15. IX. 16 Temperatursturz hält an – ich lege Mantel an.
— Vom Post-Zeitungsamt Aufforderung, die fehlenden Nummern anzugeben. — Vom Kriegshilfsbüro schöne Landschaftskarten. 1 — — „Frankf. Ztg.“ wird wieder zugestellt. — An Peters (Br.Ssa [3]): Dank für Händel–Roth 2 u. Unterstreichen von Roths Vorzügen. — An Dodi: Ausschnitt aus dem gestrigen „Abend“: Marktpreis des Mastochsenfleisches in – Bozen: 4.90 Kronen per kg. — Eine Verordnung statuiert Höchstpreise für Zwetschken mit 64 h für die besten! 3 — *{422} Meine Bedienerin erzählt aber, daß gerade in einer dem Polizei-Kommissariat gegenübergelegenen Greislerei [sic] die Zwetschken wie zum Hohne mit 40 h per 1/8 kg notiert sind! — An das Post-Zeitungsamt: nenne die fehlenden Nummern. — Früh zu Tisch. Bei der Rochuskirche sehen wir auf dem Hinweg eine aus dem Glockenturm herabgeholte Glocke, mit Kränzen geschmückt, dem Kanonengusse geweiht. So wie sie dastand, be gkränzt, von einer neugierigen Menge begafft, machte sie den Eindruck eines lebenden Wesens, eines Soldaten, der B blumengeschmückt zur Front geht! — *Illusion: Ist es als Frucht des Bewußtseins anzusehen, wenn der Mensch zunächst sich selbst in Höhen emporhebt, die einem Tiere niemals zugänglich sind, so ist es offenbar nur eine weitere Folge jener derselben durch das jenes künstliche Bewußtsein entwickelten Gabe, wenn derselbe Mensch die Dinge nun auch außer sich, die leblosen mit eingeschlossen, ebenfalls über sich hinaus zu steigern vermag. So wie Sowie in Form des Selbstbewußtseins sich das Bewußtsein nach dem Innern wendet, so treibt es in Form der Illusion eine Expension [sic] auch nach außen. Somit ist es eine u. dieselbe Kraft, nur in verschiedenen Richtungen sich betätigend; Illusion zwar nach beiden, aber auf den Richtungen liegt der Nachdruck allein, wovon denn auch das Leben Sinn u. Farbe erhält. — *Gleich nach Tisch zu Frau Wally, die wir denn auch um ½2h zuhause noch antreffen. Nach ihrer Mitteilung schwebte Fl. eine zeitlang [sic] in Gefahr, der Infanterie überwiesen zu werden, was daher kam, daß das ganze Ausweisbüro unerlaubterweise Machinationen verdächtigt wurde u. strafweise der Front ausgeliefert werden sollte. Wie es ihm aber in Marburg gelungen ist, dennoch bei der Artillerie zu bleiben, ist vorläufig noch ein Rätsel, da er eine Mitteilung darüber auf schriftlichem Wege nicht zukommen lassen konnte. – Bei seinem Urlaub in Wien hat ihm ein College vom Ausweisbüro {423} 80 Kronen entwendet! Ferner erzählt Frau W. von unsauberen Zuständen in der Stiftskaserne, denen Fr. Gutherz zum Opfer gefallen ist, obgleich sie ihren Leistungen nach, sowohl auf persönlich hilfstechnischem als materiellem Gebiete, es wohl verdient hätte, eine bessere Erfahrung zu machen. Hurerei einer reichen Dame war die letzte Ursache, weshalb sie das Spital unfreiwillig verlassen mußte. Bei dieser Gelegenheit erfahre ich auch, daß selbst die freiwilligen Schwestern seit langem Gehalt beziehen; somit sind sie zur Zeit als „freiwillige“ anzusehen höchstens vielleicht nur in Hinsicht der Hurerei! – Frau Wally schenkt uns ein Kilogramm Mehl, verweigert die Entgegennahme jeglichen Geldbetrages mit der Motivierung, daß sie außerordentlich große Vorräte an Mehl aus verschiedenen Quellen besitze. Butter erhalte sie täglich, erzählt sie. Sie sei dazu [illeg]übrigens auf sehr sonderbare Weise gekommen: Frau Rosé 4 habe sich einmal beim Polizeikommissar beklagt, daß sie, obgleich langjährige Kundin einer Milchverschleißerin, von dieser keine Milch mehr für ihre beiden Kinder erhalten könne, worauf ihr der Polizeikommissar ausdrücklich den Rat gab, es mit einem – Trinkgeld zu versuchen. Sie sei dem Rate gefolgt u. seither mit Milch versorgt! — Auf dem Rückwege – Gärtner getroffen. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 15, 1916. The fall in temperature persists – I put on my coat.
