeit bedarf, um außerhalb der Verpflichtungen meinen eigenen Arbeiten nachgehen zu können. Der Egoismus des Jungen, sein Referat 2 in Sicherheit zu bringen, läßt ihn eben auf meine Kosten schmarotzen. Doch wird ihm das Handwerk noch ordentlich gelegt!

*

Von der Schwester keine Auskunft über das Ergebnis beim Corpscommando, was das ganze Treiben des Schwagers erst recht verdächtig macht. Diesbezüglich Brief an sie durch die Hand Lie-Liechens. — Brief an Wilhelm recommandirt abgeschickt. Ich fürchte, daß der herzliche Ton den rüden Bruder die Einbildung einer Ueberlegenheit verschaffen wird; dann aber wäre der Tölpel erst recht in die Falle gegangen. — Von der Tante Nachricht, daß sie meine beiden Karten erhalten hat, was im Widerspruch zu der Mitteilung steht, die ich auf Umwegen über die Schwester erhalten, daß sie gar nichts davon weiß. Mit solchem Gesindel muß man Tage, Monate, Jahre verbringen u. ihnen Vorteile verschaffen, wo sie selbst nicht einmal noch wissen was man vorzubringen hat, wenn man solche Vorteile erlangen will!

*

© Transcription Marko Deisinger.

December 4, 1914.

Early in the morning my sister arrives; she tells us how my brother-in-law at first looked for me and Lie-Liechen in vain, but then went to Mama's, where he obtained our address. Thereupon I went with her to Director Hofmokl, to put to him my brother-in-law's situation. In fact, he handed my sister a letter of recommendation to a commanding staff surgeon. {795} Basically, the situation my brother-in-law portrays is not entirely sincere; he is so dominated by an obstinate wish to remain in Vienna that he pushes all other possibilities as far as possible to the side; and so to this moment we do not know whether he has been dismissed or merely destined for a position elsewhere. To carry through his wish, he seems to be concealing a favorable opportunity and is basically deceiving us. Nonetheless I did my duty, furthermore referred my sister to the connection between Isaak Mosler and Lanzkoronskim, 1 and now await the decision. – Hofmokl was otherwise very kindhearted; and if his card of recommendation did not actually sound completely enthusiastic, that, I believe, has more to do with the general lack of education among doctors than a lack of goodwill.

I return to Lie-Liechen by the end of the morning; hardly had I been gone than a very important matter concerning my mother was settled – and again with very unexpected consequences: at our instigation, the housekeeper appeared and told Lie-Liechen that she cannot at all think about entering into our service, since she herself needs looking after and had only accepted our proposal in order to have some sort of care from my mother. How strongly nature has arranged to let the life story of living beings unfold is best demonstrated in such examples. The housekeeper is thinking of something else when she receives a proposal, nonetheless accepts it only later, in a crucial moment, to turn it down! How much time has been lost by such toing and froing! In the entire prolongation of eternity, and its billions of people, such back-and-forth truly reveals the wretched picture of humanity and its development!

*

Letter to Wilhelm written during the morning and afternoon, in order to decoy him into the trap of his own mischievous proposal.

*

Weisse again , somewhat early, in order to gain a few minutes outside his lesson time, {796} whereupon I direct a sharply worded philippic against everyone who plunders my time merely because they are unable to recognize how much I need the time in order to be able to pursue my own work, apart from my responsibilities. The boy's self-interest about bringing his dissertation 2 into a dependable state allows him to act like a parasite, even at my expense. Yet his behavior will still be punished!

*

No information from my sister about the result at the Corps headquarters, which makes me all the more suspicious about my brother-in-law's entire machinations. With regard to this, a letter sent by hand via Lie-Liechen. — Letter to Wilhelm sent off. I fear that my cordial tone will give my rude brother the illusion that he is superior; then, however, the rogue will have truly fallen into the trap. — From my aunt, news that she has received both of my postcards, which stands in contradiction to the communication which I received in a roundabout way from my sister, that she knows nothing at all about them. With such riff-raff one must spend days, months, and years, creating benefits for them, although they have no idea what they themselves should offer if they wished such benefits!

