25. X. 16 5°, wärmer als gestern.
— Lie-Liechen leider unwohl; bleibt auch über Tisch zuhause. Hoffentlich behebt die Einschaltung eines Ruhetages die kleine Grippe schon an der Wurzel. — — Grey hält nun wieder eine Rede, in der er aller Momente Verbrechen gedachte, deren sich angeblich Deutschland schuldig gemacht hätte; 1 nur an den Ausgangspunkt, die Einkreisung u. all die lumpigen Manöver der englischen Diplomatie vermochte er sich gar nicht zu erinnern. So alltäglich die Phrase solche Erfahrung auch ist, wirkt sie in so gewaltiger Dimensionierung u. angesichts so ungeheuer tragischer Begebenheiten dennoch wie die Offenbarung einer gar neuen Seite der menschlichen Psyche. Läse man es nicht mit eigenen Augen, kaum würde man es glauben, daß ein Mensch – u. sei er auch Diplomat u. noch mehr – ein Engländer – die Möglichkeit findet, die eigene Schuld zu Beginn aller Ursachen, als die Ur-Ursache, aus dem eigenen Bewußtsein einfach restlos auszuschalten u. bei der Darstellung der Begebenheiten erst dort einzusetzen, wo die andern, in Abwehr begriffen, Gegenakte setzten, die er nun als die eigentliche Schuld hinstellt. Doch gleichviel ob im großen oder kleinen Format, ob im Alltag oder Weltkrieg sich ereignend, niemals wird sich der Mensch diesen häßlichen Tric aus der Seele reißen lassen, den er nun einmal anwendet, so oft er in einer bedenklichen Gesinn- {484} ung oder Tat entlarvt wird. Herr Grey ist übrigens so indolent, Deutschland deswegen anzuklagen, weil er sich nicht bei einer Konferenz durch die Majorität all derjenigen Kumpane hat erwürgen lassen wollen, die im Laufe des Weltkrieges dann auch wirklich praktisch-militärisch auf der Seite Englands traten u. nun im Verein mit ihm eine Art militärischer Majorität zu spielen versuchten (s. Beilage!). — — Sigurd Ibsen weist darauf hin, daß in Norwegen nur eigentlich die Händlerkreise für England eingenommen sind! 2 Bedenkt man nun, daß Norwegen nach außen das Gepräge eines vollkommen Entente-freundlichen Staates zeigt, daß es kürzlich sogar schon aus seiner Neutralität zugunsten Englands schon herausgetreten ist, so hat man wieder den Beweis, wie der Staat immer u. überall sich nur mit dem Kaufmanne deckt u. in seinem Antlitz noch lange keine Spur von Zügen der Kunst, Wissenschaft oder sonstiger Berufe trägt (s. Beilage!). — — Kaufmann: Behauptet , auf hohen Gewinn nur wegen des „Risiko“ ausgeben zu müssen! Im Augenblicke aber, da ihm ein Verlust droht, weiß er ihn dennoch auf die andern zu überwälzen, so daß man sich fragen muß, weshalb er sich denn vorher unter dem Titel von Risiko so viel Vorschuss durch den Umsatz hat geben lassen. — — Wie in Kriegszeiten heute der Greisler [sic], so u. nicht anders die Reichen im Frieden: – derselbe Stamm, dieselbe Frucht, bei ihnen allen derselbe Tonfall, mit dem einzigen Unterschied, daß der bereits im Frieden Reichgewordene den Anspruch erhebt, daß man seinen Tonfall respektiere u. annehme. Grotesk wirkt es daher, wenn der Greisler von gestern sich über die Haltung des Greislers von heute beleidigt fühlt. Sie sind alle eben Greisler, auch die Großindustriellen, Agrarier usf. — Gegen ½12h erscheinen die städtischen Arbeiter mit dem Gasmesser. Die Arbeit ist umständlicher, als ich erwartet habe. Zu allem Ueberfluß hat sich der Maurer des Idiotismus schuldig gemacht, den Gaswechsel zuzumauern, so daß dieser neuerdings bloßgelegt werden mußte, damit Gas in das Rohr eingeleitet werden konnte. Nachmittags kam ich wie zufällig dazu, den Ofen in Bewegung zu setzen. Ich forderte zunächst die {485} Hausbesorgerin auf, den Ofen anzuzünden u. sie nahm den Auftrag an, ganz so, als hätte sie schon früher mit einem solchen Ofen hantiert; doch später zeigte sich, daß sie nicht einmal wußte, wo das Zündholz anzulegen sei. Nun hielt half ich selbst mit u. kam so auf den richtigen Weg! — — Cernavoda genommen! Rumäniens Schicksal offenbar ganz besiegelt! 3 — — Kaufmann: (Floriz erzählt eine Anekdote, die er von seinem Vater gehört hat): In einem Tiroler Gasthof soll einmal der Wirt einen ungewöhnlichen Preis für Tiroler Knödel gefordert haben. Darüber zur Rede gestellt, rechnete er vor: Mehl so u. so viel, Eier so u. so viel … u. der Tiroler Knödel! Eine treffender Beleg für die Methode für die u. Praxis des Kaufmannes, der sein Kapital ebenfalls ähnlich doppelt einrechnet, einmal als Kapital u. das zweitemal in der Leistung! *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 25, 1916. 5°, warmer than yesterday.
