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1. Juli 1915

Früh morgens, um als die ersten am Platze zu sein, fahren wir zur Polizei-Direktion wegen der Legitimationen. Beim Eingang aber bedeuten uns zwei Wachleute, daß wir zuvor noch eine Legitimation des Polizei-Kommissariats des III. Bezirks zu holen haben, die dann erst die Grundlage für die eigentliche, von der Polizei-Direktion auszufertigende Legitimation bilde. So haben wir auch bei dieser Gelegenheit wieder einmal das fatale Hochdeutsch unserer Behörden kennen gelernt, die in ihren Verordnungen kein Sterbenswörtchen von all’ den zu machenden Wegen verlauten ließen. Freilich bleibt uns nichts übrig, als den von {970} Augenblick zu Augenblick wechselnden Spezialanweisungen der niederen Organe zu folgen. – Nachdem wir einen leider vergeblichen Versuch, im Militärbüro eine Auskunft zu holen, eingeschaltet hatten, fuhren wir zurück in den III. Bezirk ins Polizei-Kommissariat. Dort wurden wir zur Tür 5 gewiesen. Leider waren wir nicht mehr die ersten u. mußten uns auf ein qualvolles Warten gefasst machen. Immer mehr schwoll die Menge im kleinen engen Warteraum an; Beamte u. Diener gingen her u. hin – vielleicht war gerade dieses ihre einzige Beschäftigung – verweigerten aber den Parteien jedwede Auskunft. Desto ungehöriger u. übermütiger wirkte es, als plötzlich ein ein [sic] Beamter einen dem äußern Anschein nach wohlsituierten Herrn mit zwei Damen an allen Parteien vorüber ins betreffende Zimmer N.o 5 zum Schaden aller wartenden hineinbegleitete. Unerklärlich war uns vollends, weshalb die Erledigung der einzelnen Parteien gar so lange Zeit in Anspruch nahm. Und schon konnten wir den Schluss ziehen, daß, wenn es so fortginge, wohl kaum alle Parteien ihre Abfertigung erhalten könnten. Indessen regte sich lange noch keine Hilfe u. der von den Parteien erwartete zweite Beamte erschien noch lange nicht am Horizont. Da plötzlich – wir warteten schon ¾ Stunden – rief ein untersetzter Mann in den Warteraum hinein, es möchten alle, die nach Steiermark, Kärnten u. s. w. reisen wollen, ihm folgen. Nun teilten sich die Parteien u. auch wir folgten jenem Beamten, der offenbar zur Aushilfe bestimmt war. Hier ging es aber drüber u. drunter; die Ordnung, die im früheren Warteraum stillschweigend beobachtet worden war, schien plötzlich gelockert u. um den Tisch herum gruppierten sich die Parteien ganz nach Belieben, so daß, wer am lautesten schrie, zuerst seine Legitimation erhielt. Als Lie-Liechen den Versuch machte, den Beamten auf die eingerissene Unordnung aufmerksam zu machen, erwiderte dieser gereizt, das gehe ihn nichts an, er helfe nur freiwillig u. werde sich von den Parteien nichts bieten lassen. —