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© Translation William Drabkin.

4. XII.

Früh morgens läuft die Schwester ein, die uns erzählt, wie der Schwager zunächst vergeblich mich u. Lie-Liechen gesucht habe, hernach aber zur Mama gefahren sei, wo er die Adresse sich geholt habe. Hierauf ging ich mit ihr zu Direktor Hofmokl, um ihm den Fall des Schwagers nahezulegen. In der Tat gab er ein Empfehlungsschreiben an einen Ober-Stabsarzt der Schwester {795} mit. Im Grunde scheint die Darstellung des Schwagers keine ganz aufrichtige; er ist so sehr vom eigensinnigen Wunsche in Wien zu bleiben beherrscht, daß er alle anderen Möglichkeiten so viel als wie möglich zur Seite schiebt, u. so wissen wir bis zur Stunde nicht, ob er wirklich entlassen worde oder blos zur Dienstleistung an einem anderen Ort bestimmt worden ist. Um seinen Wunsch durchzudrücken, scheint er ein offenbar günstiges Moment zu verschweigen u. im Grunde uns irrezuführen. Indessen tat ich meine Pflicht, verwies im übrigen die Schwester auch noch auf die Verbindung Isaak Mosler – Lanzkoronski 1 u. harre nun der Entscheidung. – Hofmokl war sonst sehr liebenswürdig u. wenn seine Empfehlungskarte nicht gerade überaus warm klang, so liegt das, wie ich glaube, mehr an der organischen Unbildung des Aerztestandes überhaupt, als im Mangel an guten Willen.

Ich kehre noch zu Lie-Liechen am Vormittag zurück; kaum war ich fortgegangen, entschied sich – u. wieder mit sehr unerwartetem Ausgange – eine sehr wichtige Angelegenheit der Mama. Auf unser Betreiben erschien nämlich die bereits engagierte Haushälterin u. teilte Lie-Liechen mit, daß sie jetzt überhaupt gar nicht daran denken könne in den Dienst zu treten, da sie selbst der Pflege bedarf u. unseren Antrag nur angenommen habe, um von seiten [sic] der Mutter irgend eine Pflege zu haben. Wie stark die Natur es nur darauf angelegt hat, die Lebewesen einfach ihren Lebens-Film abrollen zu lassen, zeigt sich am besten an solchen Beispielen. Die Haushälterin denkt sich bei der Annahme eines Antrages etwas anderes, nimmt ihn gleichwohl an, um ihn später, im entscheidenden Moment, doch wieder abzulehnen! Wie viel Zeit doch bei solchem Hin u. Her verloren geht! In Prolongation der Ewigkeit u. der Milliarden von Menschen ergibt ein solches Hin u. Her gerade das jammervolle Bild der Menschheit u. ihrer Entwicklung!

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Brief an Wilhelm vormittags u. nachmittags geschrieben, um ihn in die Falle seines eigenen verschmitzten Antrags hineinzulocken.

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Weisse erscheint wieder etwas früher, um außerhalb der Stunde einige Minuten zu gewinnen, {796} worauf ich eine scharf pointierte Philippika losließ wieder [sic] alle diejenigen, die meine Zeit plündern, blos weil sie sich nicht Rechenschaft geben können, wie sehr ich der Zeit bedarf, um außerhalb der Verpflichtungen meinen eigenen Arbeiten nachgehen zu können. Der Egoismus des Jungen, sein Referat 2 in Sicherheit zu bringen, läßt ihn eben auf meine Kosten schmarotzen. Doch wird ihm das Handwerk noch ordentlich gelegt!

