6. XII. 16 +5°, warm, nebelig!
— An Fl. (pn. K.OJ 8/3, [17]): ersuche ihn um ein Rendezvous, womöglich am Freitag, um mir einige „Nein-Typs [sic]“ für die Kultusgemeinde zu holen. — — Von Fr. Pairamall (Br.): Absage wegen angeblicher Bronchitis. — „ Liebes„markt“ – daß es so ein Wort überhaupt nur gibt, spricht der Liebe die Liebe ab! — Im „Berl. Tgbl.“ 5. [recte 4.] XII. 16: Hochdorf über Verhaeren: 1 Setzt sich herunter, den französisch-belgischen Dünkel .Verh’s, wie er ihn V. schon lange vor Kriegsausbruch u. gar so überaus drastisch während des Krieges äußerte, blos als „Tragödie des Geistes“ statt als Büberei des Ungeistes zu erklären. — — Die Reichen: Aehnlich wie sie ihren Betrug für keinen gehalten haben wollen, glauben {527} sie Bordellusançen, nur weil sie sich ihrer bedienen, zu Gesellschaftsusançen hinaufdestillieren zu können. Da raffen die sogenannten Damen der Gesellschaft die ohnehin schon so kurz geratenen Röcke so hoch, wie es die käuflichen Mädchen in den Lusthäusern zu tun pflegen, meinen aber, daß dieselbe Sache, blos wenn weil sie sie machen, aufhört dieselbe zu sein. — An Dahms (Br.); daraus: Der betrübende Kulturzustand in Berlin an sich noch nicht entscheidend; nur darauf kommt es an, ob die Nation die Einzelnen, die Genies, hervorzubringen in der Lage sein wird. Unter Genie verstehe ich die Fähigkeit, eine Idee mit allen ihren Ausstrahlungen etwa so zum Ausdruck zu bringen, wie Samen u. Eizelle, allerdings ohne Zutun des Menschen, in der Wunderwerkstatt der Natur den komplizierten u. doch so einheitlichen Organismus des Menschen hervorbring ten. Kennzeichen der Genies Fähigkeit zur Summierung alles dessen, was vorausgegangen ist. Göttliche Sachwerdung – der Vorstellung u. dem Worte nach Allgegenwart Gottes in den Dingen. Gegensatz: Romantiker, der, mit sich beginnend u. schließend, in eben diesem circulus vitiosus die Majestät der Sache verletzt. Aneignung des Vorangegangenen gleichsam eine Seelenwanderung durch die Seelen der vorausgegangenen Genies. Augenblicklich in Deutschland nur Zerstörungskräfte sichtbar: Klassizismus als Schule der Summen bestritten; im Kontrapunkt setzt man knapp unmittelbar vor den Kompositionen selbst ein. Dagegen viel Gequatsch[e] vom „Fortschritt“! Wie in spiritistischen Kreisen Tischlein gerückt werden, so spielen alle mit das Fortschrittstischlein-rücken – nur Brahms nahm das Wort nie in den Mund … Auf Möllendorf übergehend: Wenn es Brahms nicht getan hat, dann …. Es ist genug des Zurück, wenn man hinter dem Genie zurückbleibt, will man da noch weiter zurück in eine Epoche, wo es überhaupt noch keine Genies gab, keine geben konnte? – Tonkünstlerverein habe ich immer gemieden, da mich der Anblick der Kunstgenossen sehr gejammert hat, denen ich gerne helfen möchte, wegen mißlicher Verhältnisse aber nicht helfen kann; am besten wie ich es treibe: II2! — {528} „Das Leben hinaufklimmen, nicht hinabgleiten“ wie (nach Hochdorf ) Verhaeren wünscht, kann nur auf der Basis der klassizistischen Schule gelingen! — — Für die Erkenntnis der geschaffenen Schaffensgesetze ist die Methode der Romantiker, mit sich zu beginnen, ganz unzulänglich –, mit bloßer Stimmung kann man an sie nicht heran. Daher das Minus der Romantiker. Die gegenwärtigen Reformbestrebungen, die die humanistische Basis ausschalten wollen, äußerst schädlich. — — Von Zuckerkandl (Fldpostk.): Sehnsucht nach Geistigem. — © Transcription Marko Deisinger. |
December 6, 1916. +5°, warm, foggy!