— Request from the newspaper post office, to indicate which issues are missing. — From the War Aid Bureau, attractive landscape postcards. 1 — — The Frankfurter Zeitung is reinstated. — LetterSsa [3] to Peters: thanks for Handel–Roth 2 and emphasis of Roth's excellent qualities. — To Dodi: clipping from yesterday's edition of Der Abend : the market price of fattened beef in – Bozen: 4.90 Kronen per kilogram. — An ordinance prescribes a price limit of 64 Heller for the best quality of damson plums! 3 — *{422} My maid says, however, that, in a grocery store right opposite the police station, the plums are defiantly marked at 40 Heller for 1/8 kilogram! — To the newspaper post office: I provide the numbers of the missing issues. — Early to lunch. At the Church of St. Roch we see a bell taken down from the bell tower, decorated with wreaths, consecrated for casting as a cannon. As it lay there, wreathed, gaped at by an inquisitive crowd, it gave the impression of being a living being, a soldier who, adorned with flowers, is going to the front! — *Illusion: if it is to be understood as the fruit of consciousness that a person can raise himself to heights that are never accessible to animals, then it is evidently only a further consequence of the same gift, developed by that that artificial consciousness, that a person is likewise capable of raising things outside himself – the lifeless included – beyond himself. As consciousness turns inwards, in the form of self-consciousness, it also drives an external expansion, in the form of illusion. Thus it is one and the same force, only acting in different directions; illusion, indeed, in both directions, but the emphasis lies only in the directions from which even life now acquires meaning and color. — *Immediately after lunch, to Vally, whom we still find at home even at 1:30. According to her account, Floriz was for a time at risk of being transferred to the infantry, which came about as a result of the entire identity-card office being suspected of unauthorized machinations and, as a punishment, being sent to the front. How he succeeded in Marburg, nonetheless, to remain in the artillery corps is for the time being a mystery, for he was unable to obtain a communication about this in written form. – During his holiday in Vienna, a colleague at the office {423} stole 80 Kronen from him! In addition, Vally speaks of the unhealthy conditions in the Stiftskaserne, to which Mrs. Gutherz has fallen victim, although she deserved, from all that she had achieved both by personal and material assistance, to have had a better experience. The harlotry of a wealthy woman was the ultimate reason why she had to leave the hospital involuntarily. On this occasion I also discover that the volunteer nurses themselves have for a long time been in receipt of payment; thus at present they may be understood as "volunteers" at best with reference to harlotry! – Vally gives us a kilogram of flour, refuses to take any payment in return on the grounds that she is in possession of an exceptionally large store of flour from various sources. She receives butter every day, she says. She has obtained it, moreover, by a very strange route: Mrs. Rosé 4 once complained to the police commissioner that, although she had been a long-standing customer of a milk retailer, she was no longer able to obtain any milk for her two children – whereupon the police commissioner expressly advised her to try with a gratuity. She followed this advice and has since been provided with milk! — On the way home, we meet Gärtner. — *