{971} Endlich aber kamen doch auch wir dran u. nun konnten wir aus eigener Wahrnehmung begreifen, weshalb die Erledigung so lange Zeit beanspruchte. Eine ganz umständliche Aufnahme verschiedener Merkmale nebst Vorweisung von allerhand Legitimationen machte schon rein mechanisch den A ckt langwierig. Aber siehe, mitten in der Ausstellung der Anweisung bemerkte der Beamte, daß wir ja im Grunde ja überhaupt keiner Legitimation bedürfen, da wir ja nicht ins ein Kriegsgebiet[,] sondern in ein der Verordnung nach völlig freigegebenes Gebiet reisen wollen. – Mit der Anweisung nun [illeg]sollten wir noch einmal ins Büro Tür N.o 5 u. mit einer dort empfangenen Bestätigung zum Regierungsrat (als Leiter des Kommissariates). Indessen kürzte ich den Weg ab, u. indem ich mir die Bemerkung des Beamten zunutze machte, daß wir keiner Legitimation bedürfen, zog ich vor, direkt zum Regierungsrat zu gehen u. ihn anzufragen. Dieser bestätigte nun, daß wir keinerlei speziellen Anweisung bedürfen, so daß wir ganz überflüssig all’ die Wege vom Westbahnhof zur Polizei-Direktion, von dort zum Kommissariat gemacht haben. Die Hauptursache aber all’ dieser in den Auskunft der Behörden zutagetretenden [sic] Gegensätze ist die mangelnde Bestimmtheit schon in den sogenannten Bestimmungen der oberen Behörden. Schon die Verordnung ist aus dem Streben nach Hochdeutsch in sich unklar; kommen dazu dadurch veranlaßte mißverständliche Auffassungen der untergeordneten Organe, so erhält man das tolle Bild von widersprechendsten Angaben u. Forderungen, denen nun auch wir zum Opfer gefallen sind. Jedenfalls waren wir dem Schicksal dafür dankbar, daß es uns erspart blieb, noch weitere zwei Tage in Wien warten zu müssen (denn nach der Auskunft des Wachmannes würde die endgiltige Ausfertigung einer solchen Reiselegitimation gewöhnlich zwei Tage gedauert haben) u. frohen Herzens kehrten wir in den I. Bezirk zurück, um uns noch vor Tisch Auskunft im Militärbüro zu holen. Diesmal gelang uns die Unter- {972} redung u. mehr als das, die Ergebnisse waren derart, daß sie uns befriedigen konnten. Der Inhaber des Büros zeigte sich gewandt u. orientiert u. gab mir schließlich den Rat, mir im Gemeindeamt eine Bescheinigung zu holen, wornach ich erst zur Nachmusterung wieder in Wien zu erscheinen hätte. Er versicherte, dies sei üblich u. habe weiter nichts auf sich. Nun hatten wir endlich die Möglichkeit, den Sommer ungestört zu verbringen u. gerne stiegen wir in einen Einspänner, der uns aufs Gemeindeamt brachte. Aber alsogleich zerrann wieder unser Traum: Die Angabe des Büroinhabers erwies sich als falsch, da wider eine Musterungs-Anordnung solche legere Mittel absolut unzulässig sind u. nur eben viel stärkere Gründe im Spiel sein müssen, wenn der Stellungspflichtige das Recht auf eine Nachmusterung erwerben wollte. Doch konnte uns dies alles nichts mehr anhaben, da wir immerhin am Abend abzureisen in der Lage waren. – Während Lie-Liechen Nnachmittags packte oder mindestens die letzten Zurüstungen traf, besorgte ich die Billetts u. genau um 6h abends stiegen wir in den Wagen ein. Auf dem Westbahnhofe nahmen wir das Abendessen ein u. dann stiegen wir glücklich ins Coupé, wo wir des geringen Verkehrs halber günstige Ecksitze erreichen konnten. Wir sahen sogar die Möglichkeit, nachts auf den Bänken schlafen zu können.

Kaum waren wir außerhalb des Wiener Rayons, erschien ein Beamter, der sich nach unseren Legitimationen erkundigte. Also doch! So hatte der Regierungsrat Unrecht, der mir versicherte, daß ich keiner bedürfe. Da ich indessen in der Lage war, die Identität meiner Person durch viele andere Dokumente nachweisen zu können, hatten wir weiter keine Schwierigkeiten. Anerkennenswert war das liebenswürdige Verhalten des Beamten gegenüber Lie-Liechen, wie er den überhaupt die Legitimationsanweisung, die ich zu mir gesteckt, für voll gelten ließ, vielleicht eben darum, weil sie gegenüber all’ den übrigen Dokumenten schließlich überflüssig war. Nun fuhren wir unbehelligt weiter. Zu unserem Leidwesen passierte wir ja die uns so liebe Gegend leider bei völliger Dunkelheit, so daß es uns {973} versagt blieb, aus dem ersten Ansturm der neuen Eindrücke jenen Anstoß des [illeg]Enthusiasmus zu schöpfen, der all die Jahre her unsere Reise nach Tirol sonst immer durchwirkte. – Frühmorgens trafen wir in Innsbruck ein, wo wir sehr viele Soldaten fanden. Nach kurzem Aufenthalt gieng es weiter. Vor Imst harrte unser noch eine weitere Ueberraschung: Wieder erschien ein Beamter, der uns nach unserer Legitimation frug u., anders als der erste, schien er fürs Erste sich mit den Dokumenten überhaupt nicht zufrieden geben zu wollen. Keinesfalls ließ er die Legitimationsanweisung gelten, die er vielmehr zu sich steckte, fand sich aber schließlich in die Situation u. gab uns nur die Belehrung, daß wir bei solchen Reisen uns allemal eines von der Polizei-Direktion ausgestellten „Passes“ versichern möchten. Dieser Beamte schien strenger, aber die übliche Borniertheit hatte auch er tief im Gehirn sitzen, denn er kam darüber nicht hinweg, uns immer wieder anzuraten, einfach einen Pass „nach Deutschland“ oder der Schweiz zu verlangen u. s. f. – keinesfalls schien er begreifen zu können, daß ich kaum einen Pass nach Deutschland fordern würde, wenn ich keinen solchen brauche, wie eben in unserem Falle, da wir ja im Inland verbleiben wollen. Der Beamte gefiel sich sehr in seiner Strenge, u. da wir seiner Eitelkeit schmeichelten, hatten wir auch ihn bald los.