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Von der Schwester keine Auskunft über das Ergebnis beim Corpscommando, was das ganze Treiben des Schwagers erst recht verdächtig macht. Diesbezüglich Brief an sie durch die Hand Lie-Liechens. — Brief an Wilhelm recommandirt abgeschickt. Ich fürchte, daß der herzliche Ton den rüden Bruder die Einbildung einer Ueberlegenheit verschaffen wird; dann aber wäre der Tölpel erst recht in die Falle gegangen. — Von der Tante Nachricht, daß sie meine beiden Karten erhalten hat, was im Widerspruch zu der Mitteilung steht, die ich auf Umwegen über die Schwester erhalten, daß sie gar nichts davon weiß. Mit solchem Gesindel muß man Tage, Monate, Jahre verbringen u. ihnen Vorteile verschaffen, wo sie selbst nicht einmal noch wissen was man vorzubringen hat, wenn man solche Vorteile erlangen will!

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© Transcription Marko Deisinger.

December 4, 1914.

Early in the morning my sister arrives; she tells us how my brother-in-law at first looked for me and Lie-Liechen in vain, but then went to Mama's, where he obtained our address. Thereupon I went with her to Director Hofmokl, to put to him my brother-in-law's situation. In fact, he handed my sister a letter of recommendation to a commanding staff surgeon. {795} Basically, the situation my brother-in-law portrays is not entirely sincere; he is so dominated by an obstinate wish to remain in Vienna that he pushes all other possibilities as far as possible to the side; and so to this moment we do not know whether he has been dismissed or merely destined for a position elsewhere. To carry through his wish, he seems to be concealing a favorable opportunity and is basically deceiving us. Nonetheless I did my duty, furthermore referred my sister to the connection between Isaak Mosler and Lanzkoronskim, 1 and now await the decision. – Hofmokl was otherwise very kindhearted; and if his card of recommendation did not actually sound completely enthusiastic, that, I believe, has more to do with the general lack of education among doctors than a lack of goodwill.

I return to Lie-Liechen by the end of the morning; hardly had I been gone than a very important matter concerning my mother was settled – and again with very unexpected consequences: at our instigation, the housekeeper appeared and told Lie-Liechen that she cannot at all think about entering into our service, since she herself needs looking after and had only accepted our proposal in order to have some sort of care from my mother. How strongly nature has arranged to let the life story of living beings unfold is best demonstrated in such examples. The housekeeper is thinking of something else when she receives a proposal, nonetheless accepts it only later, in a crucial moment, to turn it down! How much time has been lost by such toing and froing! In the entire prolongation of eternity, and its billions of people, such back-and-forth truly reveals the wretched picture of humanity and its development!

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Letter to Wilhelm written during the morning and afternoon, in order to decoy him into the trap of his own mischievous proposal.

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Weisse again , somewhat early, in order to gain a few minutes outside his lesson time, {796} whereupon I direct a sharply worded philippic against everyone who plunders my time merely because they are unable to recognize how much I need the time in order to be able to pursue my own work, apart from my responsibilities. The boy's self-interest about bringing his dissertation 2 into a dependable state allows him to act like a parasite, even at my expense. Yet his behavior will still be punished!

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No information from my sister about the result at the Corps headquarters, which makes me all the more suspicious about my brother-in-law's entire machinations. With regard to this, a letter sent by hand via Lie-Liechen. — Letter to Wilhelm sent off. I fear that my cordial tone will give my rude brother the illusion that he is superior; then, however, the rogue will have truly fallen into the trap. — From my aunt, news that she has received both of my postcards, which stands in contradiction to the communication which I received in a roundabout way from my sister, that she knows nothing at all about them. With such riff-raff one must spend days, months, and years, creating benefits for them, although they have no idea what they themselves should offer if they wished such benefits!

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 Most likely the aristocratic family Lanckoroński which, as a ducal house, had a hereditary seat in the upper house of the Austrian imperial assembly. One influential family member was Duke Karl Lanckoroński (1848–1933), writer, art collector, benefactor and explorer, vice-president of the Office of State Monuments and general curator for Galicia.

2 Weisse's doctoral thesis on the artistic waltz in the nineteenth century; see diary entry for December 29, note 1.