© Translation William Drabkin. |
15. IX. 16 Temperatursturz hält an – ich lege Mantel an.
— Vom Post-Zeitungsamt Aufforderung, die fehlenden Nummern anzugeben. — Vom Kriegshilfsbüro schöne Landschaftskarten. 1 — — „Frankf. Ztg.“ wird wieder zugestellt. — An Peters (Br.Ssa [3]): Dank für Händel–Roth 2 u. Unterstreichen von Roths Vorzügen. — An Dodi: Ausschnitt aus dem gestrigen „Abend“: Marktpreis des Mastochsenfleisches in – Bozen: 4.90 Kronen per kg. — Eine Verordnung statuiert Höchstpreise für Zwetschken mit 64 h für die besten! 3 — *{422} Meine Bedienerin erzählt aber, daß gerade in einer dem Polizei-Kommissariat gegenübergelegenen Greislerei [sic] die Zwetschken wie zum Hohne mit 40 h per 1/8 kg notiert sind! — An das Post-Zeitungsamt: nenne die fehlenden Nummern. — Früh zu Tisch. Bei der Rochuskirche sehen wir auf dem Hinweg eine aus dem Glockenturm herabgeholte Glocke, mit Kränzen geschmückt, dem Kanonengusse geweiht. So wie sie dastand, be gkränzt, von einer neugierigen Menge begafft, machte sie den Eindruck eines lebenden Wesens, eines Soldaten, der B blumengeschmückt zur Front geht! — *Illusion: Ist es als Frucht des Bewußtseins anzusehen, wenn der Mensch zunächst sich selbst in Höhen emporhebt, die einem Tiere niemals zugänglich sind, so ist es offenbar nur eine weitere Folge jener derselben durch das jenes künstliche Bewußtsein entwickelten Gabe, wenn derselbe Mensch die Dinge nun auch außer sich, die leblosen mit eingeschlossen, ebenfalls über sich hinaus zu steigern vermag. So wie Sowie in Form des Selbstbewußtseins sich das Bewußtsein nach dem Innern wendet, so treibt es in Form der Illusion eine Expension [sic] auch nach außen. Somit ist es eine u. dieselbe Kraft, nur in verschiedenen Richtungen sich betätigend; Illusion zwar nach beiden, aber auf den Richtungen liegt der Nachdruck allein, wovon denn auch das Leben Sinn u. Farbe erhält. — *Gleich nach Tisch zu Frau Wally, die wir denn auch um ½2h zuhause noch antreffen. Nach ihrer Mitteilung schwebte Fl. eine zeitlang [sic] in Gefahr, der Infanterie überwiesen zu werden, was daher kam, daß das ganze Ausweisbüro unerlaubterweise Machinationen verdächtigt wurde u. strafweise der Front ausgeliefert werden sollte. Wie es ihm aber in Marburg gelungen ist, dennoch bei der Artillerie zu bleiben, ist vorläufig noch ein Rätsel, da er eine Mitteilung darüber auf schriftlichem Wege nicht zukommen lassen konnte. – Bei seinem Urlaub in Wien hat ihm ein College vom Ausweisbüro {423} 80 Kronen entwendet! Ferner erzählt Frau W. von unsauberen Zuständen in der Stiftskaserne, denen Fr. Gutherz zum Opfer gefallen ist, obgleich sie ihren Leistungen nach, sowohl auf persönlich hilfstechnischem als materiellem Gebiete, es wohl verdient hätte, eine bessere Erfahrung zu machen. Hurerei einer reichen Dame war die letzte Ursache, weshalb sie das Spital unfreiwillig verlassen mußte. Bei dieser Gelegenheit erfahre ich auch, daß selbst die freiwilligen Schwestern seit langem Gehalt beziehen; somit sind sie zur Zeit als „freiwillige“ anzusehen höchstens vielleicht nur in Hinsicht der Hurerei! – Frau Wally schenkt uns ein Kilogramm Mehl, verweigert die Entgegennahme jeglichen Geldbetrages mit der Motivierung, daß sie außerordentlich große Vorräte an Mehl aus verschiedenen Quellen besitze. Butter erhalte sie täglich, erzählt sie. Sie sei dazu [illeg]übrigens auf sehr sonderbare Weise gekommen: Frau Rosé 4 habe sich einmal beim Polizeikommissar beklagt, daß sie, obgleich langjährige Kundin einer Milchverschleißerin, von dieser keine Milch mehr für ihre beiden Kinder erhalten könne, worauf ihr der Polizeikommissar ausdrücklich den Rat gab, es mit einem – Trinkgeld zu versuchen. Sie sei dem Rate gefolgt u. seither mit Milch versorgt! — Auf dem Rückwege – Gärtner getroffen. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 15, 1916. The fall in temperature persists – I put on my coat.