— Lie-Liechen unfortunately unwell; she stays home even over lunch. I hope that an additional day of rest will nip the little virus in the bud. — — Grey delivers another speech, in which he recalls all criminal acts of which Germany is supposed to be guilty; 1 but in the point of departure, the encirclement, and all the shabby maneuvers in English diplomacy, he is incapable of remembering anything at all. As common as such experience may be, it nevertheless works on such a vast scale and in light of such immensely tragic events like the revelation of an entirely new side of the human psyche. Were one not to read this with one's own eyes, one would hardly believe that a person – and even a diplomat, and what's more an Englishman – finds the possibility of completely banishing from his own conscience his own responsibility at the beginning of all causes, the primal cause, and in presenting the events begins only where the others, put on the defensive, made responses which he now represents as the actual faults. Yet whether it occurs in a large or small format, in everyday life or during a world war, a person will never tear this ugly ruse from his soul, having once used it, as often as he has been exposed in a dubious intention or act. {484} Mr. Grey is, moreover, so indolent to charge Germany of this, because he did not wish to be strangled at a conference by the majority of all those cronies who then went over to England's side even in a truly practical-military way, and who are now tempted to play a kind of military majority with her (see supplement!). — — Sigurd Ibsen suggests that in Norway only the business circles are actually in favor of England! 2 But if one considers that Norway appears to show the character of a state that is completely friendly with the Entente, that it recently relinquished its neutrality in favor of England, one has further proof of how the state always and everywhere is congruent with the businessman and no longer bears any signs of the features of art, science or other professions in its countenance (see supplement!). — — Businessman: he maintains that he must count on a high profit only on account of "risk"! At the moment, however, when he is threatened with loss, he is still able to unload it on others, so that one must ask why he had to make such a big deal through his turnover under the rubric of "risk". — — Today the shop owners in time of war; and no differently the rich in peacetime: – the same stem, the same fruit, with all of them the same tone of voice – with the single exception that those who have grown rich in peacetime assert the claim that their tone of voice should be respected and embraced. The effect is thus grotesque if a grocer from yesterday feels insulted by the behavior of a grocer of today. They are all nothing but grocers, even the industrialists and agrarians, and so on. — Towards 11:30, the municipal workmen appear with the gas meter. The work is more elaborate than I had expected. On top of everything, the mason was stupid enough to have sealed off the gas exchange pipe, so that this had to be unblocked again so that gas could be let into the pipe. In the afternoon I happened by chance to light the oven. {485} I first asked the caretaker to light the oven, and she accepted the assignment as if she already had experience with such an oven; but later turned out that she did not know at all where to place the match. So I assisted her and thus found the right way to do it! — — Cernavoda taken! Romania's fate apparently fully sealed! 3 — — Businessman (Floriz tells a story that he had heard from his father): at a restaurant in the Tyrol, the innkeeper once demanded an outrageous price for Tyrolean dumplings. When asked to explain it, he calculated as follows: flour costs so much, eggs cost so much, … and the Tyrolean dumplings themselves! A trenchant proof of the methods and practices of a businessman, who similarly counts his capital twice, once as capital and the second time in the product! *