Bei Flirsch durchbrach die Sonne zum erstenmal die Wolken; es war, als hätte sie uns den ersten Gruß bis zu diesem Augenblicke aufgespart, um uns gewissermaßen zu sagen, sie sei in Tirol eine andere als in Wien u. wieder diejenige, die wir in Tirol so sehr lieben u. verehren. – Auf der Reise fiel uns die große Menge Heu auf, die wir von Herzen der armen Bevölkerung gönnten.

Im Hotel werden wir herzlich empfangen, so daß ich vermuten darf, daß selbst die im Meldezettel einbekannte Wahrheit keinerlei unangenehme Rückwirkung hatte. Schuler weist uns zwei prachtvolle Zimmer an, worin wir viel Licht u. Luft haben, so daß unserer Arbeit die bestmögliche Beflügelung gegeben ist. Walte nur Gott, {974} daß mindestens nicht so bald eine Störung eintrete u. uns auch nur vorübergehend aus dem Paradiese jage. – Die Kost ist sowohl vortrefflich als überraschend reichlich, u. gilt der vom Hotelier geforderte Preis von 9 Kronen täglich mit auch für die Zimmer, so hätten wir alle Ursache, dem Schicksal für all die Güte zu danken. Lie-Liechen macht sich sofort ans aAuspacken, so daß wir am ersten Tage gleich im Genusse sämtlicher Voraussetzungen freier Bewegung sind. – Aus einem zufälligen Gespräch, das wir abends mit Schuler führten, entnehmen wir, daß die Behörden auch ihm viel Anlass zu begründeten Klagen gaben.

*

© Transcription Marko Deisinger.

July 1, 1915.

Early in the morning, in order to be the first in line, we go to the police headquarters on account of the [travel] permits. At the entrance, however, two guards inform us that we first need to collect a further legitimation from the police station in district III, which will then become the basis of the actual permit which is to completed by the police authorities. Thus even on this occasion we have once again acquainted ourselves with the disastrous High German of our officials who, in their regulations, do not indicate a single word about all the steps that have to be taken. Admittedly, there is nothing left for us to do than {970} to follow the special instructions of the lower authorities, which change from one moment to the next. – After first trying to acquire information at the military bureau, unfortunately to no avail, we went back to the police station in district III. There we were shown to door No. 5. Unfortunately we were no longer the first people, and we had to prepare ourselves for an agonizing wait. The crowd continued to swell in the small, narrow waiting room; officials and servants were going hither and thither – perhaps precisely this was their only occupation – but refused to give the parties concerned any information. Things became more unseemly and rowdy when, suddenly, an official escorted a gentleman, who looked well-off, and two ladies into room No. 5, to the detriment of everyone who had been waiting. We could not understand at all why it took such a very long time to deal with the individual cases. And already we were able to conclude that if things continued in that way, all of the parties concerned could surely not all be processed. Nonetheless, no further help was forthcoming for a long time, and the second official expected by the parties concerned did not appear on the scene. Then suddenly – we had already been waiting three quarters of an hour – a lower-ranking man called out in the waiting room: everyone who wanted to travel to Styria, Carinthia, and so on should follow him. Now the parties divided up and we too followed that official, who had evidently been called upon to give assistance. But here things went helter-skelter; the order that had been tacitly observed in the previous waiting room suddenly seemed to be relaxed, and the parties grouped themselves around the table as they wished, so that whoever screamed loudest received his travel permit first. When Lie-Liechen attempted to make the official aware of the disorder that had broken out, he replied to her irritably that it wasn't his business; he was only volunteering his assistance and would not take any nonsense from the parties. —

