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15. XII. 15

Zum Zahnarzt, 2. Weg. — Der „Abend“ vermerkt, daß die bedeutenden Preisrückgänge auf den Viehmärkten leider nicht in den Speisetarifen der Restaurants zum Ausdruck kommen u. verwirft bei dieser Gelegenheit das angeblich manchesterliche 1 Gesetz von Angebot u. Nachfrage. Mit Recht bemerkt Herr Colbert, daß noch zahllose andere Imponderabilien bei der Preisbildung mitwirken, so daß Angebot u. Nachfrage schon längst als abgetane Märchen zu gelten haben. 2 In der Tat hält sich der oberste Gerichtshof in Oesterreich nurmehr an die Gestehungskosten. —

*

Frau Pairamall sagt ab mit Brief. —

Helfferichs Rede zur Begründung des 10-Milliarden-Kredites. Imponierend seine Warnung: finis Britan[n]iae! 3 Diese Tonart ist freilich stärker u. geeigneter hinter die englische Schädelmauer zu dringen, als die vornehme des Reichskanzlers. 4 Daran ändert nichts die Beteuerung der Engländer, daß man zu ihnen nur vornehm reden sollte, sie verstünden sich auch auf feine geistige Kost. Doch trifft das ebensowenig wie bei den {69} Menschen überhaupt zu. Sie wünschen vornehm angesprochen u. behandelt zu werden, reagieren aber richtig erst, bis sie die schärfere Tonart zu hören bekommen. Die Komödie läuft also nur auf eine Genugtuung für die Eitelkeit hinaus, da jederman[n], gleichviel was Erfordernis der Sache sei, vor allem um seiner selbst willen vornehm behandelt zu werden wünscht. Die Eitelkeit ist es denn auch, die ihn nicht verstehen läßt, wie die Situation, eine Lösung erheischend, es bei einer bloßen Genugtuung für die Eitelkeit nicht bewenden lassen kann u. das Ihrige um jeden Preis, also auch den der Verletzung der Eitelkeit durch eine schärfere Tonart haben muss. Auch in unserem Falle HelfferichEngland stellt gewissermaßen der Reichskanzler den verlorenen Umweg über überflüssige Vornehmheit vor, u. nur Helfferich den groben Keil, der auf den groben Klotz gehört. —

*

Wieder wurde nach Blättermeldungen irgendwo ein Kutscher zum Tenor emporgezüchtet. Zwei, drei Jahre des Studiums einiger Partien u. ein strahlender Held steht vor der Welt. Wahrlich, ein naher Weg, der ebenso leicht aber den Tenor zum Kutscher zurückführen könnte. Es versuche der Kutscher nur einmal ein Mozart zu werden, ob es ihm auch in 10 Jahren gelänge! —

*

Wienerisches: Da ich abends zu Lie-Liechen gieng[,] fand ich plötzlich die Straße voll Lärm. Trotz Menschengedränge konnte ich bald eruieren, daß ein wütender Hund gejagt wurde; nun schien es mir aber, als würden die lieben Wiener lieber den Hund jagen als niedermachen wollen, ja die Jagd machte beinahe den Eindruck, als würden die Leute den Hund zuerst auf die Wachstube bringen wollen, um von ihm dort gemütlich Rechenschaft zu fordern. So viel ich im Fluge hörte, hatte der tolle Hund schon einige Abenteuer hinter sich.

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{70}

© Transcription Marko Deisinger.

December 15, 1915.