— Request from the newspaper post office, to indicate which issues are missing. — From the War Aid Bureau, attractive landscape postcards. 1 — — The Frankfurter Zeitung is reinstated. — LetterSsa [3] to Peters: thanks for Handel–Roth 2 and emphasis of Roth's excellent qualities. — To Dodi: clipping from yesterday's edition of Der Abend : the market price of fattened beef in – Bozen: 4.90 Kronen per kilogram. — An ordinance prescribes a price limit of 64 Heller for the best quality of damson plums! 3 — *{422} My maid says, however, that, in a grocery store right opposite the police station, the plums are defiantly marked at 40 Heller for 1/8 kilogram! — To the newspaper post office: I provide the numbers of the missing issues. — Early to lunch. At the Church of St. Roch we see a bell taken down from the bell tower, decorated with wreaths, consecrated for casting as a cannon. As it lay there, wreathed, gaped at by an inquisitive crowd, it gave the impression of being a living being, a soldier who, adorned with flowers, is going to the front! — *Illusion: if it is to be understood as the fruit of consciousness that a person can raise himself to heights that are never accessible to animals, then it is evidently only a further consequence of the same gift, developed by that that artificial consciousness, that a person is likewise capable of raising things outside himself – the lifeless included – beyond himself. As consciousness turns inwards, in the form of self-consciousness, it also drives an external expansion, in the form of illusion. Thus it is one and the same force, only acting in different directions; illusion, indeed, in both directions, but the emphasis lies only in the directions from which even life now acquires meaning and color. — *Immediately after lunch, to Vally, whom we still find at home even at 1:30. According to her account, Floriz was for a time at risk of being transferred to the infantry, which came about as a result of the entire identity-card office being suspected of unauthorized machinations and, as a punishment, being sent to the front. How he succeeded in Marburg, nonetheless, to remain in the artillery corps is for the time being a mystery, for he was unable to obtain a communication about this in written form. – During his holiday in Vienna, a colleague at the office {423} stole 80 Kronen from him! In addition, Vally speaks of the unhealthy conditions in the Stiftskaserne, to which Mrs. Gutherz has fallen victim, although she deserved, from all that she had achieved both by personal and material assistance, to have had a better experience. The harlotry of a wealthy woman was the ultimate reason why she had to leave the hospital involuntarily. On this occasion I also discover that the volunteer nurses themselves have for a long time been in receipt of payment; thus at present they may be understood as "volunteers" at best with reference to harlotry! – Vally gives us a kilogram of flour, refuses to take any payment in return on the grounds that she is in possession of an exceptionally large store of flour from various sources. She receives butter every day, she says. She has obtained it, moreover, by a very strange route: Mrs. Rosé 4 once complained to the police commissioner that, although she had been a long-standing customer of a milk retailer, she was no longer able to obtain any milk for her two children – whereupon the police commissioner expressly advised her to try with a gratuity. She followed this advice and has since been provided with milk! — On the way home, we meet Gärtner. — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 The War Aid Bureau, part of the Ministry of the Interior, supported wartime assistance through the collection of donations, the mounting of events, and the publication of books, picture books and postcards. 2 Dreissig Gesänge für eine Frauenstimme aus Opern und Oratorien ausgewählt und mit Klavierbegleitung, ed. Herman Roth (Leipzig: Peters, n. d.). 3 "Der Höchstpreis im Kleinhandel für Zwetschken und Powidl," Neue Freie Presse, No. 18703, September 15, 1916, morning edition, p. 12. 4 Probably Mahler's sister Justine (1868–1938), who in 1902 married the violinist Arnold Rosé, a colleague of Moriz Violin's at the Vienna Music Academy. They had two children, both of whom became musicians: Alfred (1902–1975) and Alma (1906–1944). |