4. XII. 15 +10° – der leibhaftige Frühling!
— Leider ist Lie-Liechen von einer Störung heimgesucht, die nicht nur sie, sondern auch mich in Schrecken versetzt. — *{54} Feldpostkarte von Zuckerkandl: vorläufig habe er Ruhe, doch wie lange noch? — — An Floriz (pn. K), daß wir nicht zu Tisch kommen[,] sondern nur den Kleinen sehen wollen. — Nachmittag 3h Generalprobe der Philharmoniker: 1 Mendelssohn: „Meeresstille u. glückliche Fahrt“; Strauss:",Alpensymphonie, " u. Mozart: Symphonie Es dur. Weingartners Reproduktionskunst ist vielleicht ein verhängnisvolleres Faktum als Strauß' Komposition; denn W. vernichtet mutwillig ein Leben, das zur Ewigkeit bestimmt ist, wogegen Strauss für sein Nichtskönnen wahrlich nichts kann. Die geistvollsten Ereignisse in den Partituren der Meister behandelt sein Taktstock etwa so, wie sein Kopf eine Zeitungsannonce lesen mag. Gewissermaßen waren die Töne eine Volksmenge, in der man nicht Persönlichkeiten unterscheidet, in der alles durcheinander schreit, redet, ohne Gliederung, ohne weiteren Sinn als bloß den chaotischen Flutens. Was gab es für Wendungen, was gab es für sozusagen Persönlichkeiten unter den Tönen – alle zermalmte ein Durchschnittsgehirn wie aus Rache dafür, daß das Schicksal auch ihn selbst zermalmt hat. Strauss ist in seiner Symphonie vollständig banal, keine Stelle, die in literarischer Art geführt wäre: ein schlechtes Zeitungsreferat über die Alpen in Tonfilmen. Die Bilder reißen ab u. erscheinen dadurch um vieles gehäufter, als sie es vielleicht sind. Sonderbarerweise mag das Sujet selbst am meisten dazu beigetragen haben, daß das Publikum nach einer gewissen Zeit in Apathie verfiel. Es hat sich Strauss, der wahrlich gut zu rechnen versteht, in seiner Pfiffigkeit diesmal verrechnet: es ist eben das Bergsteigen den meisten Menschen vertrauter als Zarathustra, Don Quixote, Till Eulenspiegel, u. so hat es das Publikum auf die Dauer gelangweilt, die vielen Bilder zu sich nehmen zu müssen, die es ohnehin so gut kennt. Es fehlte dem Publikum der Reiz des Rätselhaften, Unbekannten, so daß die Fantasie auch nicht den geringsten Spielraum hatte. Die äußerlichen Zeichen, mit denen Strauss bejubelt wurde, ändern an der Tatsache nichts, daß das Werk weit geringern [sic] Ein- {55} druck als seine übrigen machte. Geärgert verließen wir den Saal, zugleich tief betrübt über den Grad des Verfalles, zu dem die Tonkunst gesunken ist. — *Weltkrieg! Im Weltkrieg äußert sich die natürliche Ordnung der Dinge mit elementarer Wucht. Auf dem Boden 2 u. nicht auf dem Ozean wird die Entscheidung geschlagen werden. Die Macht Englands zur See ist, weil sie sich auf das Wasser bezieht, von vornherein zu einer zweiten Rolle verurteilt gegenüber einer Macht, die das Land beherrscht. Was nützt es, Herr in allen Gewässern zu sein, wenn man nicht Herr vor allem auf dem Lande ist? Niemals wird daher auch z. B. die Herrschaft über die Luft dauernd eine Vorherrschaft sichern gegenüber denjenigen, der die größte Landmacht hat. Wir kommen von der Erde u. gehören wesentlicher zu ihr , als zum Wasser u. der Luft. Daran kann keine Menschenentwicklung rütteln. (Parallelismus aus dem Leben der Töne: gegenüber dem Durchgang als der primären ist die Nebennote bloß eine sekundäre Erscheinung.) *
© Transcription Marko Deisinger. |
December 4, 1915. +10° – springtime itself!
