24. XII. 16
Von Sophie (K.): aus M. Schönberg (mit Verspätung eingetroffen): macht die Situation um vieles klarer u. auch heller. Sophie selbst gibt im Laufe des Vormittags ein Packet [sic] mit Butter u. Gugelhupf bei meiner Hausbesorgerin ab. — Pn. Antwort an Sophie per Adresse Dr. Alter: kündige an, daß wir sie sicherheitshalber bei Dr. Alter gegen 4h abholen, eventuell aber von ½6h ab bei uns zuhause erwarten wollen. — — Die Jüdin, in deren Geschäft Lie-Liechen Trockenmilch einkaufen wollte, warnt davor[,] da die Milch ranzig sei; mit eigenen Augen aber sah Lie-Liechen, wie die Jüdin trotzdem einer armen Frau ½ kg Milch für 6 Kronen verkaufte! Welche Gewissenslosigkeit. — — Kriegskonjunktur: Schließlich will auch der Künstler leben, so gut wie der Kaufmann. Kommt nun Krieg ins Land, so leitet der Kaufmann aus einem Recht auf Leben sofort auch das Recht auf Wucher ab, wobei er die Kriegskonjunktur einfach nur als Geschäftskonjunktur wie jede andere hinstellt, während der Künstler angehalten wird, vor allem die anderen leben zu lassen, sich allen Wohltätigkeitsaktionen zur Verfügung zu stellen, dadurch den Geldbesitzenden Auslagen zu ersparen u. sein eigenes Leben dabei preiszugeben. Wie verschieden also aus Anlass derselben Konjunktur Gesinnung u. Tat des Kaufmanns u. des Künstlers! *{550} — Kaufmann: Belegt in Kriegszeiten jede die Ware mit Beschlag in demselben Augenblick, in welchem sie in die Reihe der ganz unentbehrlichen rückt. Genau nach Banditenart erklärt er unter sträflicher Mitwirkung der Behörden: Geld oder Leben! Nun, die Reichen geben ihr Geld für die Ware hin, die Armen geben Geld u. Leben, ohne aber die Ware je zu sehen. — — Der Kaufmann – auch ohne Trust eigentlich immer vertrustet! Man sehe nur, wie sie auch ohne jegliche Uebereinkunft die Preise fast zur selben Stunde in verschiedenen Bezirken, Straßen, Gassen u. Lokalen zwar verschiedenartig heraufsetzen, aber unter allen Umständen im Heraufsetzen einmütig sind. Leider ist solche Einmütigkeit nicht auch den Künstlern gegönnt gegeben u. dies liegt wieder nur an der Kunst selbst, die von den Reichen eben weniger begehrt wird. Im Wettbewerb um das Geld ist der sind die Künstler leider nur zu oft genötigt einen anderen einander auch zu unterbieten u. da nun der Reiche über sein allgemeines Nichtbedürfen der Kunst hinaus nun auch im Einzelfall des Künstlers sicher nicht bedarf, so bescheidet er sich auch mit dem Unterbietenden, ohne sich irgend eines den Unterschiedes [recte Unterschied] bewußt zu werden machen oder auch nur bewußt werden machen zu können wollen. — Schlagende – erschlagende Argumente. — Am Blockadescheiterhaufen geschmorte Menschenleiber. — Ein Jahrzehnt strengster Gefängnispolitik wider die Kaufleute als Verbrecher würde die Welt viel rascher zum Ziele führen, als alle sonstige Handelspolitik. — Frau Milly Mendl fragte mich einmal im Caféhaus, als ich ihr gegenüber eine Wendung gebrauchte, die ihr gefiel: „Haben Sie das für mich jetzt gemacht?“ Alle Niedertracht des Reichtums liegt in dieser Frage beschlossen! — 4h bei Dr. Alter. Sophie begegnet uns auf der Treppe u. so ergibt sich, daß wir ins Haus treten müssen. Eine zahlreiche Familie, über die ich die längste Zeit im Unklaren verbleibe; nur die Tochter der Betty konnte ich sofort als Teil der Familie wiedererkennen, da sie mich zu leibhaftig an die ihre Mutter erinnert. Auch glaube ich wohl zum erstenmale im Leben dem Kinde einer Person begegnet zu sein, das [recte die] meiner Generation angehörend mit mir selbst Kindheit u. Pubertätstage durchlaufen hat, {551} aber vorzeitig aus dem Leben geschieden ist. Wie, in Erinnerung des bald auch für sie eintreffenden Todes, besonders alte Leute durch den Abgang eines Menschen ihres Jahrgangs schwer betroffen werden, so berührte mich angesichts der Tochter Bettys ganz sonderbar das Gefühl, daß eine Person meiner Generation schon abgeschieden ist. Ueber Einladung Dr. Alters verblieben wir dort auch zum Abendessen, was ich sowohl der Sophie zuliebe tat, als auch um das eigene Wohlgefühl abzureagieren, das über mich kam, als ich den Schwager [illeg]gut ausehend [sic] gefunden, somit mich unmittelbarer Sorgen mich wieder frei fühlen konnte durfte. Auch gab ich einige Stücke auf dem Pianino zum Besten. — © Transcription Marko Deisinger. |
December 24, 1916.
