15. VII. 15
Bei wolkenlosen Himmel nach St. Jakob (oberen Weg), dann bis Pettneu, 4½ Stunden. Dazwischen Lektüre des Homer eingestreut. — Auf dem Wege finden wir eine alleinstehende vollkommene Distel, sowie eine ebenfalls alleinstehende Lilie. Der Zauber der Vollkommenheit dieser Naturgeschöpfe ergreift uns u. wir lassen die Ergriffenheit walten, ohne vor der Natur etwaige Gesichtspunkte der Kunst in den Vordergrund zu schieben. Gewiss, wollte ein Maler dieser Gegenstände der Natur für Kunstzwecke habhaft werden, dann müßte er den eigenen Forderungen der Kunst gemäß alles dazu tun, um die Isolierung durchzuführen, {985} schon aus dem Grunde, weil er außerstande wäre, den wahren Sachverhalt eines alleinstehenden Prachtexemplares auszudrücken. Wie könnte er denn eine so große Wiese aufrollen, nur um und zu zeigen wollen, daß die schöne Blume in ihrer Vollkommenheit hier sozusagen nur Zufall gewesen, u. wozu sollte er es denn auch tun wollen, wenn sein eigenes Geschäft gar nicht mit dem der Natur, die solche Zufälle hervorzubring ent, parallel läuft. Was im Fluss der Dinge allenfalls wie durch einen Plan bestimmt wird, kann in der Kunst, die den Fluß überhaupt nicht darzustellen vermag, ebensowenig wie der dazu gehörende Zufall dargestell ent werden. Goethe befindet sich daher im Irrtum, wenn er in den „Sprüchen in Prosa“ Kunst (No. 752) meint: „Es steht manches Schöne isoliert in der Welt; doch der Geist ist es, der Verknüpfungen zu entdecken und dadurch Kunstwerke hervorzubringen hat. – Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch das Insekt, das ihr anhängt, durch den Thautropfen, der sie befeuchtet, durch das Gefäß, woraus sie allenfalls ihre letzte Nahrung zieht. Kein Busch, kein Baum, dem man nicht durch die Nachbarschaft eines Felsens, einer Quelle Bedeutung geben, durch eine mäßige, einfache Ferne größern [sic] Reiz verleihen könnte. So ist es mit menschlichen Figuren und so mit Thieren aller Art beschaffen.“ 1 *Die Technik menschlichen Auges u. Sehens erklärt uns, weshalb wir auch auf geistigem Gebiete eine Einheit des Gesichtspunktes anstreben: Ggewissermaßen vereinigen sich auch auch auf einer geistigen Netzhaut geistige Linien in einem focus. Dieses Daher ist der menschliche Drang zur Synthese, gleichsam eine organisches Bedürfnis Funktion, wie die Funktion des Sehens. *Antwort von Rothberger u. Floriz. — Gegen Abend Regen. — Im Hotel taucht ein Braunschweiger Professor auf, der zu unserem Erstaunen auch einige Orientierung in musikalischen Dingen zeigt. Freilich, was er da aus dem Musikleben in Braunschweig erzählt, macht weder dieses noch den Erzähler interessant. Der bescheidene Horizont des Professors {986} gestattet mir nicht, schärfer herauszutreten, u. ich lasse es daher nur bei einigen Andeutungen über meine Tätigkeit bewenden. *
© Transcription Marko Deisinger. |
July 15, 1915.
Under a cloudless sky, to St. Jakob (upper path), then as far as Pettneu, 4½ hours. In between, reading of Homer interspersed. — Along the way we find a single, fully grown thistle, likewise a single lily. The magic of the perfection of these creatures of Nature moves us, and we let the emotion take its course, without letting any possible points of view about art to push into the foreground to obscure Nature. For sure, if a painter wished to take possession of these things of Nature for artistic purposes, then he would have to do everything necessary with respect to the special requirements of art itself in order to get at the heart [of its artistic qualities], {985} for the very reason that he is not in a position to express the true facts of an splendid example in isolation. How could he, then, unfurl such a great meadow and want to show that the beautiful blower was, in its perfection, only a chance occurrence? And why should he do it anyway, when his own occupation does not run in parallel with Nature, which throws up such chance occurrences? That which, in the course of events, is at best determined by a plan can just as little be represented in art, which is utterly incapable of portraying that course. Goethe is thus mistaken when, in his Maxims and Reflections (No. 752), he says: "There is much in the world that is beautiful in isolation: but it is the intellect whose purpose it is to discover the connections and thus produce works of art. – The flower gains its attractiveness only from the insect that clings to it, from the dewdrops that moisten it, by the vessel from which at best it gains its last nourishment. There is no bush, no tree to which one is unable to give meaning from the vicinity of a rock or stream, or to confer greater charm from a modest, simply distance. This applies to human figures, and to animals of every kind." 1 *The technique of the human eye, and of seeing, explains to us why we strive for a unified point of view even in intellectual fields: to a certain extent, intellectual lines combine in a focus on an intellectual retina. For this reason humans strive for synthesis almost as an organic function, like the function of sight. *Replies from Rothberger and Floriz. — Towards evening, rain. — In the hotel, a professor from Braunschweig appears who, to our astonishment, shows some orientation in musical matters. Admittedly, what he says about musical life in Braunschweig makes neither it, nor him, interesting. The professor's limited horizon {986} prevents me from venturing more critically, and so I leave the matter with just a few remarks about my occupation. *
© Translation William Drabkin. |
15. VII. 15
