19. V. 19
Weltkrieg als Welt-Eselei! Bloß Hindenburg, Ludendorff Genies, der Rest der Agierenden in tiefster Eselei versunken. Das deutsche Volk allein unter den Völkern macht noch die würdigste Figur in Selbstverteidigung, die – wie der Versailler Friede zeigt – als solche richtig vorgeahnt worden, auch wenn in der Verdrehung deutscher Sozialdemokraten u. Pazifisten der Krieg sich zunächst scheinbar als Angriffskrieg dargestellt hat. – Das Betrübendste also die Katastrophe der Unbildung der Unfähigkeit! Goldscheid im „Morgen“ (19. V. 19): „ . . die moralische Niederlage der Entente“ – Unbildung ist es, wenn dieser Mann England für den Vorkämpfer von Recht u. Freiheit hält, [meint, dass] Frankreich „sein edelstes Blut für die Beseitigung aller Zwangsherrschaft opferte[“], Amerika als Verkünderin der Menschenrechte [betrachtet] u. nun glaubt „ . . alle diese Länder können nicht mit einenmal so im Grunde gewandelt sein“ 1 – darauf die Antwort: England hat die magna charta 2 nur sich gegeben, aber nicht der übrigen Welt. Das ist aber ein gewaltiger Unterschied, sofern jeder aus täglicher Erfahrung weiß, daß nicht selten Menschen, die bei sich zuhause auf Freiheit bestehen, außer Hause Tyrannei üben – ein echt menschlicher Zug; – es ist dem Engländer niemals eingefallen – Beweis: die ganze englische Geschichte, die stets nur auf Plünderung, Kaperung, Mord, Diebstahl, Bestechung gestellt war u. ist, immer unter dem Vorbehalt der eigenen Freiheit zuhause. – Frankreich wieder hat mit der Guillotine, einer echt französischen Erfindung, eine echt französische Schweinerei, die erbärmlichsten Könige der Welt zu beseitigen gehabt u. auch beseitigt, – doch was hat diese häusliche Schweinerei zu tun mit dem übrigen Europa, mit der übrigen Welt, der sie so wenig Freiheit geschenkt hat, als sie selbst sie noch bis zur Stunde besitzen. Amerika hat Menschenrechte wieder nur für sich verkündet, dagegen mit {199} Brutalität andere Staaten überfallen u. beraubt, siehe heute Wilson. — Es mehren sich Eingeständnisse u. reuige Bekenntnisse, so z. B. der „Morgen“: „ . . der schmerzlichste Zusammenbruch . . dann haben die Militaristen, die Kriegshetzer, die Alldeutschen Recht gehabt, die Vorkämpfer des Friedensgedankens, des Versöhnungswillen, der Kulturgemeinschaft, die Verhöhnten, die Zerschmetterten!“ 3 — Aehnlich bereits auch in der „Frankf. Ztg.“ u. im „Berl. Tagbl.“! — Entkräftung des englischen Vorwurfes, daß Deutschland keinen Gambetta habe – gut besorgt es die „N. Fr. Pr.“: „ . . Frankreich wurde jedoch nicht durch ein von den Feinden genehmigtes Uebereinkommen in den Waffenstillstand hineingelockt, durch den es[,] vertrauend auf Wort u. Unterschrift, abrüstete u. das Heer entließ; die Verwandlung der 14 Punkte in einen Fetzen Papier ist eine Errungenschaft der Menschenkultur im Zeitalter des neuen Völkerbunds, der mit einem Sonderbündnis zwischen Amerika, England u. Frankreich beginnt[“] 4 (wie gesagt: Eselei u. Unfähigkeit!). — Wilson angeblich bereit, die Entscheidung über Bozen u. Meran zu überprüfen! 5 Ist die Meldung richtig, so bestätigt sie nur, daß W. bei der Entscheidung zugegen war u. daß er (Eselei!) nicht gründlich – wie er selbst zugibt – die Frage geprüft hat. — Französische Freiheit „ . . noch immer der Friedenvertrag in Frankreich nicht veröffentlicht, auch der Presse u. der Kammer nicht genauer bekannt“ 6 Demokratie!! [–] „Verschleierung der Meinung Deutschlands in der Pariser Presse“! 7 — „Arb. Ztg.“: „Der Vorstoß in Indien“ 8 „Wirtschaft der Engländer in Köln“. 9 — „W. Allg. Ztg.“ Angebliche Unzuverlässigkeit der englischen Truppen. 