Second trip to the dentist. — Der Abend observes that the significant price falls in the cattle market are unfortunately not reflected in the price of meals in restaurants, and uses the opportunity to criticize the apparently Mancunian 1 law of supply and demand. Mr. Colbert rightly observes that countless other imponderables have an effect on pricing, so that supply and demand can for a long time have been regarded as myths that can be waved aside. 2 In fact, the highest court in Austria is only sticking by the production costs. —

*

Mrs. Pairamall cancels, with a letter. —

Helfferich's speech on the establishment of a loan of ten billion. His warning – the end of Britain – is impressive! 3 This tonality is, of course, stronger and more appropriate to penetrate the skull of the English than the German Chancellor's polite one. 4 That doesn't change anything about the protestations of the English, that one ought to speak politely to them, as they are skilled at fine intellectual fare. But that applies just as little to people in general: {69} they wish to be spoken to and treated graciously, but react properly only when they are given to hear the more strident tonality. The comedy thus amounts only to a satisfaction of one's vanity, since everyone, whatever the requirements of the matter may be, wishes above all to be treated respectfully for his own sake. It is vanity, too, that prevents them from understanding how the situation, which demands a resolution, will not let the matter rest with a mere gratification of one's vanity but must have what is theirs at any price, even that of pride injured by a more strident tonality. Even in our Helfferich case: the chancellor represents to England something of the doomed circuitous path by way of unnecessary refinement, and only Helfferich [has] the down-to-earth language which will hit home. —

*

Again the newspapers report that somewhere a coachman has been trained to become a tenor. Two, three years' studies of a few roles, and a shining hero stands before the world. In truth, a narrow path, which could just as easily lead to a tenor becoming a coachman. But just let a coachman try to become a Mozart, let's see if he can do this even in the space of ten years! —

*

Typically Viennese: as I was going to Lie-Liechen's in the evening, I suddenly found the street full of uproar. In spite of the throng of people, I was soon able to learn that a mad dog was being hunted; but it appeared to me that the dear Viennese would rather chase the dog than put him down. Indeed, the hunt almost gave me the impression that the people wanted first to bring the dog to the police station and have the pleasure of demanding that the dog face justice. From what I had fleetingly heard, the mad dog already had some adventures behind him.

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© Translation William Drabkin.

15. XII. 15

Zum Zahnarzt, 2. Weg. — Der „Abend“ vermerkt, daß die bedeutenden Preisrückgänge auf den Viehmärkten leider nicht in den Speisetarifen der Restaurants zum Ausdruck kommen u. verwirft bei dieser Gelegenheit das angeblich manchesterliche 1 Gesetz von Angebot u. Nachfrage. Mit Recht bemerkt Herr Colbert, daß noch zahllose andere Imponderabilien bei der Preisbildung mitwirken, so daß Angebot u. Nachfrage schon längst als abgetane Märchen zu gelten haben. 2 In der Tat hält sich der oberste Gerichtshof in Oesterreich nurmehr an die Gestehungskosten. —

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Frau Pairamall sagt ab mit Brief. —

Helfferichs Rede zur Begründung des 10-Milliarden-Kredites. Imponierend seine Warnung: finis Britan[n]iae! 3 Diese Tonart ist freilich stärker u. geeigneter hinter die englische Schädelmauer zu dringen, als die vornehme des Reichskanzlers. 4 Daran ändert nichts die Beteuerung der Engländer, daß man zu ihnen nur vornehm reden sollte, sie verstünden sich auch auf feine geistige Kost. Doch trifft das ebensowenig wie bei den {69} Menschen überhaupt zu. Sie wünschen vornehm angesprochen u. behandelt zu werden, reagieren aber richtig erst, bis sie die schärfere Tonart zu hören bekommen. Die Komödie läuft also nur auf eine Genugtuung für die Eitelkeit hinaus, da jederman[n], gleichviel was Erfordernis der Sache sei, vor allem um seiner selbst willen vornehm behandelt zu werden wünscht. Die Eitelkeit ist es denn auch, die ihn nicht verstehen läßt, wie die Situation, eine Lösung erheischend, es bei einer bloßen Genugtuung für die Eitelkeit nicht bewenden lassen kann u. das Ihrige um jeden Preis, also auch den der Verletzung der Eitelkeit durch eine schärfere Tonart haben muss. Auch in unserem Falle HelfferichEngland stellt gewissermaßen der Reichskanzler den verlorenen Umweg über überflüssige Vornehmheit vor, u. nur Helfferich den groben Keil, der auf den groben Klotz gehört. —