— Unfortunately, Lie-Liechen is kept at home by an ailment, which terrifies not only her but also me. — *{54} Field postcard from Zuckerkandl: for the time being he is at peace, but for how much longer? — — To Floriz (pneumatic postcard): we are not coming to lunch, but just want to see his little boy. — At 3 o'clock in the afternoon, dress rehearsal of the Philharmonic: 1 Mendelssohn's [overture] Calm Sea and Prosperous Voyage; Strauss's Alpine Symphony, and Mozart's Symphony in E flat major. Weingartner's art of reproduction is perhaps a more calamitous fact than Strauss's composition; for Weingartner willfully destroys a life that is destined for eternity, whereas Strauss is, in truth, unable do anything about his inability to do anything. His baton treats the most spirited events in the scores of the masters rather like his head might read a newspaper advertisement. To a certain extent, the tones were like a crowd of people in which everything proceeded and spoke in a jumbled way, without connection, without broader meaning than that of a chaotic surge. Where were the twists and turns, where were the so-called personalities among the notes? – They were all crushed by a mediocre brain, as if in revenge for fate having also crushed himself. In his symphony, Strausss is completely banal: there was no passage that was guided in a literary manner: a poor newspaper review about the Alps in sound films. The images break off [quickly] and thus give the impression of being piled up closer than they probably are. Oddly enough, the subject itself may have contributed most of all to the audience's falling into a state of apathy after a certain period of time. Strauss, who in truth understands how to calculate, miscalculated this time by being too clever: it is actually with mountaineering that most people will be more familiar, rather than with Zarathustra, Don Quixote, or Till Eulenspiegel; and so the audience was in the end bored by having to take in the many images that it otherwise knew so well. The listeners were not given the charm of the enigmatic, or of the unknown, so that their imagination did not have the least room for maneuver. The outward signs for which Strauss has been acclaimed do not in any way change the fact that the work made a far weaker impression {55} than his others. We left the concert hall annoyed, and at the same time deeply saddened by the degree to which the art of music has sunk. — *World war! In the world war, the natural order of things expresses itself with elemental force. On firm ground, 2 and not upon the ocean, matters will be decided. England's naval power, being based on water, is condemned to play a secondary role compared to a land-based power. What is it to be lord of all the seas if one is not, above all, lord of the land? For this reason, too, the command of the skies will never secure a lasting superiority over the one with the greatest power on land. We come from the earth, and we belong essentially to it, rather than to the water and the air. No human development can change this. (Parallelism in the realm of music: compared to the passing note, as the primal manifestation, the neighbor note is only a secondary phenomenon.) *
© Translation William Drabkin. |
4. XII. 15 +10° – der leibhaftige Frühling!
— Leider ist Lie-Liechen von einer Störung heimgesucht, die nicht nur sie, sondern auch mich in Schrecken versetzt. — *{54} Feldpostkarte von Zuckerkandl: vorläufig habe er Ruhe, doch wie lange noch? — — An Floriz (pn. K), daß wir nicht zu Tisch kommen[,] sondern nur den Kleinen sehen wollen. — Nachmittag 3h Generalprobe der Philharmoniker: 1 Mendelssohn: „Meeresstille u. glückliche Fahrt“; Strauss:",Alpensymphonie, " u. Mozart: Symphonie Es dur. Weingartners Reproduktionskunst ist vielleicht ein verhängnisvolleres Faktum als Strauß' Komposition; denn W. vernichtet mutwillig ein Leben, das zur Ewigkeit bestimmt ist, wogegen Strauss für sein Nichtskönnen wahrlich nichts kann. Die geistvollsten Ereignisse in den Partituren der Meister behandelt sein Taktstock etwa so, wie sein Kopf eine Zeitungsannonce lesen mag. Gewissermaßen waren die Töne eine Volksmenge, in der man nicht Persönlichkeiten unterscheidet, in der alles durcheinander schreit, redet, ohne Gliederung, ohne weiteren Sinn als bloß den chaotischen Flutens. Was gab es für Wendungen, was gab es für sozusagen Persönlichkeiten unter den Tönen – alle zermalmte ein Durchschnittsgehirn wie aus Rache dafür, daß das Schicksal auch ihn selbst zermalmt hat. Strauss ist in seiner Symphonie vollständig banal, keine Stelle, die in literarischer Art geführt wäre: ein schlechtes Zeitungsreferat über die Alpen in Tonfilmen. Die Bilder reißen ab u. erscheinen dadurch um vieles gehäufter, als sie es vielleicht sind. Sonderbarerweise mag das Sujet selbst am meisten dazu beigetragen haben, daß das Publikum nach einer gewissen Zeit in Apathie verfiel. Es hat sich Strauss, der wahrlich gut zu rechnen versteht, in seiner Pfiffigkeit diesmal verrechnet: es ist eben das Bergsteigen den meisten Menschen vertrauter als Zarathustra, Don Quixote, Till Eulenspiegel, u. so hat es das Publikum auf die