10 — Mainz muß bei Fochs Inspizierungsreise illuminieren, in Wiesbaden feierlicher Einzug 11 – hiezu Jean Paul: Die drei Gallischen Lügen . .! — Die spezielle Eselei in Deutschland: die völlige Verkennung der nationalen Verschiedenheit – bis zur Stunde, trotz Enttäuschungen, falsche Hoffnungen auf „die Völker“ – noch immer wollen die Deutschen nicht glau- {200} ben, daß die Völker als solche, trotz Einzelindividuen, eine feste unabänderliche Prägung haben. Alle unsere großen Dichter u. Denker haben die nationale Verschiedenheit erkannt, nur die Masse sündigte in diesem Punkt u. führt sich selbst ins Verderben. Unverbesserlich z. B.: „Der Bund der geistig Tätigen“ an Barbusse (W. Allg. Ztg.). 12 — Volk: Erkennungszeichen im Heere abgeschafft u. nun genötigt, sie wieder einzuführen! s. W. Allg. Ztg.: Telegramm aus Budapest! 13 — Vielleicht am ehesten Niedergang der Kultur zu definieren als die Lockerung aller Autorität zugunsten der Einzelindividuen, in der Hoffnung das Individuum würde sich selbst genügend Autorität sein können oder eine solche entbehren können. Durch all den französischen, amerikanischen, englischen Hokuspokus, der dort in jenen Ländern in der tiefen Unbildung der Bevölkerung seine besondere Ursache hat, wurde auf die Menschheit als Ganzes so lange losgehämmert, bis sie wirklich das Unterste zu oberst zu fühlen glauben das Recht zu haben – u. da, im Größenwahn des Kleinsten – liegt der eigentliche Krankheitserreger der beiden letzten Jahrzehnte. Der Widerspruch gegen die Natur rächt sich u. kann nur behoben werden durch die Sch schmetternde Aufrichtung einer Autorität, was aber heute unendlich dadurch erschwert wurde, daß die Massen des Widerstandes immer breiter geworden sind. Die Welt zu den Imperativen der Autoritäten als abstrakte Forderungen zu führen[,] wäre eine Aufgabe, die die Gestalt eines Moses erforderte, der in einer seither nicht wieder beobachteten Weise die Idee abstrakter Gottheit dem Hebräervolk bei jeder Gelegenheit unablässig predigte u. aufzwang, bis das Volk sie endlich aufzunehmen wußte. — Speziell zur Kunst! Auffallende Absage an die sogenannte moderne Musik öfter anzutreffen, nur gemäß der Welteselei schlägt der eine vor: Rückkehr zum gregorianischen Choral, der andere Rückkehr zu Mozart, der dritte Rückkehr zur Melodik – wobei er seine eigene oder die seines Sohnes meint usw.{201} Aufflösung Auf die Lösung des Problems, daß dem Kleinsten das Recht auf Meinung bestritten werden muß, verfällt niemand, so sehr ist der Ungebildete von heute vernarrt in seine Kleinheit, die sich selbst noch unverständlich ist. Fordern, daß man sie verstehen möge u. sich solange Mühe gebe, bis man sie versteht (s. „Sonn- u. Montagsztg.“ Artikel von Jehudo Epstein) 14 u. wieder verfällt niemand auf die Idee, den betreffenden Kleinsten zu fragen, ob denn die Voraussetzungen, von denen er offenbar ausgeht, zutreffen: ob er wirklich richtig u. gut gedacht u. geschaffen habe oder nicht. Ein Schlechtes zu verstehen, müßte doch ein Gutdenkender als Beleidigung empfinden u. aus Instinkt müßte daher letzterer die Forderung aufstellen, die Kleinen mögen zuerst mit sich ins Reine kommen, ehe sie Forderungen an die andern stellen. — Das Fiasko Strauss’ in Wien schon bei der ersten Aufführung von „Fidelio“ feststellbar, – wieder aber weiß niemand zu deuten, woran die Fehler der Reproduktion liegen, so tief ist alle Fähigkeit zu denken in der Menschheit abhanden gekommen. Man sehe dagegen bei den alten Autoren den Ausdruck überwältigender umfassender Bildung! —© Transcription Marko Deisinger. |
May 19, 1919.