{971} Finally, however, it was our turn; and now we could understand, from our own perception, why the processing took such a long time. A thoroughly laborious recording of various attributes, together with the production of all sorts of permits, made the business tiresome even from a purely mechanical point of view. But lo!, when he was in the midst of issuing the certificate, the official noted that we did not indeed any travel permit at all, as we did not want to travel into a war zone but rather to a freely accessible area. – We were now to take this certificate once more to the door of office no. 5 and, on receiving confirmation there, proceed to the councilor (as head of the police station). However, I shortened the path and, by making use of the official's remark to the effect that we did not need any travel permit, instead went directly to the councilor and question him. He confirmed now that we needed no special certificates at all, so that all the trips we had made from the Western Railway Station to the police headquarters and from there to the police station were entirely unnecessary. The principal cause, however, of all these contradictions that came to light in the information provided by the authorities was the lack of precision even in the so-called regulations of the higher authorities. Already the regulation, in striving for High German, is in itself unclear; if this additionally results in ambiguous interpretations by the subordinate authorities, then one receives the confused picture of the most contradictory instructions and demands, to which we too have now fallen victim. In any event, we could thank the Fates for being spared having to wait two more days in Vienna (for, according to the information of the guard, the final preparation of such travel permits would have taken two days); and, with cheerful hearts, we returned to district I in order to get information at the military bureau before lunchtime. This time we succeeded in getting an interview; {972} and, more than that, the results were of a sort that could satisfy us. The official at the bureau proved knowledgeable and understanding, and in the event advised me to obtain from the district town hall a notification saying when I would be expected to appear in Vienna for the next army physical examination. He assured me that this was standard practice and no cause for concern. Now it was finally possible for us to pass the summer undisturbed; and we gladly boarded a one-horse carriage that took us to the town hall. But immediately our dream fell apart: the bureau official's instructions proved false: when confronted by a directive to take the physical examination, such easy measures are absolutely inadmissible, and much stronger reasons need to be produced if someone liable to enlistment is to be given the right to have the examination delayed. But we could no longer take any action over all this, as we were in any event ready to depart that evening. – While Lie-Liechen packed, or at least obtained the final provisions, I acquired the train tickets. And precisely at 6 o'clock in the evening, we got into the coach. We had supper at the Western Railway Station, and then we finally boarded the train carriage; as it was, fortunately, a quiet time for traveling, we were able to find good corner seats. We even saw the possibility of being able to sleep at night on the benches.

Hardly had we left the district of Vienna than an officer appeared, asking us for our permits. So we needed them after all! Thus the government official was mistaken when he assured me that I did not need one. But as I was able to prove my identity by many other documents, we had no further difficulties. The officer's courteous behavior towards Lie-Liechen was noticeable: the way he fully accepted the travel certificate that I had with me, perhaps for the very reason that it was unnecessary in the light of all the other documents. Now we travelled on undisturbed. To our regret, we passed through the countryside we loved so much in complete darkness, so that we {973} were prevented from conjuring that impulse of enthusiasm from the first rush of new impressions, which had otherwise always affected our trip to the Tyrol in all the years gone by. – In the early morning we arrived in Innsbruck, where we found a great number of soldiers. After a short stop, we moved on. Still another surprise awaited us before Imst: another officer appeared, asking us about our permit; and, unlike the first, he seemed at first to show that he was entirely unhappy with the documentation. On no account would he accept the validity of the travel certificate, which he instead pocketed; but in the end he reconciled himself to the situation and only cautioned us against making such trips without always obtaining a "visa" from the police authority. This officer seemed stricter, but the usual narrow-mindedness was also deeply ingrained in him; for he could not refrain from reminding us over and over simply to request a visa "for Germany" or Switzerland, and so on. In no way could he understand that I would not require a visa for Germany if I did not need one – which was precisely the case here, since we wanted to remain in our home country. The officer took great pleasure in his strictness; and as we pandered to his vanity, we were also soon free of him.

In Flirsch the sun broke through the clouds for the first time; it was as if it had spared us its first greeting until this moment, in order to say to us in a certain way that it was a different sun in the Tyrol to the one in Vienna, and again the one which we so greatly loved and honored in the Tyrol. – On the trip, we were struck by the great quantity of hay, for which we were sincerely glad on behalf of the peasant population.

In the hotel we are greeted cordially, so that I may assume that the truth [about our relationship] acknowledged in our registration card had no adverse consequences at all. Schuler shows us two magnificent rooms, where we have much light and air, so that the best possible inspiration will be given to our work. Would to God {974} that at least no disruption would soon occur, and drive us even only temporarily from this paradise. – The provisions are both excellent and surprisingly abundant; and since the price asked by the hotelier is 9 Kronen per day, including the rooms, we had every reason to thank Fate for all this goodness. Lie-Liechen begins immediately to unpack, so that on the first day we could enjoy all the prerequisites of free movement. – From a casual conversation that we had with Schuler in the evening, we learn that the authorities gave him, too, much cause for justified complaints.

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© Translation William Drabkin.