Postcard from Sophie from Mährisch Schönberg (arrived late): it makes the situation much clearer, and also brighter. Sophie will herself drop off a package with butter and a Gugelhupf with the caretaker in the course of the morning. — Reply to Sophie by pneumatic mail, at Dr. Alter's address: I inform her that, to be on the safe side, we will collect her towards 4 o'clock at Dr. Alter's; but we would also be able to wait for her from 5:30 onwards at our place. — — The Jewish woman, in whose shop Lie-Liechen wanted to buy powdered milk, warns her that the milk is rancid; with her own eyes, however, Lie-Liechen saw how she nonetheless sold a poor woman half a kilogram of milk for 6 Kronen! What unscrupulousness. — — Wartime business matters: in the end, even the artist wants to live as well as the businessman. If his country is at war, then the businessman immediately derives from his right to life a right to profiteer, whereby he simply treats a wartime business matter as any other; but the artist is urged to let others live their lives, to place himself at the disposal of all charitable actions, thus sparing those in possession of money having to spend it and sacrificing his own life. How different, then, in the light of the same business matter, are the thoughts and deeds of the businessman and the artist! *{550} — Businessman: in times of war, he confiscates a product at the very moment in which it becomes completely indispensable. Exactly in the manner of a bandit, with the criminal complicity of the authorities, he cries: ["Your] money or [your] life!["] Now, the rich hand over their money for the product; the poor give their money and their life, but without ever seeing the product. — — The businessman – even without trade agreements he is actually always trusted! Just look at how, even without making any [official] arrangements, they raise the prices in different ways almost at the same time in different districts, streets, alleys and premises, but are unanimous at all times about raising them. Unfortunately, such unanimity is not also granted to artists, and this is again only the result of art itself, which is even less sought by the rich. In competing for money, artists are compelled all too often even to underbid each other; and since the rich man now, despite for sure his generally being able to dispense with art, even in the individual case of the artists, contents himself to be one of the underbidders, without making himself aware of the difference, or even just wanting to do so. — Telling [arguments] – killing arguments. — On the funeral pyre of the blockade, smoldering human bodies. — A decade of the most stringent politics of imprisonment against criminal merchants would lead the world to its goal more quickly than any sort of trade politics. — Mrs. Milly Mendl asked me once in the coffee house, when I used a turn of phrase that pleased her: "Did you just make that up now for me?" In this question is encapsulated all the baseness of wealth! — At 4 o'clock, at Dr. Alter's. Sophie meets us on the steps; and so it happens that we must enter the house. A large family, about whom I remain uncertain for a very long time: I could immediately recognize only Betty's daughter as a part of the family, as her physical appearance reminded me a great deal of her mother. I think, too, that this was the first time in my life that I met the child of someone who belonged to my generation and went through childhood and puberty with me {551} but departed this life at an early age. In remembrance of the death that came early also to her, I thought in particular about how old people are strongly affected by the departure of someone of their age; and so I was especially touched by the feeling, at the sight of Betty's daughter, that a person of my generation had already departed. At Dr. Alter's invitation, we also stayed for supper, which I did not only for Sophie's sake but also to give vent to my own sense of well-being, which came over me when, finding my brother-in-law looking well, I was able again to feel free of immediate worries. I also volunteered a few pieces on the upright piano. — © Translation William Drabkin. |
24. XII. 16