World war as world folly! Only Hindenburg and Ludendorff are geniuses, the rest of the players sunken in the deepest folly. The German people alone among peoples cut the most dignified figure in self-defense which, as the Versailles peace shows, was correctly predicted – even if, by the perversion of German social democrats and pacifists, the war initially seemed to present itself as a war of aggression. – The most disconcerting thing is thus the catastrophe of ignorance, of incapacity! Goldscheid in Der Morgen (May 19, 1919): "the moral defeat of the Entente" – It can only be called ignorance if this man regards England as the champion of justice and freedom; thinks that France "sacrificed its noblest blood to eliminate all tyranny"; [considers] America as the herald of human rights; and now believes that "all these nations could not all of a sudden have been so thoroughly transformed" 1 – this in reply: England gave only itself the Magna Carta, 2 not the rest of the world. That is, however, a huge difference, insofar as everyone knows from everyday experience that people quite often insist upon freedom at home but practice tyranny abroad – a genuinely human trait, which has never occurred to the English. The proof: the whole of English history, which was and still is based only on plundering, extortion, murder, theft, and bribery – always with the caveat of his own freedom at home. – With the guillotine, a genuine French invention and a genuine French disgrace, France for its part has eliminated and continues to eliminate the most pitiful kings of the world – but what does this domestic disgrace have to do with the rest of Europe, with the rest of the world, to which it has given so little freedom as it has itself possessed until this hour? America has proclaimed human rights, again, only for itself; but it has, on the other hand, brutally conquered and robbed other states; {199} look at Wilson today. — Admissions and rueful confessions multiply, thus for example in Der Morgen , "The Painful Break-Up": "[If the Peace of Versailles, as it currently appears on paper, becomes a fact,] then the champions of concept of peace, reconciliation and cultural community will be the despised and crushed ones. Then the militarists, the warmongers and the Pan-Germans will be right"! 3 — Similarly also in the Frankfurter Zeitung and in the Berliner Tageblatt ! — Rebuttal of the English criticism that Germany did not have a Gambetta – the Neue freie Presse deals well with this: "France was, however, not lured into the ceasefire by an agreement sanctioned by its enemies by which it disarmed and dismissed its army on the basis of faith in words and signatures. The transformation of the 14 Points into a scrap of paper is a product of human culture in the age of the new League of Nations, which begins with a special alliance between America, England and France" 4 (as said: folly and incompetence!). — Wilson apparently prepared to review the decision about Bozen and Meran! 5 If the report is true, then it merely confirms that Wilson was against the decision and that he (folly!) had not studied the matter thoroughly – as he himself admits. — French freedom: "… the peace treaty has still not been published in France, and its details not known by the press or the Chamber of Deputies": 6 democracy!! [–] "Concealment of Germany's Opinions in the Paris Press"! 7 — Arbeiter-Zeitung : "The Foray into India" 8 ; "The Englishmen's Commerce in Cologne." 9 — Wiener Allgemeine Zeitung : apparent untrustworthiness of the English troops. 10 — Mainz must light up on the occasion of Foch's voyage of inspiration; in Wiesbaden, a ceremonious entry 11 – in this respect, Jean Paul's "The Three Gallic Lies …"! — The particular folly in Germany: the complete lack of recognition of national difference – to this moment, in spite of disappointments, false hope in "the people"; as always, the Germans do not wish to believe that {200} the people as such, in spite of individual examples, have a firm, immutable character. All our great poets and thinkers have recognized our national difference; only the masses sinned in this respect, and they lead themselves to ruin. Incorrigible, for example, "The League of the Intellectually Active" to Barbusse (Wiener Allgemeine Zeitung). 