11. V. 16 Sehr schöner Tag!

Wienerisches: eErst heute werden Unsere [recte unsere] Hoteliers von den Behörden ermahnt, die Preise ersichtlich zu machen, sie für keinen Fall willkürlich abzuändern, über Hygiene zu wachen usw. Indirekt gibt die Behörde die Niedertracht des Kaufmannes zu u. zwingt den Hotelier, ähnlich wie man Kinder zwangsweise zur Schule schickt, sich für einen künftigen Fremdenverkehr dadurch besser zu adaptieren, daß sie endlich ehrlichere Manieren in ihr Gewerbe hineintragen! Läppisch ist blos, wenn die Behörden bei dem Zimmerreinmachen der Hoteliers auch an die Hotelgäste appellieren, daß auch sie bei der Erziehung der Hoteliers mitwirken möchten. 1 Der Hotelgast darf darnach also zahlen u. soll, statt dafür eine korrekte Leistung des Hoteliers zu empfangen, sich erst mit der Erziehung des Hoteliers abgeben. Prellen ist eben des Wieners Freund! —

*

Kiß! 2

*

Abends bei Fl. Dort erfahren wir, daß in Militärkreisen augenblicklich eine starke Razzia vor sich gehe, der viele hochstehende Personen bereits zum Opfer gefallen sind, darunter auch der Schwager des Frl. Elias. – Da wir aus dem Hause gehen wollen, tritt uns ein {235} beträchtlicher Kinderhaufe entgegen, bei in dem die ältesten etwa 13–14jährige sehr verwahrloste Mädchen gewesen sein mochten. Kaum hatte der Haufe uns erblickt, als alle zu brüllen, zu johlen u. auch Steine zu werfen anfingen. Alles kam so unerwartet u. blitzschnell, daß wir ordentlich Zeit brauchten um überhaupt erst zu bemerken, daß wir selbst die Adresse jenes Unwillens waren. Im Nu wußte der Haufe sich einzubilden, daß aus den Stockwerken Steine auf die Kinder geworfen worden wären (es waren natürlich die jene Steine, die sie selbst hinaufgeworfen hatten u. die von oben zurückfielen!); im Nu ließen sich von dieser Einbildung auch unbeteiligte Personen anstecken – kurz, die Sinnlosigkeit schoß plötzlich wie eine Flamme in die Höhe u. zeigte, wie wenig Hoffnung für das Menschengeschlecht man haben darf, da es im Grunde seit Urzeiten in ähnlicher Ursache- u. Ziellosigkeit dahinvegetiert.

— Schon konnten wir, da wir nach Schönbrunn fuhren, im Wagen unter den Fahrgästen eine ganz beträchtliche Spannung bemerken, die von der starken elektrischen Stromwelle des Frauenumzuges ausging, der in den Straßen von Rudolfsheim und Mariahilf zu sehen war. Alle Gäste waren einig, daß dem Lebensmittelwucher abgeholfen werden müsse!

— Bei der Oper angelangt, bemerken wir das gewohnte Treiben , auf den dem Hundemarkt der Kärntnerstraße u. da fallen uns zwei junge Dirnen ins Auge, in ganz auffallende Kostüme gekleidet, als kämen sie von einem Maskenball oder gingen zu einem. Offenbar haben gerade an sie diese Mädchen einige Kriegsparvenus ihr rasch gewonnenes Geld hinausgeworfen u. die Dirnen sie haben es ebenso rasch in aufreizende Toiletten umgesetzt. Zu was doch Vaterlandsliebe taugt.

*

© Transcription Marko Deisinger.

May 11, 1916, very fine day!