Dauer gelangweilt, die vielen Bilder zu sich nehmen zu müssen, die es ohnehin so gut kennt. Es fehlte dem Publikum der Reiz des Rätselhaften, Unbekannten, so daß die Fantasie auch nicht den geringsten Spielraum hatte. Die äußerlichen Zeichen, mit denen Strauss bejubelt wurde, ändern an der Tatsache nichts, daß das Werk weit geringern [sic] Ein- {55} druck als seine übrigen machte. Geärgert verließen wir den Saal, zugleich tief betrübt über den Grad des Verfalles, zu dem die Tonkunst gesunken ist. — *Weltkrieg! Im Weltkrieg äußert sich die natürliche Ordnung der Dinge mit elementarer Wucht. Auf dem Boden 2 u. nicht auf dem Ozean wird die Entscheidung geschlagen werden. Die Macht Englands zur See ist, weil sie sich auf das Wasser bezieht, von vornherein zu einer zweiten Rolle verurteilt gegenüber einer Macht, die das Land beherrscht. Was nützt es, Herr in allen Gewässern zu sein, wenn man nicht Herr vor allem auf dem Lande ist? Niemals wird daher auch z. B. die Herrschaft über die Luft dauernd eine Vorherrschaft sichern gegenüber denjenigen, der die größte Landmacht hat. Wir kommen von der Erde u. gehören wesentlicher zu ihr , als zum Wasser u. der Luft. Daran kann keine Menschenentwicklung rütteln. (Parallelismus aus dem Leben der Töne: gegenüber dem Durchgang als der primären ist die Nebennote bloß eine sekundäre Erscheinung.) *
© Transcription Marko Deisinger. |
December 4, 1915. +10° – springtime itself!
— Unfortunately, Lie-Liechen is kept at home by an ailment, which terrifies not only her but also me. — *{54} Field postcard from Zuckerkandl: for the time being he is at peace, but for how much longer? — — To Floriz (pneumatic postcard): we are not coming to lunch, but just want to see his little boy. — At 3 o'clock in the afternoon, dress rehearsal of the Philharmonic: 1 Mendelssohn's [overture] Calm Sea and Prosperous Voyage; Strauss's Alpine Symphony, and Mozart's Symphony in E flat major. Weingartner's art of reproduction is perhaps a more calamitous fact than Strauss's composition; for Weingartner willfully destroys a life that is destined for eternity, whereas Strauss is, in truth, unable do anything about his inability to do anything. His baton treats the most spirited events in the scores of the masters rather like his head might read a newspaper advertisement. To a certain extent, the tones were like a crowd of people in which everything proceeded and spoke in a jumbled way, without connection, without broader meaning than that of a chaotic surge. Where were the twists and turns, where were the so-called personalities among the notes? – They were all crushed by a mediocre brain, as if in revenge for fate having also crushed himself. In his symphony, Strausss is completely banal: there was no passage that was guided in a literary manner: a poor newspaper review about the Alps in sound films. The images break off [quickly] and thus give the impression of being piled up closer than they probably are. Oddly enough, the subject itself may have contributed most of all to the audience's falling into a state of apathy after a certain period of time. Strauss, who in truth understands how to calculate, miscalculated this time by being too clever: it is actually with mountaineering that most people will be more familiar, rather than with Zarathustra, Don Quixote, or Till Eulenspiegel; and so the audience was in the end bored by having to take in the many images that it otherwise knew so well. The listeners were not given the charm of the enigmatic, or of the unknown, so that their imagination did not have the least room for maneuver. The outward signs for which Strauss has been acclaimed do not in any way change the fact that the work made a far weaker impression {55} than his others. We left the concert hall annoyed, and at the same time deeply saddened by the degree to which the art of music has sunk. — *World war! In the world war, the natural order of things expresses itself with elemental force. On firm ground, 2 and not upon the ocean, matters will be decided. England's naval power, being based on water, is condemned to play a secondary role compared to a land-based power. What is it to be lord of all the seas if one is not, above all, lord of the land? For this reason, too, the command of the skies will never secure a lasting superiority over the one with the greatest power on land. We come from the earth, and we belong essentially to it, rather than to the water and the air. No human development can change this. (Parallelism in the realm of music: compared to the passing note, as the primal manifestation, the neighbor note is only a secondary phenomenon.) *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Public dress rehearsal for the second subscription concert of the Vienna Philharmonic Orchestra, conducted by Felix Weingartner and Richard Strauss; the concert itself took place the following day. (See the "Theater- und Kunstnachrichten," Neue Freie Presse, No. 18420, December 3, 1915, morning edition, p. 12. Online-Archiv der Wiener Philharmoniker: www.wienerphilharmoniker.at/konzerte/konzertdetail.) 2 A small question-mark above the word "Boden." |