12 — People: their distinctive marks disposed of in the army, and now in need of reintroducing them! See the telegram from Budapest in the Wiener Allgemeine Zeitung! 13 — Perhaps the decline of culture is best defined as the loosening of all authority for the benefit of individual persons, in the hope that the individual could himself be sufficient authority, or do without such a thing. As a result of all the French, American, and English hocus-pocus, which has its special cause in the deep ignorance of the population of those countries, the whole of humanity was for so long beaten over the head until the lowest among them actually believed the lowest was the highest. And there, in the megalomania of the least important, lies the actual cause of illness in the last two decades. The contradiction of nature wreaks its vengeance; and it can only be removed by the firm grip of an authority – something that today, however, was made infinitely more difficult by the ever-widening degree of opposition. To lead the world to the imperatives of authorities, as abstract requirements, would be a task that would require the form of a Moses who at every opportunity preached and inculcated the idea of abstract divinity to the Hebrews until the people were finally able to accept it, and who did so in a way in which we have not seen since that time. — Specifically on Art! A noticeable rejection of so-called modern music frequently encountered; but in accordance with world folly, one person suggests: "back to Gregorian chant," another "back to Mozart," a third "back to melody" – by which he refers to his own or that of his son, etc. {201} The solution to the problem, that the right of the least significant people to [express] their opinion, is something that occurs to no one, given that the ignorant of today are so besotted with their minuteness, which they are themselves incapable of understanding. One can insist on understanding something and on making the necessary effort until one has understood it (see Jehudo Epstein's article in the Wiener Sonn- und Montagszeitung ) 14 and still no one has come up with the idea of asking insignificant people themselves whether the presuppositions that form their apparent point of departure are valid: whether they have thought them through correctly and intelligently, and acted accordingly, or not. To understand a bad thing is something that a thoughtful person would have to perceive as offensive and would instinctively have to demand that the insignificant persons must first come to terms with themselves before they make demands upon others. — The Strauss fiasco in Vienna already in evidence at the first performance of Fidelio – but again no one knows how to understand the causes of the interpretative mistakes, so deeply has all human capability of thinking gone astray. On the other hand, one can see the expression of a towering, all-encompassing learnedness in the works of the ancient authors! —© Translation William Drabkin. |
19. V. 19
Weltkrieg als Welt-Eselei! Bloß Hindenburg, Ludendorff Genies, der Rest der Agierenden in tiefster Eselei versunken. Das deutsche Volk allein unter den Völkern macht noch die würdigste Figur in Selbstverteidigung, die – wie der Versailler Friede zeigt – als solche richtig vorgeahnt worden, auch wenn in der Verdrehung deutscher Sozialdemokraten u. Pazifisten der Krieg sich zunächst scheinbar als Angriffskrieg dargestellt hat. – Das Betrübendste also die Katastrophe der Unbildung der Unfähigkeit! Goldscheid im „Morgen“ (19. V. 19): „ . . die moralische Niederlage der Entente“ – Unbildung ist es, wenn dieser Mann England für den Vorkämpfer von Recht u. Freiheit hält, [meint, dass] Frankreich „sein edelstes Blut für die Beseitigung aller Zwangsherrschaft opferte[“], Amerika als Verkünderin der Menschenrechte [betrachtet] u. nun glaubt „ . . alle diese Länder können nicht mit einenmal so im Grunde gewandelt sein“ 1 – darauf die Antwort: England hat die magna charta 2 nur sich gegeben, aber nicht der übrigen Welt. Das ist aber ein gewaltiger Unterschied, sofern jeder aus täglicher Erfahrung weiß, daß nicht selten Menschen, die bei sich zuhause