— Typically Viennese: it is only now that our hoteliers are warned by the authorities to advertise their prices visibly and on no account change them arbitrarily, to be vigilant in matters of hygiene, and so on. The authorities are indirectly admitting the businessman's perfidy, and are forcing hoteliers – similar to how children are forced to go to school – to better adapt to the tourist industry in future by finally acquiring more honorable manners in their trade! What is ridiculous is just that the authorities, in asking the hoteliers to keep their rooms clean, also appeal to the hotel guests, that they might cooperate in the education of the hoteliers. 1 Accordingly, the hotel guest thus pays and, instead of receiving a proper service from the hotelier, only contributes to his education. Cheating is simply the friend of the Viennese! —

*

Kiss! 2

*

In the evening at Floriz's. There we learn that at the moment there is currently an intense crackdown in military circles: many high-ranking persons have already fallen victim, including even Miss Elias's brother-in-law. – As we are about to leave the house, {235} we are confronted by a sizeable bunch of children, the eldest of whom were unkempt girls of perhaps thirteen or fourteen years of age. Hardly had the group caught sight of us, they all began to yell and scream, and even throw stones. Everything happened so lightening fast and unexpectedly that we needed some time to realize that we ourselves were the object of that aggression. In a moment the pack realized that stones would be thrown from the stories of the building at the children (the same stones, of course, that they themselves had thrown up and which fell from above!); all of a sudden, persons who had not taken part got involved in the scene– in short, the futility shot up into the sky like a flame, showing how little hope one might have for the human race, as it has since time immemorial been similarly vegetating in an aimlessness without cause.

— As we rode towards Schönbrunn we were already able to observe among the passengers in the carriage a quite considerable tension that emanated from the powerful surge of electric current emanating from the women's march that could be seen on the streets of Rudolfsheim and Mariahilf. All the passengers were agreed that the profiteering from the sale of food had to be addressed!

— Arriving at the opera house, we observe the usual bustle at the dog market in the Kärntnerstraße; and there our eyes fell upon two young prostitutes clothed in utterly striking costumes, as if they were coming from or going to a masked ball. Evidently some parvenus threw away the money they had quickly made from the war on them; and the girls had just as quickly converted it into fancy attire. So this is what love of the fatherland amounts to.

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© Translation William Drabkin.

11. V. 16 Sehr schöner Tag!

Wienerisches: eErst heute werden Unsere [recte unsere] Hoteliers von den Behörden ermahnt, die Preise ersichtlich zu machen, sie für keinen Fall willkürlich abzuändern, über Hygiene zu wachen usw. Indirekt gibt die Behörde die Niedertracht des Kaufmannes zu u. zwingt den Hotelier, ähnlich wie man Kinder zwangsweise zur Schule schickt, sich für einen künftigen Fremdenverkehr dadurch besser zu adaptieren, daß sie endlich ehrlichere Manieren in ihr Gewerbe hineintragen! Läppisch ist blos, wenn die Behörden bei dem Zimmerreinmachen der Hoteliers auch an die Hotelgäste appellieren, daß auch sie bei der Erziehung der Hoteliers mitwirken möchten. 1 Der Hotelgast darf darnach also zahlen u. soll, statt dafür eine korrekte Leistung des Hoteliers zu empfangen, sich erst mit der Erziehung des Hoteliers abgeben. Prellen ist eben des Wieners Freund! —

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Kiß! 2

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Abends bei Fl. Dort erfahren wir, daß in Militärkreisen augenblicklich eine starke Razzia vor sich gehe, der viele hochstehende Personen bereits zum Opfer gefallen sind, darunter auch der Schwager des Frl. Elias. – Da wir aus dem Hause gehen wollen, tritt uns ein {235} beträchtlicher Kinderhaufe entgegen, bei in dem die ältesten etwa 13–14jährige sehr verwahrloste Mädchen gewesen sein mochten. Kaum hatte der Haufe uns erblickt, als alle zu brüllen, zu johlen u. auch Steine zu werfen anfingen. Alles kam so unerwartet u. blitzschnell, daß wir ordentlich Zeit brauchten um überhaupt erst zu bemerken, daß wir selbst die Adresse jenes Unwillens waren. Im Nu wußte der Haufe sich einzubilden, daß aus den Stockwerken Steine auf die Kinder geworfen worden wären (es waren natürlich die jene Steine, die sie selbst hinaufgeworfen hatten u. die von oben zurückfielen!); im Nu ließen sich von dieser Einbildung auch unbeteiligte Personen anstecken – kurz, die Sinnlosigkeit schoß plötzlich wie eine Flamme in die Höhe u. zeigte, wie wenig Hoffnung für das Menschengeschlecht man haben darf, da es im Grunde seit Urzeiten in ähnlicher Ursache- u. Ziellosigkeit dahinvegetiert.