— Pneumatic postcardOJ 8/3, [17] to Floriz: I request a rendezvous with him, on Friday if possible, to obtain a few tips on how to say "no" to the Jewish community. — — Letter from Mrs. Pairamall: cancellation, apparently on account of bronchitis. — Love "Market" – that such a word even exists is a sign that love denies its own existence! — In the Berliner Tageblatt of December 5 [recte 4], 1916: Hochdorf on Verhaeren: 1 he reduces himself to describe Verhaeren's Franco-Belgian arrogance, of which he spoke long before the outbreak of war and with such forthrightness during the war, merely as a "tragedy of the spirit" instead of as the knavery of the demonic. — — The rich: just as they do not wish to have their deceit to be taken for what it is, {527} they believe that they can purify their brothel practices – only because they make use of these – as societal practices. Thus the so-called ladies of society wear their skirts, which are at any rate already so short, as high as the girls for sale in the pleasure houses are accustomed to doing; but they say that the same thing, merely because it is they who do it, is no longer the same thing. — Letter to Dahms, including the following: the distressing cultural situation in Berlin is in itself not yet crucial; it is just a question of whether the nation will be in a position to produce the geniuses. By genius, I mean the ability to express an idea in all its radiance, in the way that seeds and egg cells – at any rate without human intervention – bring forth the complicated and yet so unified human organism in the marvelous workshop of nature. The mark of geniuses is the ability to sum up all that has gone before. Divine reification – by the representation and the word, the omnipresence of God in things. The opposite: the Romantic who, beginning and ending with himself, damages the majesty of the thing in precisely this vicious circle. Appropriation of what has gone before is like a soul's journey through the souls of preceding geniuses. At the moment, only the powers of destruction are visible in Germany: classicism as the school of syntheses contested; in counterpoint, one places oneself immediately before the compositions themselves. On the other hand, a great deal of gibberish about "progress"! As small tables are shifted in spiritualist, everyone is playing with the table-shifting of progress – Brahms alone never used the word. … Passing over Möllendorf: if Brahms hadn't done it, then … . It is going backwards enough for one to remain behind a genius; do we want to go still further back, to a time when there were yet no geniuses at all, and never could be? – The Tonkünstler-Verein I always avoided, for the sight of fellow artists moved me to great pity: I would have gladly helped them but cannot, on account of awkward circumstances; the best I can do is: Counterpoint 2 ! — {528} "To climb up life, not to slide down it," as Verhaeren wishes (according to Hochdorf), can succeed only on the basis of the classicist school! — — For an understanding of the laws of creativity, the Romantic's method, to begin with oneself, is entirely unsatisfactory: one cannot proceed with a mere sentiment. Thus the negative of the Romantics. The current efforts at reform, which seek to eliminate the humanistic foundation, are extremely harmful. — — Field postcard from Zuckerkandl: yearning for the spiritual. — © Translation William Drabkin. |
6. XII. 16 +5°, warm, nebelig!
— An Fl. (pn. K.OJ 8/3, [17]): ersuche ihn um ein Rendezvous, womöglich am Freitag, um mir einige „Nein-Typs [sic]“ für die Kultusgemeinde zu holen. — — Von Fr. Pairamall (Br.): Absage wegen angeblicher Bronchitis. — „ Liebes„markt“ – daß es so ein Wort überhaupt nur gibt, spricht der Liebe die Liebe ab! — Im „Berl. Tgbl.“ 5. [recte 4.] XII. 16: Hochdorf über Verhaeren: 1 Setzt sich herunter, den französisch-belgischen Dünkel .Verh’s, wie er ihn V. schon lange vor Kriegsausbruch u. gar so überaus drastisch während des Krieges äußerte, blos als „Tragödie des Geistes“ statt als Büberei des Ungeistes zu erklären. — — Die Reichen: Aehnlich wie sie ihren Betrug für keinen gehalten haben wollen, glauben {527} sie Bordellusançen, nur weil sie sich ihrer bedienen, zu Gesellschaftsusançen hinaufdestillieren zu können. Da raffen die sogenannten Damen der Gesellschaft die ohnehin schon so kurz geratenen Röcke so hoch, wie es die käuflichen Mädchen in den Lusthäusern zu tun pflegen, meinen aber, daß dieselbe Sache, blos wenn weil sie sie machen, aufhört dieselbe zu sein. — An Dahms (Br.); daraus: Der betrübende Kulturzustand in Berlin an sich noch nicht entscheidend; nur darauf kommt es an, ob die Nation die Einzelnen, die Genies, hervorzubringen in der Lage sein wird. Unter Genie verstehe ich die Fähigkeit, eine Idee mit allen ihren Ausstrahlungen etwa so zum Ausdruck zu bringen, wie Samen u. Eizelle, allerdings ohne Zutun des Menschen, in der Wunderwerkstatt der Natur den komplizierten u. doch so einheitlichen Organismus des Menschen hervorbring ten. Kennzeichen der Genies Fähigkeit zur Summierung alles dessen, was vorausgegangen ist. Göttliche Sachwerdung – der Vorstellung u. dem Worte nach Allgegenwart Gottes in den Dingen. Gegensatz: Romantiker, der, mit