© Translation William Drabkin. |
25. X. 16 5°, wärmer als gestern.
— Lie-Liechen leider unwohl; bleibt auch über Tisch zuhause. Hoffentlich behebt die Einschaltung eines Ruhetages die kleine Grippe schon an der Wurzel. — — Grey hält nun wieder eine Rede, in der er aller Momente Verbrechen gedachte, deren sich angeblich Deutschland schuldig gemacht hätte; 1 nur an den Ausgangspunkt, die Einkreisung u. all die lumpigen Manöver der englischen Diplomatie vermochte er sich gar nicht zu erinnern. So alltäglich die Phrase solche Erfahrung auch ist, wirkt sie in so gewaltiger Dimensionierung u. angesichts so ungeheuer tragischer Begebenheiten dennoch wie die Offenbarung einer gar neuen Seite der menschlichen Psyche. Läse man es nicht mit eigenen Augen, kaum würde man es glauben, daß ein Mensch – u. sei er auch Diplomat u. noch mehr – ein Engländer – die Möglichkeit findet, die eigene Schuld zu Beginn aller Ursachen, als die Ur-Ursache, aus dem eigenen Bewußtsein einfach restlos auszuschalten u. bei der Darstellung der Begebenheiten erst dort einzusetzen, wo die andern, in Abwehr begriffen, Gegenakte setzten, die er nun als die eigentliche Schuld hinstellt. Doch gleichviel ob im großen oder kleinen Format, ob im Alltag oder Weltkrieg sich ereignend, niemals wird sich der Mensch diesen häßlichen Tric aus der Seele reißen lassen, den er nun einmal anwendet, so oft er in einer bedenklichen Gesinn- {484} ung oder Tat entlarvt wird. Herr Grey ist übrigens so indolent, Deutschland deswegen anzuklagen, weil er sich nicht bei einer Konferenz durch die Majorität all derjenigen Kumpane hat erwürgen lassen wollen, die im Laufe des Weltkrieges dann auch wirklich praktisch-militärisch auf der Seite Englands traten u. nun im Verein mit ihm eine Art militärischer Majorität zu spielen versuchten (s. Beilage!). — — Sigurd Ibsen weist darauf hin, daß in Norwegen nur eigentlich die Händlerkreise für England eingenommen sind! 2 Bedenkt man nun, daß Norwegen nach außen das Gepräge eines vollkommen Entente-freundlichen Staates zeigt, daß es kürzlich sogar schon aus seiner Neutralität zugunsten Englands schon herausgetreten ist, so hat man wieder den Beweis, wie der Staat immer u. überall sich nur mit dem Kaufmanne deckt u. in seinem Antlitz noch lange keine Spur von Zügen der Kunst, Wissenschaft oder sonstiger Berufe trägt (s. Beilage!). — — Kaufmann: Behauptet , auf hohen Gewinn nur wegen des „Risiko“ ausgeben zu müssen! Im Augenblicke aber, da ihm ein Verlust droht, weiß er ihn dennoch auf die andern zu überwälzen, so daß man sich fragen muß, weshalb er sich denn vorher unter dem Titel von Risiko so viel Vorschuss durch den Umsatz hat geben lassen. — — Wie in Kriegszeiten heute der Greisler [sic], so u. nicht anders die Reichen im Frieden: – derselbe Stamm, dieselbe Frucht, bei ihnen allen derselbe Tonfall, mit dem einzigen Unterschied, daß der bereits im Frieden Reichgewordene den Anspruch erhebt, daß man seinen Tonfall respektiere u. annehme. Grotesk wirkt es daher, wenn der Greisler von gestern sich über die Haltung des Greislers von heute beleidigt fühlt. Sie sind alle eben Greisler, auch die Großindustriellen, Agrarier usf. — Gegen ½12h erscheinen die städtischen Arbeiter mit dem Gasmesser. Die Arbeit ist umständlicher, als ich erwartet habe. Zu allem Ueberfluß hat sich der Maurer des Idiotismus schuldig gemacht, den Gaswechsel zuzumauern, so daß dieser neuerdings bloßgelegt werden mußte, damit Gas in das Rohr eingeleitet werden konnte. Nachmittags kam ich wie zufällig dazu, den Ofen in Bewegung zu setzen. Ich forderte zunächst die {485} Hausbesorgerin auf, den Ofen anzuzünden u. sie nahm den Auftrag an, ganz so, als hätte sie schon früher mit einem solchen Ofen hantiert; doch später zeigte sich, daß sie nicht einmal wußte, wo das Zündholz anzulegen sei. Nun hielt half ich selbst mit u. kam so auf den richtigen Weg! — — Cernavoda genommen! Rumäniens Schicksal offenbar ganz besiegelt! 3 — — Kaufmann: (Floriz erzählt eine Anekdote, die er von seinem Vater gehört hat): In einem Tiroler Gasthof soll einmal der Wirt einen ungewöhnlichen Preis für Tiroler Knödel gefordert haben. Darüber zur Rede gestellt, rechnete er vor: Mehl so u. so viel, Eier so u. so viel … u. der Tiroler Knödel! Eine treffender Beleg für die Methode für die u. Praxis des Kaufmannes, der sein Kapital ebenfalls ähnlich doppelt einrechnet, einmal als Kapital u. das zweitemal in der Leistung! *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 25, 1916. 5°, warmer than yesterday.