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Wieder wurde nach Blättermeldungen irgendwo ein Kutscher zum Tenor emporgezüchtet. Zwei, drei Jahre des Studiums einiger Partien u. ein strahlender Held steht vor der Welt. Wahrlich, ein naher Weg, der ebenso leicht aber den Tenor zum Kutscher zurückführen könnte. Es versuche der Kutscher nur einmal ein Mozart zu werden, ob es ihm auch in 10 Jahren gelänge! —

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Wienerisches: Da ich abends zu Lie-Liechen gieng[,] fand ich plötzlich die Straße voll Lärm. Trotz Menschengedränge konnte ich bald eruieren, daß ein wütender Hund gejagt wurde; nun schien es mir aber, als würden die lieben Wiener lieber den Hund jagen als niedermachen wollen, ja die Jagd machte beinahe den Eindruck, als würden die Leute den Hund zuerst auf die Wachstube bringen wollen, um von ihm dort gemütlich Rechenschaft zu fordern. So viel ich im Fluge hörte, hatte der tolle Hund schon einige Abenteuer hinter sich.

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© Transcription Marko Deisinger.

December 15, 1915.

Second trip to the dentist. — Der Abend observes that the significant price falls in the cattle market are unfortunately not reflected in the price of meals in restaurants, and uses the opportunity to criticize the apparently Mancunian 1 law of supply and demand. Mr. Colbert rightly observes that countless other imponderables have an effect on pricing, so that supply and demand can for a long time have been regarded as myths that can be waved aside. 2 In fact, the highest court in Austria is only sticking by the production costs. —

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Mrs. Pairamall cancels, with a letter. —

Helfferich's speech on the establishment of a loan of ten billion. His warning – the end of Britain – is impressive! 3 This tonality is, of course, stronger and more appropriate to penetrate the skull of the English than the German Chancellor's polite one. 4 That doesn't change anything about the protestations of the English, that one ought to speak politely to them, as they are skilled at fine intellectual fare. But that applies just as little to people in general: {69} they wish to be spoken to and treated graciously, but react properly only when they are given to hear the more strident tonality. The comedy thus amounts only to a satisfaction of one's vanity, since everyone, whatever the requirements of the matter may be, wishes above all to be treated respectfully for his own sake. It is vanity, too, that prevents them from understanding how the situation, which demands a resolution, will not let the matter rest with a mere gratification of one's vanity but must have what is theirs at any price, even that of pride injured by a more strident tonality. Even in our Helfferich case: the chancellor represents to England something of the doomed circuitous path by way of unnecessary refinement, and only Helfferich [has] the down-to-earth language which will hit home. —

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Again the newspapers report that somewhere a coachman has been trained to become a tenor. Two, three years' studies of a few roles, and a shining hero stands before the world. In truth, a narrow path, which could just as easily lead to a tenor becoming a coachman. But just let a coachman try to become a Mozart, let's see if he can do this even in the space of ten years! —

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Typically Viennese: as I was going to Lie-Liechen's in the evening, I suddenly found the street full of uproar. In spite of the throng of people, I was soon able to learn that a mad dog was being hunted; but it appeared to me that the dear Viennese would rather chase the dog than put him down. Indeed, the hunt almost gave me the impression that the people wanted first to bring the dog to the police station and have the pleasure of demanding that the dog face justice. From what I had fleetingly heard, the mad dog already had some adventures behind him.

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 Manchesterism comprises the political, economic, and social movements of the 19th century that originated in Manchester, England. Led by Richard Cobden and John Bright, it won a wide hearing for its argument that free trade would lead to a more equitable society, making essential products available to all.

2 "Zwanzig statt sechzig Heller," Der Abend, No. 154, December 15, 1915, 1st year, p. 3.

3 "Erste Lesung der Zehnmilliardenkreditvorlage. Rede des Staatssekretärs Dr. Helfferich," Neue Freie Presse, No. 18432, December 15, 1915, morning edition, p. 10.

4 See diary entries for December, 10 and 12, 1915.