sich beginnend u. schließend, in eben diesem circulus vitiosus die Majestät der Sache verletzt. Aneignung des Vorangegangenen gleichsam eine Seelenwanderung durch die Seelen der vorausgegangenen Genies. Augenblicklich in Deutschland nur Zerstörungskräfte sichtbar: Klassizismus als Schule der Summen bestritten; im Kontrapunkt setzt man knapp unmittelbar vor den Kompositionen selbst ein. Dagegen viel Gequatsch[e] vom „Fortschritt“! Wie in spiritistischen Kreisen Tischlein gerückt werden, so spielen alle mit das Fortschrittstischlein-rücken – nur Brahms nahm das Wort nie in den Mund … Auf Möllendorf übergehend: Wenn es Brahms nicht getan hat, dann …. Es ist genug des Zurück, wenn man hinter dem Genie zurückbleibt, will man da noch weiter zurück in eine Epoche, wo es überhaupt noch keine Genies gab, keine geben konnte? – Tonkünstlerverein habe ich immer gemieden, da mich der Anblick der Kunstgenossen sehr gejammert hat, denen ich gerne helfen möchte, wegen mißlicher Verhältnisse aber nicht helfen kann; am besten wie ich es treibe: II2! — {528} „Das Leben hinaufklimmen, nicht hinabgleiten“ wie (nach Hochdorf ) Verhaeren wünscht, kann nur auf der Basis der klassizistischen Schule gelingen! — — Für die Erkenntnis der geschaffenen Schaffensgesetze ist die Methode der Romantiker, mit sich zu beginnen, ganz unzulänglich –, mit bloßer Stimmung kann man an sie nicht heran. Daher das Minus der Romantiker. Die gegenwärtigen Reformbestrebungen, die die humanistische Basis ausschalten wollen, äußerst schädlich. — — Von Zuckerkandl (Fldpostk.): Sehnsucht nach Geistigem. — © Transcription Marko Deisinger. |
December 6, 1916. +5°, warm, foggy!
— Pneumatic postcardOJ 8/3, [17] to Floriz: I request a rendezvous with him, on Friday if possible, to obtain a few tips on how to say "no" to the Jewish community. — — Letter from Mrs. Pairamall: cancellation, apparently on account of bronchitis. — Love "Market" – that such a word even exists is a sign that love denies its own existence! — In the Berliner Tageblatt of December 5 [recte 4], 1916: Hochdorf on Verhaeren: 1 he reduces himself to describe Verhaeren's Franco-Belgian arrogance, of which he spoke long before the outbreak of war and with such forthrightness during the war, merely as a "tragedy of the spirit" instead of as the knavery of the demonic. — — The rich: just as they do not wish to have their deceit to be taken for what it is, {527} they believe that they can purify their brothel practices – only because they make use of these – as societal practices. Thus the so-called ladies of society wear their skirts, which are at any rate already so short, as high as the girls for sale in the pleasure houses are accustomed to doing; but they say that the same thing, merely because it is they who do it, is no longer the same thing. — Letter to Dahms, including the following: the distressing cultural situation in Berlin is in itself not yet crucial; it is just a question of whether the nation will be in a position to produce the geniuses. By genius, I mean the ability to express an idea in all its radiance, in the way that seeds and egg cells – at any rate without human intervention – bring forth the complicated and yet so unified human organism in the marvelous workshop of nature. The mark of geniuses is the ability to sum up all that has gone before. Divine reification – by the representation and the word, the omnipresence of God in things. The opposite: the Romantic who, beginning and ending with himself, damages the majesty of the thing in precisely this vicious circle. Appropriation of what has gone before is like a soul's journey through the souls of preceding geniuses. At the moment, only the powers of destruction are visible in Germany: classicism as the school of syntheses contested; in counterpoint, one places oneself immediately before the compositions themselves. On the other hand, a great deal of gibberish about "progress"! As small tables are shifted in spiritualist, everyone is playing with the table-shifting of progress – Brahms alone never used the word. … Passing over Möllendorf: if Brahms hadn't done it, then … . It is going backwards enough for one to remain behind a genius; do we want to go still further back, to a time when there were yet no geniuses at all, and never could be? – The Tonkünstler-Verein I always avoided, for the sight of fellow artists moved me to great pity: I would have gladly helped them but cannot, on account of awkward circumstances; the best I can do is: Counterpoint 2 ! — {528} "To climb up life, not to slide down it," as Verhaeren wishes (according to Hochdorf), can succeed only on the basis of the classicist school! — — For an understanding of the laws of creativity, the Romantic's method, to begin with oneself, is entirely unsatisfactory: one cannot proceed with a mere sentiment. Thus the negative of the Romantics. The current efforts at reform, which seek to eliminate the humanistic foundation, are extremely harmful. — — Field postcard from Zuckerkandl: yearning for the spiritual. — © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Max Hochdorf, "Erinnerung an Verhaeren," Berliner Tageblatt, No. 621, 45th year, December 4, 1916, evening edition, pp. [2-3]. |