1. Juli 1915

Früh morgens, um als die ersten am Platze zu sein, fahren wir zur Polizei-Direktion wegen der Legitimationen. Beim Eingang aber bedeuten uns zwei Wachleute, daß wir zuvor noch eine Legitimation des Polizei-Kommissariats des III. Bezirks zu holen haben, die dann erst die Grundlage für die eigentliche, von der Polizei-Direktion auszufertigende Legitimation bilde. So haben wir auch bei dieser Gelegenheit wieder einmal das fatale Hochdeutsch unserer Behörden kennen gelernt, die in ihren Verordnungen kein Sterbenswörtchen von all’ den zu machenden Wegen verlauten ließen. Freilich bleibt uns nichts übrig, als den von {970} Augenblick zu Augenblick wechselnden Spezialanweisungen der niederen Organe zu folgen. – Nachdem wir einen leider vergeblichen Versuch, im Militärbüro eine Auskunft zu holen, eingeschaltet hatten, fuhren wir zurück in den III. Bezirk ins Polizei-Kommissariat. Dort wurden wir zur Tür 5 gewiesen. Leider waren wir nicht mehr die ersten u. mußten uns auf ein qualvolles Warten gefasst machen. Immer mehr schwoll die Menge im kleinen engen Warteraum an; Beamte u. Diener gingen her u. hin – vielleicht war gerade dieses ihre einzige Beschäftigung – verweigerten aber den Parteien jedwede Auskunft. Desto ungehöriger u. übermütiger wirkte es, als plötzlich ein ein [sic] Beamter einen dem äußern Anschein nach wohlsituierten Herrn mit zwei Damen an allen Parteien vorüber ins betreffende Zimmer N.o 5 zum Schaden aller wartenden hineinbegleitete. Unerklärlich war uns vollends, weshalb die Erledigung der einzelnen Parteien gar so lange Zeit in Anspruch nahm. Und schon konnten wir den Schluss ziehen, daß, wenn es so fortginge, wohl kaum alle Parteien ihre Abfertigung erhalten könnten. Indessen regte sich lange noch keine Hilfe u. der von den Parteien erwartete zweite Beamte erschien noch lange nicht am Horizont. Da plötzlich – wir warteten schon ¾ Stunden – rief ein untersetzter Mann in den Warteraum hinein, es möchten alle, die nach Steiermark, Kärnten u. s. w. reisen wollen, ihm folgen. Nun teilten sich die Parteien u. auch wir folgten jenem Beamten, der offenbar zur Aushilfe bestimmt war. Hier ging es aber drüber u. drunter; die Ordnung, die im früheren Warteraum stillschweigend beobachtet worden war, schien plötzlich gelockert u. um den Tisch herum gruppierten sich die Parteien ganz nach Belieben, so daß, wer am lautesten schrie, zuerst seine Legitimation erhielt. Als Lie-Liechen den Versuch machte, den Beamten auf die eingerissene Unordnung aufmerksam zu machen, erwiderte dieser gereizt, das gehe ihn nichts an, er helfe nur freiwillig u. werde sich von den Parteien nichts bieten lassen. —