— Lie-Liechen unfortunately unwell; she stays home even over lunch. I hope that an additional day of rest will nip the little virus in the bud. — — Grey delivers another speech, in which he recalls all criminal acts of which Germany is supposed to be guilty; 1 but in the point of departure, the encirclement, and all the shabby maneuvers in English diplomacy, he is incapable of remembering anything at all. As common as such experience may be, it nevertheless works on such a vast scale and in light of such immensely tragic events like the revelation of an entirely new side of the human psyche. Were one not to read this with one's own eyes, one would hardly believe that a person – and even a diplomat, and what's more an Englishman – finds the possibility of completely banishing from his own conscience his own responsibility at the beginning of all causes, the primal cause, and in presenting the events begins only where the others, put on the defensive, made responses which he now represents as the actual faults. Yet whether it occurs in a large or small format, in everyday life or during a world war, a person will never tear this ugly ruse from his soul, having once used it, as often as he has been exposed in a dubious intention or act. {484} Mr. Grey is, moreover, so indolent to charge Germany of this, because he did not wish to be strangled at a conference by the majority of all those cronies who then went over to England's side even in a truly practical-military way, and who are now tempted to play a kind of military majority with her (see supplement!). — — Sigurd Ibsen suggests that in Norway only the business circles are actually in favor of England! 2 But if one considers that Norway appears to show the character of a state that is completely friendly with the Entente, that it recently relinquished its neutrality in favor of England, one has further proof of how the state always and everywhere is congruent with the businessman and no longer bears any signs of the features of art, science or other professions in its countenance (see supplement!). — — Businessman: he maintains that he must count on a high profit only on account of "risk"! At the moment, however, when he is threatened with loss, he is still able to unload it on others, so that one must ask why he had to make such a big deal through his turnover under the rubric of "risk". — — Today the shop owners in time of war; and no differently the rich in peacetime: – the same stem, the same fruit, with all of them the same tone of voice – with the single exception that those who have grown rich in peacetime assert the claim that their tone of voice should be respected and embraced. The effect is thus grotesque if a grocer from yesterday feels insulted by the behavior of a grocer of today. They are all nothing but grocers, even the industrialists and agrarians, and so on. — Towards 11:30, the municipal workmen appear with the gas meter. The work is more elaborate than I had expected. On top of everything, the mason was stupid enough to have sealed off the gas exchange pipe, so that this had to be unblocked again so that gas could be let into the pipe. In the afternoon I happened by chance to light the oven. {485} I first asked the caretaker to light the oven, and she accepted the assignment as if she already had experience with such an oven; but later turned out that she did not know at all where to place the match. So I assisted her and thus found the right way to do it! — — Cernavoda taken! Romania's fate apparently fully sealed! 3 — — Businessman (Floriz tells a story that he had heard from his father): at a restaurant in the Tyrol, the innkeeper once demanded an outrageous price for Tyrolean dumplings. When asked to explain it, he calculated as follows: flour costs so much, eggs cost so much, … and the Tyrolean dumplings themselves! A trenchant proof of the methods and practices of a businessman, who similarly counts his capital twice, once as capital and the second time in the product! *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 "Eine Rede Greys über den Frieden," Neue Freie Presse, No. 18743, October 25, 1916, morning edition, pp. 2-3. 2 "Die Stimmung in Norwegen. Aeußerungen des früheren Ministers Sigurd Ibsen," Neues Wiener Tagblatt, No. 296, October 25, 1916, 50th year, p. 12. 3 "Die Eroberung von Cernavoda. Einer der wichtigsten Erfolge im Kriege," Neue Freie Presse, No. 18744, October 26, 1916, morning edition, p. 1. |