auf Freiheit bestehen, außer Hause Tyrannei üben – ein echt menschlicher Zug; – es ist dem Engländer niemals eingefallen – Beweis: die ganze englische Geschichte, die stets nur auf Plünderung, Kaperung, Mord, Diebstahl, Bestechung gestellt war u. ist, immer unter dem Vorbehalt der eigenen Freiheit zuhause. – Frankreich wieder hat mit der Guillotine, einer echt französischen Erfindung, eine echt französische Schweinerei, die erbärmlichsten Könige der Welt zu beseitigen gehabt u. auch beseitigt, – doch was hat diese häusliche Schweinerei zu tun mit dem übrigen Europa, mit der übrigen Welt, der sie so wenig Freiheit geschenkt hat, als sie selbst sie noch bis zur Stunde besitzen. Amerika hat Menschenrechte wieder nur für sich verkündet, dagegen mit {199} Brutalität andere Staaten überfallen u. beraubt, siehe heute Wilson. — Es mehren sich Eingeständnisse u. reuige Bekenntnisse, so z. B. der „Morgen“: „ . . der schmerzlichste Zusammenbruch . . dann haben die Militaristen, die Kriegshetzer, die Alldeutschen Recht gehabt, die Vorkämpfer des Friedensgedankens, des Versöhnungswillen, der Kulturgemeinschaft, die Verhöhnten, die Zerschmetterten!“ 3 — Aehnlich bereits auch in der „Frankf. Ztg.“ u. im „Berl. Tagbl.“! — Entkräftung des englischen Vorwurfes, daß Deutschland keinen Gambetta habe – gut besorgt es die „N. Fr. Pr.“: „ . . Frankreich wurde jedoch nicht durch ein von den Feinden genehmigtes Uebereinkommen in den Waffenstillstand hineingelockt, durch den es[,] vertrauend auf Wort u. Unterschrift, abrüstete u. das Heer entließ; die Verwandlung der 14 Punkte in einen Fetzen Papier ist eine Errungenschaft der Menschenkultur im Zeitalter des neuen Völkerbunds, der mit einem Sonderbündnis zwischen Amerika, England u. Frankreich beginnt[“] 4 (wie gesagt: Eselei u. Unfähigkeit!). — Wilson angeblich bereit, die Entscheidung über Bozen u. Meran zu überprüfen! 5 Ist die Meldung richtig, so bestätigt sie nur, daß W. bei der Entscheidung zugegen war u. daß er (Eselei!) nicht gründlich – wie er selbst zugibt – die Frage geprüft hat. — Französische Freiheit „ . . noch immer der Friedenvertrag in Frankreich nicht veröffentlicht, auch der Presse u. der Kammer nicht genauer bekannt“ 6 Demokratie!! [–] „Verschleierung der Meinung Deutschlands in der Pariser Presse“! 7 — „Arb. Ztg.“: „Der Vorstoß in Indien“ 8 „Wirtschaft der Engländer in Köln“. 9 — „W. Allg. Ztg.“ Angebliche Unzuverlässigkeit der englischen Truppen. 10 — Mainz muß bei Fochs Inspizierungsreise illuminieren, in Wiesbaden feierlicher Einzug 11 – hiezu Jean Paul: Die drei Gallischen Lügen . .! — Die spezielle Eselei in Deutschland: die völlige Verkennung der nationalen Verschiedenheit – bis zur Stunde, trotz Enttäuschungen, falsche Hoffnungen auf „die Völker“ – noch immer wollen die Deutschen nicht glau- {200} ben, daß die Völker als solche, trotz Einzelindividuen, eine feste unabänderliche Prägung haben. Alle unsere großen Dichter u. Denker haben die nationale Verschiedenheit erkannt, nur die Masse sündigte in diesem Punkt u. führt sich selbst ins Verderben. Unverbesserlich z. B.: „Der Bund der geistig Tätigen“ an Barbusse (W. Allg. Ztg.). 12 — Volk: Erkennungszeichen im Heere abgeschafft u. nun genötigt, sie wieder einzuführen! s. W. Allg. Ztg.: Telegramm aus Budapest! 13 — Vielleicht am ehesten Niedergang der Kultur zu definieren als die Lockerung aller Autorität zugunsten der Einzelindividuen, in der Hoffnung das Individuum würde sich selbst genügend Autorität sein können oder eine solche entbehren können. Durch all den französischen, amerikanischen, englischen Hokuspokus, der dort in jenen Ländern in der tiefen Unbildung der Bevölkerung seine besondere Ursache hat, wurde auf die Menschheit als Ganzes so lange losgehämmert, bis sie wirklich das Unterste zu oberst zu fühlen glauben das Recht zu haben – u. da, im Größenwahn des Kleinsten – liegt der eigentliche Krankheitserreger der beiden letzten Jahrzehnte. Der Widerspruch gegen die Natur rächt sich u. kann nur behoben werden durch die Sch schmetternde Aufrichtung einer Autorität, was aber heute unendlich dadurch erschwert wurde, daß die Massen des Widerstandes immer breiter geworden sind. Die Welt zu den Imperativen der Autoritäten als abstrakte Forderungen zu führen[,] wäre eine Aufgabe, die die Gestalt eines Moses erforderte, der in einer seither nicht wieder beobachteten Weise die Idee abstrakter Gottheit dem Hebräervolk bei jeder Gelegenheit unablässig predigte u. aufzwang, bis das Volk sie endlich aufzunehmen wußte. — Speziell zur Kunst! Auffallende Absage an die sogenannte moderne Musik öfter anzutreffen, nur gemäß der Welteselei schlägt der eine vor: Rückkehr zum gregorianischen Choral, der andere Rückkehr zu Mozart, der dritte Rückkehr zur Melodik – wobei er seine eigene oder die seines Sohnes meint usw.