{971} Endlich aber kamen doch auch wir dran u. nun konnten wir aus eigener Wahrnehmung begreifen, weshalb die Erledigung so lange Zeit beanspruchte. Eine ganz umständliche Aufnahme verschiedener Merkmale nebst Vorweisung von allerhand Legitimationen machte schon rein mechanisch den A ckt langwierig. Aber siehe, mitten in der Ausstellung der Anweisung bemerkte der Beamte, daß wir ja im Grunde ja überhaupt keiner Legitimation bedürfen, da wir ja nicht ins ein Kriegsgebiet[,] sondern in ein der Verordnung nach völlig freigegebenes Gebiet reisen wollen. – Mit der Anweisung nun [illeg]sollten wir noch einmal ins Büro Tür N.o 5 u. mit einer dort empfangenen Bestätigung zum Regierungsrat (als Leiter des Kommissariates). Indessen kürzte ich den Weg ab, u. indem ich mir die Bemerkung des Beamten zunutze machte, daß wir keiner Legitimation bedürfen, zog ich vor, direkt zum Regierungsrat zu gehen u. ihn anzufragen. Dieser bestätigte nun, daß wir keinerlei speziellen Anweisung bedürfen, so daß wir ganz überflüssig all’ die Wege vom Westbahnhof zur Polizei-Direktion, von dort zum Kommissariat gemacht haben. Die Hauptursache aber all’ dieser in den Auskunft der Behörden zutagetretenden [sic] Gegensätze ist die mangelnde Bestimmtheit schon in den sogenannten Bestimmungen der oberen Behörden. Schon die Verordnung ist aus dem Streben nach Hochdeutsch in sich unklar; kommen dazu dadurch veranlaßte mißverständliche Auffassungen der untergeordneten Organe, so erhält man das tolle Bild von widersprechendsten Angaben u. Forderungen, denen nun auch wir zum Opfer gefallen sind. Jedenfalls waren wir dem Schicksal dafür dankbar, daß es uns erspart blieb, noch weitere zwei Tage in Wien warten zu müssen (denn nach der Auskunft des Wachmannes würde die endgiltige Ausfertigung einer solchen Reiselegitimation gewöhnlich zwei Tage gedauert haben) u. frohen Herzens kehrten wir in den I. Bezirk zurück, um uns noch vor Tisch Auskunft im Militärbüro zu holen. Diesmal gelang uns die Unter- {972} redung u. mehr als das, die Ergebnisse waren derart, daß sie uns befriedigen konnten. Der Inhaber des Büros zeigte sich gewandt u. orientiert u. gab mir schließlich den Rat, mir im Gemeindeamt eine Bescheinigung zu holen, wornach ich erst zur Nachmusterung wieder in Wien zu erscheinen hätte. Er versicherte, dies sei üblich u. habe weiter nichts auf sich. Nun hatten wir endlich die Möglichkeit, den Sommer ungestört zu verbringen u. gerne stiegen wir in einen Einspänner, der uns aufs Gemeindeamt brachte. Aber alsogleich zerrann wieder unser Traum: Die Angabe des Büroinhabers erwies sich als falsch, da wider eine Musterungs-Anordnung solche legere Mittel absolut unzulässig sind u. nur eben viel stärkere Gründe im Spiel sein müssen, wenn der Stellungspflichtige das Recht auf eine Nachmusterung erwerben wollte. Doch konnte uns dies alles nichts mehr anhaben, da wir immerhin am Abend abzureisen in der Lage waren. – Während Lie-Liechen Nnachmittags packte oder mindestens die letzten Zurüstungen traf, besorgte ich die Billetts u. genau um 6h abends stiegen wir in den Wagen ein. Auf dem Westbahnhofe nahmen wir das Abendessen ein u. dann stiegen wir glücklich ins Coupé, wo wir des geringen Verkehrs halber günstige Ecksitze erreichen konnten. Wir sahen sogar die Möglichkeit, nachts auf den Bänken schlafen zu können.

Kaum waren wir außerhalb des Wiener Rayons, erschien ein Beamter, der sich nach unseren Legitimationen erkundigte. Also doch! So hatte der Regierungsrat Unrecht, der mir versicherte, daß ich keiner bedürfe. Da ich indessen in der Lage war, die Identität meiner Person durch viele andere Dokumente nachweisen zu können, hatten wir weiter keine Schwierigkeiten. Anerkennenswert war das liebenswürdige Verhalten des Beamten gegenüber Lie-Liechen, wie er den überhaupt die Legitimationsanweisung, die ich zu mir gesteckt, für voll gelten ließ, vielleicht eben darum, weil sie gegenüber all’ den übrigen Dokumenten schließlich überflüssig war. Nun fuhren wir unbehelligt weiter. Zu unserem Leidwesen passierte wir ja die uns so liebe Gegend leider bei völliger Dunkelheit, so daß es uns {973} versagt blieb, aus dem ersten Ansturm der neuen Eindrücke jenen Anstoß des [illeg]Enthusiasmus zu schöpfen, der all die Jahre her unsere Reise nach Tirol sonst immer durchwirkte. – Frühmorgens trafen wir in Innsbruck ein, wo wir sehr viele Soldaten fanden. Nach kurzem Aufenthalt gieng es weiter. Vor Imst harrte unser noch eine weitere Ueberraschung: Wieder erschien ein Beamter, der uns nach unserer Legitimation frug u., anders als der erste, schien er fürs Erste sich mit den Dokumenten überhaupt nicht zufrieden geben zu wollen. Keinesfalls ließ er die Legitimationsanweisung gelten, die er vielmehr zu sich steckte, fand sich aber schließlich in die Situation u. gab uns nur die Belehrung, daß wir bei solchen Reisen uns allemal eines von der Polizei-Direktion ausgestellten „Passes“ versichern möchten. Dieser Beamte schien strenger, aber die übliche Borniertheit hatte auch er tief im Gehirn sitzen, denn er kam darüber nicht hinweg, uns immer wieder anzuraten, einfach einen Pass „nach Deutschland“ oder der Schweiz zu verlangen u. s. f. – keinesfalls schien er begreifen zu können, daß ich kaum einen Pass nach Deutschland fordern würde, wenn ich keinen solchen brauche, wie eben in unserem Falle, da wir ja im Inland verbleiben wollen. Der Beamte gefiel sich sehr in seiner Strenge, u. da wir seiner Eitelkeit schmeichelten, hatten wir auch ihn bald los.