Von Sophie (K.): aus M. Schönberg (mit Verspätung eingetroffen): macht die Situation um vieles klarer u. auch heller. Sophie selbst gibt im Laufe des Vormittags ein Packet [sic] mit Butter u. Gugelhupf bei meiner Hausbesorgerin ab. — Pn. Antwort an Sophie per Adresse Dr. Alter: kündige an, daß wir sie sicherheitshalber bei Dr. Alter gegen 4h abholen, eventuell aber von ½6h ab bei uns zuhause erwarten wollen. — — Die Jüdin, in deren Geschäft Lie-Liechen Trockenmilch einkaufen wollte, warnt davor[,] da die Milch ranzig sei; mit eigenen Augen aber sah Lie-Liechen, wie die Jüdin trotzdem einer armen Frau ½ kg Milch für 6 Kronen verkaufte! Welche Gewissenslosigkeit. — — Kriegskonjunktur: Schließlich will auch der Künstler leben, so gut wie der Kaufmann. Kommt nun Krieg ins Land, so leitet der Kaufmann aus einem Recht auf Leben sofort auch das Recht auf Wucher ab, wobei er die Kriegskonjunktur einfach nur als Geschäftskonjunktur wie jede andere hinstellt, während der Künstler angehalten wird, vor allem die anderen leben zu lassen, sich allen Wohltätigkeitsaktionen zur Verfügung zu stellen, dadurch den Geldbesitzenden Auslagen zu ersparen u. sein eigenes Leben dabei preiszugeben. Wie verschieden also aus Anlass derselben Konjunktur Gesinnung u. Tat des Kaufmanns u. des Künstlers! *{550} — Kaufmann: Belegt in Kriegszeiten jede die Ware mit Beschlag in demselben Augenblick, in welchem sie in die Reihe der ganz unentbehrlichen rückt. Genau nach Banditenart erklärt er unter sträflicher Mitwirkung der Behörden: Geld oder Leben! Nun, die Reichen geben ihr Geld für die Ware hin, die Armen geben Geld u. Leben, ohne aber die Ware je zu sehen. — — Der Kaufmann – auch ohne Trust eigentlich immer vertrustet! Man sehe nur, wie sie auch ohne jegliche Uebereinkunft die Preise fast zur selben Stunde in verschiedenen Bezirken, Straßen, Gassen u. Lokalen zwar verschiedenartig heraufsetzen, aber unter allen Umständen im Heraufsetzen einmütig sind. Leider ist solche Einmütigkeit nicht auch den Künstlern gegönnt gegeben u. dies liegt wieder nur an der Kunst selbst, die von den Reichen eben weniger begehrt wird. Im Wettbewerb um das Geld ist der sind die Künstler leider nur zu oft genötigt einen anderen einander auch zu unterbieten u. da nun der Reiche über sein allgemeines Nichtbedürfen der Kunst hinaus nun auch im Einzelfall des Künstlers sicher nicht bedarf, so bescheidet er sich auch mit dem Unterbietenden, ohne sich irgend eines den Unterschiedes [recte Unterschied] bewußt zu werden machen oder auch nur bewußt werden machen zu können wollen. — Schlagende – erschlagende Argumente. — Am Blockadescheiterhaufen geschmorte Menschenleiber. — Ein Jahrzehnt strengster Gefängnispolitik wider die Kaufleute als Verbrecher würde die Welt viel rascher zum Ziele führen, als alle sonstige Handelspolitik. — Frau Milly Mendl fragte mich einmal im Caféhaus, als ich ihr gegenüber eine Wendung gebrauchte, die ihr gefiel: „Haben Sie das für mich jetzt gemacht?“ Alle Niedertracht des Reichtums liegt in dieser Frage beschlossen! — 4h bei Dr. Alter. Sophie begegnet uns auf der Treppe u. so ergibt sich, daß wir ins Haus treten müssen. Eine zahlreiche Familie, über die ich die längste Zeit im Unklaren verbleibe; nur die Tochter der Betty konnte ich sofort als Teil der Familie wiedererkennen, da sie mich zu leibhaftig an die ihre Mutter erinnert. Auch glaube ich wohl zum erstenmale im Leben dem Kinde einer Person begegnet zu sein, das [recte die] meiner Generation angehörend mit mir selbst Kindheit u. Pubertätstage durchlaufen hat, {551} aber vorzeitig aus dem Leben geschieden ist. Wie, in Erinnerung des bald auch für sie eintreffenden Todes, besonders alte Leute durch den Abgang eines Menschen ihres Jahrgangs schwer betroffen werden, so berührte mich angesichts der Tochter Bettys ganz sonderbar das Gefühl, daß eine Person meiner Generation schon abgeschieden ist. Ueber Einladung Dr. Alters verblieben wir dort auch zum Abendessen, was ich sowohl der Sophie zuliebe tat, als auch um das eigene Wohlgefühl abzureagieren, das über mich kam, als ich den Schwager [illeg]gut ausehend [sic] gefunden, somit mich unmittelbarer Sorgen mich wieder frei fühlen konnte durfte. Auch gab ich einige Stücke auf dem Pianino zum Besten. — © Transcription Marko Deisinger. |
December 24, 1916.