Bei wolkenlosen Himmel nach St. Jakob (oberen Weg), dann bis Pettneu, 4½ Stunden. Dazwischen Lektüre des Homer eingestreut. — Auf dem Wege finden wir eine alleinstehende vollkommene Distel, sowie eine ebenfalls alleinstehende Lilie. Der Zauber der Vollkommenheit dieser Naturgeschöpfe ergreift uns u. wir lassen die Ergriffenheit walten, ohne vor der Natur etwaige Gesichtspunkte der Kunst in den Vordergrund zu schieben. Gewiss, wollte ein Maler dieser Gegenstände der Natur für Kunstzwecke habhaft werden, dann müßte er den eigenen Forderungen der Kunst gemäß alles dazu tun, um die Isolierung durchzuführen, {985} schon aus dem Grunde, weil er außerstande wäre, den wahren Sachverhalt eines alleinstehenden Prachtexemplares auszudrücken. Wie könnte er denn eine so große Wiese aufrollen, nur um und zu zeigen wollen, daß die schöne Blume in ihrer Vollkommenheit hier sozusagen nur Zufall gewesen, u. wozu sollte er es denn auch tun wollen, wenn sein eigenes Geschäft gar nicht mit dem der Natur, die solche Zufälle hervorzubring ent, parallel läuft. Was im Fluss der Dinge allenfalls wie durch einen Plan bestimmt wird, kann in der Kunst, die den Fluß überhaupt nicht darzustellen vermag, ebensowenig wie der dazu gehörende Zufall dargestell ent werden. Goethe befindet sich daher im Irrtum, wenn er in den „Sprüchen in Prosa“ Kunst (No. 752) meint: „Es steht manches Schöne isoliert in der Welt; doch der Geist ist es, der Verknüpfungen zu entdecken und dadurch Kunstwerke hervorzubringen hat. – Die Blume gewinnt erst ihren Reiz durch das Insekt, das ihr anhängt, durch den Thautropfen, der sie befeuchtet, durch das Gefäß, woraus sie allenfalls ihre letzte Nahrung zieht. Kein Busch, kein Baum, dem man nicht durch die Nachbarschaft eines Felsens, einer Quelle Bedeutung geben, durch eine mäßige, einfache Ferne größern [sic] Reiz verleihen könnte. So ist es mit menschlichen Figuren und so mit Thieren aller Art beschaffen.“ 1 *Die Technik menschlichen Auges u. Sehens erklärt uns, weshalb wir auch auf geistigem Gebiete eine Einheit des Gesichtspunktes anstreben: Ggewissermaßen vereinigen sich auch auch auf einer geistigen Netzhaut geistige Linien in einem focus. Dieses Daher ist der menschliche Drang zur Synthese, gleichsam eine organisches Bedürfnis Funktion, wie die Funktion des Sehens. *Antwort von Rothberger u. Floriz. — Gegen Abend Regen. — Im Hotel taucht ein Braunschweiger Professor auf, der zu unserem Erstaunen auch einige Orientierung in musikalischen Dingen zeigt. Freilich, was er da aus dem Musikleben in Braunschweig erzählt, macht weder dieses noch den Erzähler interessant. Der bescheidene Horizont des Professors {986} gestattet mir nicht, schärfer herauszutreten, u. ich lasse es daher nur bei einigen Andeutungen über meine Tätigkeit bewenden. *
© Transcription Marko Deisinger. |
July 15, 1915.
Under a cloudless sky, to St. Jakob (upper path), then as far as Pettneu, 4½ hours. In between, reading of Homer interspersed. — Along the way we find a single, fully grown thistle, likewise a single lily. The magic of the perfection of these creatures of Nature moves us, and we let the emotion take its course, without letting any possible points of view about art to push into the foreground to obscure Nature. For sure, if a painter wished to take possession of these things of Nature for artistic purposes, then he would have to do everything necessary with respect to the special requirements of art itself in order to get at the heart [of its artistic qualities], {985} for the very reason that he is not in a position to express the true facts of an splendid example in isolation. How could he, then, unfurl such a great meadow and want to show that the beautiful blower was, in its perfection, only a chance occurrence? And why should he do it anyway, when his own occupation does not run in parallel with Nature, which throws up such chance occurrences? That which, in the course of events, is at best determined by a plan can just as little be represented in art, which is utterly incapable of portraying that course. Goethe is thus mistaken when, in his Maxims and Reflections (No. 752), he says: "There is much in the world that is beautiful in isolation: but it is the intellect whose purpose it is to discover the connections and thus produce works of art. – The flower gains its attractiveness only from the insect that clings to it, from the dewdrops that moisten it, by the vessel from which at best it gains its last nourishment. There is no bush, no tree to which one is unable to give meaning from the vicinity of a rock or stream, or to confer greater charm from a modest, simply distance. This applies to human figures, and to animals of every kind." 1 *The technique of the human eye, and of seeing, explains to us why we strive for a unified point of view even in intellectual fields: to a certain extent, intellectual lines combine in a focus on an intellectual retina. For this reason humans strive for synthesis almost as an organic function, like the function of sight. *Replies from Rothberger and Floriz. — Towards evening, rain. — In the hotel, a professor from Braunschweig appears who, to our astonishment, shows some orientation in musical matters. Admittedly, what he says about musical life in Braunschweig makes neither it, nor him, interesting. The professor's limited horizon {986} prevents me from venturing more critically, and so I leave the matter with just a few remarks about my occupation. *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Johann Wolfgang von Goethe, Sprüche in Prosa, ed. Gustav von Loeper (= Goethe's Werke 19; Berlin: Gustav Hempel, 1870), pp. 160–161 (Kunst, Aphorismen, 6. Abteilung). |