— Schon konnten wir, da wir nach Schönbrunn fuhren, im Wagen unter den Fahrgästen eine ganz beträchtliche Spannung bemerken, die von der starken elektrischen Stromwelle des Frauenumzuges ausging, der in den Straßen von Rudolfsheim und Mariahilf zu sehen war. Alle Gäste waren einig, daß dem Lebensmittelwucher abgeholfen werden müsse!

— Bei der Oper angelangt, bemerken wir das gewohnte Treiben , auf den dem Hundemarkt der Kärntnerstraße u. da fallen uns zwei junge Dirnen ins Auge, in ganz auffallende Kostüme gekleidet, als kämen sie von einem Maskenball oder gingen zu einem. Offenbar haben gerade an sie diese Mädchen einige Kriegsparvenus ihr rasch gewonnenes Geld hinausgeworfen u. die Dirnen sie haben es ebenso rasch in aufreizende Toiletten umgesetzt. Zu was doch Vaterlandsliebe taugt.

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© Transcription Marko Deisinger.

May 11, 1916, very fine day!

— Typically Viennese: it is only now that our hoteliers are warned by the authorities to advertise their prices visibly and on no account change them arbitrarily, to be vigilant in matters of hygiene, and so on. The authorities are indirectly admitting the businessman's perfidy, and are forcing hoteliers – similar to how children are forced to go to school – to better adapt to the tourist industry in future by finally acquiring more honorable manners in their trade! What is ridiculous is just that the authorities, in asking the hoteliers to keep their rooms clean, also appeal to the hotel guests, that they might cooperate in the education of the hoteliers. 1 Accordingly, the hotel guest thus pays and, instead of receiving a proper service from the hotelier, only contributes to his education. Cheating is simply the friend of the Viennese! —

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Kiss! 2

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In the evening at Floriz's. There we learn that at the moment there is currently an intense crackdown in military circles: many high-ranking persons have already fallen victim, including even Miss Elias's brother-in-law. – As we are about to leave the house, {235} we are confronted by a sizeable bunch of children, the eldest of whom were unkempt girls of perhaps thirteen or fourteen years of age. Hardly had the group caught sight of us, they all began to yell and scream, and even throw stones. Everything happened so lightening fast and unexpectedly that we needed some time to realize that we ourselves were the object of that aggression. In a moment the pack realized that stones would be thrown from the stories of the building at the children (the same stones, of course, that they themselves had thrown up and which fell from above!); all of a sudden, persons who had not taken part got involved in the scene– in short, the futility shot up into the sky like a flame, showing how little hope one might have for the human race, as it has since time immemorial been similarly vegetating in an aimlessness without cause.

— As we rode towards Schönbrunn we were already able to observe among the passengers in the carriage a quite considerable tension that emanated from the powerful surge of electric current emanating from the women's march that could be seen on the streets of Rudolfsheim and Mariahilf. All the passengers were agreed that the profiteering from the sale of food had to be addressed!

— Arriving at the opera house, we observe the usual bustle at the dog market in the Kärntnerstraße; and there our eyes fell upon two young prostitutes clothed in utterly striking costumes, as if they were coming from or going to a masked ball. Evidently some parvenus threw away the money they had quickly made from the war on them; and the girls had just as quickly converted it into fancy attire. So this is what love of the fatherland amounts to.

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Reformen im Hotelwesen. Maßnahmen zur Verbesserung der Unterkunft," Neues Wiener Tagblatt, No. 130, May 11, 1916, 50th year, p. 13.

2 "Der Frauenmörder von Czinkota," Neues Wiener Tagblatt, No. 130, May 11, 1916, 50th year, p. 13.