Postcard from Sophie from Mährisch Schönberg (arrived late): it makes the situation much clearer, and also brighter. Sophie will herself drop off a package with butter and a Gugelhupf with the caretaker in the course of the morning. — Reply to Sophie by pneumatic mail, at Dr. Alter's address: I inform her that, to be on the safe side, we will collect her towards 4 o'clock at Dr. Alter's; but we would also be able to wait for her from 5:30 onwards at our place. — — The Jewish woman, in whose shop Lie-Liechen wanted to buy powdered milk, warns her that the milk is rancid; with her own eyes, however, Lie-Liechen saw how she nonetheless sold a poor woman half a kilogram of milk for 6 Kronen! What unscrupulousness. — — Wartime business matters: in the end, even the artist wants to live as well as the businessman. If his country is at war, then the businessman immediately derives from his right to life a right to profiteer, whereby he simply treats a wartime business matter as any other; but the artist is urged to let others live their lives, to place himself at the disposal of all charitable actions, thus sparing those in possession of money having to spend it and sacrificing his own life. How different, then, in the light of the same business matter, are the thoughts and deeds of the businessman and the artist! *{550} — Businessman: in times of war, he confiscates a product at the very moment in which it becomes completely indispensable. Exactly in the manner of a bandit, with the criminal complicity of the authorities, he cries: ["Your] money or [your] life!["] Now, the rich hand over their money for the product; the poor give their money and their life, but without ever seeing the product. — — The businessman – even without trade agreements he is actually always trusted! Just look at how, even without making any [official] arrangements, they raise the prices in different ways almost at the same time in different districts, streets, alleys and premises, but are unanimous at all times about raising them. Unfortunately, such unanimity is not also granted to artists, and this is again only the result of art itself, which is even less sought by the rich. In competing for money, artists are compelled all too often even to underbid each other; and since the rich man now, despite for sure his generally being able to dispense with art, even in the individual case of the artists, contents himself to be one of the underbidders, without making himself aware of the difference, or even just wanting to do so. — Telling [arguments] – killing arguments. — On the funeral pyre of the blockade, smoldering human bodies. — A decade of the most stringent politics of imprisonment against criminal merchants would lead the world to its goal more quickly than any sort of trade politics. — Mrs. Milly Mendl asked me once in the coffee house, when I used a turn of phrase that pleased her: "Did you just make that up now for me?" In this question is encapsulated all the baseness of wealth! — At 4 o'clock, at Dr. Alter's. Sophie meets us on the steps; and so it happens that we must enter the house. A large family, about whom I remain uncertain for a very long time: I could immediately recognize only Betty's daughter as a part of the family, as her physical appearance reminded me a great deal of her mother. I think, too, that this was the first time in my life that I met the child of someone who belonged to my generation and went through childhood and puberty with me {551} but departed this life at an early age. In remembrance of the death that came early also to her, I thought in particular about how old people are strongly affected by the departure of someone of their age; and so I was especially touched by the feeling, at the sight of Betty's daughter, that a person of my generation had already departed. At Dr. Alter's invitation, we also stayed for supper, which I did not only for Sophie's sake but also to give vent to my own sense of well-being, which came over me when, finding my brother-in-law looking well, I was able again to feel free of immediate worries. I also volunteered a few pieces on the upright piano. — © Translation William Drabkin. |