Bei Flirsch durchbrach die Sonne zum erstenmal die Wolken; es war, als hätte sie uns den ersten Gruß bis zu diesem Augenblicke aufgespart, um uns gewissermaßen zu sagen, sie sei in Tirol eine andere als in Wien u. wieder diejenige, die wir in Tirol so sehr lieben u. verehren. – Auf der Reise fiel uns die große Menge Heu auf, die wir von Herzen der armen Bevölkerung gönnten.

Im Hotel werden wir herzlich empfangen, so daß ich vermuten darf, daß selbst die im Meldezettel einbekannte Wahrheit keinerlei unangenehme Rückwirkung hatte. Schuler weist uns zwei prachtvolle Zimmer an, worin wir viel Licht u. Luft haben, so daß unserer Arbeit die bestmögliche Beflügelung gegeben ist. Walte nur Gott, {974} daß mindestens nicht so bald eine Störung eintrete u. uns auch nur vorübergehend aus dem Paradiese jage. – Die Kost ist sowohl vortrefflich als überraschend reichlich, u. gilt der vom Hotelier geforderte Preis von 9 Kronen täglich mit auch für die Zimmer, so hätten wir alle Ursache, dem Schicksal für all die Güte zu danken. Lie-Liechen macht sich sofort ans aAuspacken, so daß wir am ersten Tage gleich im Genusse sämtlicher Voraussetzungen freier Bewegung sind. – Aus einem zufälligen Gespräch, das wir abends mit Schuler führten, entnehmen wir, daß die Behörden auch ihm viel Anlass zu begründeten Klagen gaben.

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© Transcription Marko Deisinger.

July 1, 1915.

Early in the morning, in order to be the first in line, we go to the police headquarters on account of the [travel] permits. At the entrance, however, two guards inform us that we first need to collect a further legitimation from the police station in district III, which will then become the basis of the actual permit which is to completed by the police authorities. Thus even on this occasion we have once again acquainted ourselves with the disastrous High German of our officials who, in their regulations, do not indicate a single word about all the steps that have to be taken. Admittedly, there is nothing left for us to do than {970} to follow the special instructions of the lower authorities, which change from one moment to the next. – After first trying to acquire information at the military bureau, unfortunately to no avail, we went back to the police station in district III. There we were shown to door No. 5. Unfortunately we were no longer the first people, and we had to prepare ourselves for an agonizing wait. The crowd continued to swell in the small, narrow waiting room; officials and servants were going hither and thither – perhaps precisely this was their only occupation – but refused to give the parties concerned any information. Things became more unseemly and rowdy when, suddenly, an official escorted a gentleman, who looked well-off, and two ladies into room No. 5, to the detriment of everyone who had been waiting. We could not understand at all why it took such a very long time to deal with the individual cases. And already we were able to conclude that if things continued in that way, all of the parties concerned could surely not all be processed. Nonetheless, no further help was forthcoming for a long time, and the second official expected by the parties concerned did not appear on the scene. Then suddenly – we had already been waiting three quarters of an hour – a lower-ranking man called out in the waiting room: everyone who wanted to travel to Styria, Carinthia, and so on should follow him. Now the parties divided up and we too followed that official, who had evidently been called upon to give assistance. But here things went helter-skelter; the order that had been tacitly observed in the previous waiting room suddenly seemed to be relaxed, and the parties grouped themselves around the table as they wished, so that whoever screamed loudest received his travel permit first. When Lie-Liechen attempted to make the official aware of the disorder that had broken out, he replied to her irritably that it wasn't his business; he was only volunteering his assistance and would not take any nonsense from the parties. —

{971} Finally, however, it was our turn; and now we could understand, from our own perception, why the processing took such a long time. A thoroughly laborious recording of various attributes, together with the production of all sorts of permits, made the business tiresome even from a purely mechanical point of view. But lo!, when he was in the midst of issuing the certificate, the official noted that we did not indeed any travel permit at all, as we did not want to travel into a war zone but rather to a freely accessible area. – We were now to take this certificate once more to the door of office no. 5 and, on receiving confirmation there, proceed to the councilor (as head of the police station). However, I shortened the path and, by making use of the official's remark to the effect that we did not need any travel permit, instead went directly to the councilor and question him. He confirmed now that we needed no special certificates at all, so that all the trips we had made from the Western Railway Station to the police headquarters and from there to the police station were entirely unnecessary. The principal cause, however, of all these contradictions that came to light in the information provided by the authorities was the lack of precision even in the so-called regulations of the higher authorities. Already the regulation, in striving for High German, is in itself unclear; if this additionally results in ambiguous interpretations by the subordinate authorities, then one receives the confused picture of the most contradictory instructions and demands, to which we too have now fallen victim. In any event, we could thank the Fates for being spared having to wait two more days in Vienna (for, according to the information of the guard, the final preparation of such travel permits would have taken two days); and, with cheerful hearts, we returned to district I in order to get information at the military bureau before lunchtime. This time we succeeded in getting an interview; {972} and, more than that, the results were of a sort that could satisfy us. The official at the bureau proved knowledgeable and understanding, and in the event advised me to obtain from the district town hall a notification saying when I would be expected to appear in Vienna for the next army physical examination. He assured me that this was standard practice and no cause for concern. Now it was finally possible for us to pass the summer undisturbed; and we gladly boarded a one-horse carriage that took us to the town hall. But immediately our dream fell apart: the bureau official's instructions proved false: when confronted by a directive to take the physical examination, such easy measures are absolutely inadmissible, and much stronger reasons need to be produced if someone liable to enlistment is to be given the right to have the examination delayed. But we could no longer take any action over all this, as we were in any event ready to depart that evening. – While Lie-Liechen packed, or at least obtained the final provisions, I acquired the train tickets. And precisely at 6 o'clock in the evening, we got into the coach. We had supper at the Western Railway Station, and then we finally boarded the train carriage; as it was, fortunately, a quiet time for traveling, we were able to find good corner seats. We even saw the possibility of being able to sleep at night on the benches.

Hardly had we left the district of Vienna than an officer appeared, asking us for our permits. So we needed them after all! Thus the government official was mistaken when he assured me that I did not need one. But as I was able to prove my identity by many other documents, we had no further difficulties. The officer's courteous behavior towards Lie-Liechen was noticeable: the way he fully accepted the travel certificate that I had with me, perhaps for the very reason that it was unnecessary in the light of all the other documents. Now we travelled on undisturbed. To our regret, we passed through the countryside we loved so much in complete darkness, so that we {973} were prevented from conjuring that impulse of enthusiasm from the first rush of new impressions, which had otherwise always affected our trip to the Tyrol in all the years gone by. – In the early morning we arrived in Innsbruck, where we found a great number of soldiers. After a short stop, we moved on. Still another surprise awaited us before Imst: another officer appeared, asking us about our permit; and, unlike the first, he seemed at first to show that he was entirely unhappy with the documentation. On no account would he accept the validity of the travel certificate, which he instead pocketed; but in the end he reconciled himself to the situation and only cautioned us against making such trips without always obtaining a "visa" from the police authority. This officer seemed stricter, but the usual narrow-mindedness was also deeply ingrained in him; for he could not refrain from reminding us over and over simply to request a visa "for Germany" or Switzerland, and so on. In no way could he understand that I would not require a visa for Germany if I did not need one – which was precisely the case here, since we wanted to remain in our home country. The officer took great pleasure in his strictness; and as we pandered to his vanity, we were also soon free of him.

In Flirsch the sun broke through the clouds for the first time; it was as if it had spared us its first greeting until this moment, in order to say to us in a certain way that it was a different sun in the Tyrol to the one in Vienna, and again the one which we so greatly loved and honored in the Tyrol. – On the trip, we were struck by the great quantity of hay, for which we were sincerely glad on behalf of the peasant population.

In the hotel we are greeted cordially, so that I may assume that the truth [about our relationship] acknowledged in our registration card had no adverse consequences at all. Schuler shows us two magnificent rooms, where we have much light and air, so that the best possible inspiration will be given to our work. Would to God {974} that at least no disruption would soon occur, and drive us even only temporarily from this paradise. – The provisions are both excellent and surprisingly abundant; and since the price asked by the hotelier is 9 Kronen per day, including the rooms, we had every reason to thank Fate for all this goodness. Lie-Liechen begins immediately to unpack, so that on the first day we could enjoy all the prerequisites of free movement. – From a casual conversation that we had with Schuler in the evening, we learn that the authorities gave him, too, much cause for justified complaints.

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© Translation William Drabkin.