{201} Aufflösung Auf die Lösung des Problems, daß dem Kleinsten das Recht auf Meinung bestritten werden muß, verfällt niemand, so sehr ist der Ungebildete von heute vernarrt in seine Kleinheit, die sich selbst noch unverständlich ist. Fordern, daß man sie verstehen möge u. sich solange Mühe gebe, bis man sie versteht (s. „Sonn- u. Montagsztg.“ Artikel von Jehudo Epstein) 14 u. wieder verfällt niemand auf die Idee, den betreffenden Kleinsten zu fragen, ob denn die Voraussetzungen, von denen er offenbar ausgeht, zutreffen: ob er wirklich richtig u. gut gedacht u. geschaffen habe oder nicht. Ein Schlechtes zu verstehen, müßte doch ein Gutdenkender als Beleidigung empfinden u. aus Instinkt müßte daher letzterer die Forderung aufstellen, die Kleinen mögen zuerst mit sich ins Reine kommen, ehe sie Forderungen an die andern stellen. — Das Fiasko Strauss’ in Wien schon bei der ersten Aufführung von „Fidelio“ feststellbar, – wieder aber weiß niemand zu deuten, woran die Fehler der Reproduktion liegen, so tief ist alle Fähigkeit zu denken in der Menschheit abhanden gekommen. Man sehe dagegen bei den alten Autoren den Ausdruck überwältigender umfassender Bildung! —© Transcription Marko Deisinger. |
May 19, 1919.
World war as world folly! Only Hindenburg and Ludendorff are geniuses, the rest of the players sunken in the deepest folly. The German people alone among peoples cut the most dignified figure in self-defense which, as the Versailles peace shows, was correctly predicted – even if, by the perversion of German social democrats and pacifists, the war initially seemed to present itself as a war of aggression. – The most disconcerting thing is thus the catastrophe of ignorance, of incapacity! Goldscheid in Der Morgen (May 19, 1919): "the moral defeat of the Entente" – It can only be called ignorance if this man regards England as the champion of justice and freedom; thinks that France "sacrificed its noblest blood to eliminate all tyranny"; [considers] America as the herald of human rights; and now believes that "all these nations could not all of a sudden have been so thoroughly transformed" 1 – this in reply: England gave only itself the Magna Carta, 2 not the rest of the world. That is, however, a huge difference, insofar as everyone knows from everyday experience that people quite often insist upon freedom at home but practice tyranny abroad – a genuinely human trait, which has never occurred to the English. The proof: the whole of English history, which was and still is based only on plundering, extortion, murder, theft, and bribery – always with the caveat of his own freedom at home. – With the guillotine, a genuine French invention and a genuine French disgrace, France for its part has eliminated and continues to eliminate the most pitiful kings of the world – but what does this domestic disgrace have to do with the rest of Europe, with the rest of the world, to which it has given so little freedom as it has itself possessed until this hour? America has proclaimed human rights, again, only for itself; but it has, on the other hand, brutally conquered and robbed other states; {199} look at Wilson today. — Admissions and rueful confessions multiply, thus for example in Der Morgen , "The Painful Break-Up": "[If the Peace of Versailles, as it currently appears on paper, becomes a fact,] then the champions of concept of peace, reconciliation and cultural community will be the despised and crushed ones. Then the militarists, the warmongers and the Pan-Germans will be right"! 3 — Similarly also in the Frankfurter Zeitung and in the Berliner Tageblatt ! — Rebuttal of the English criticism that Germany did not have a Gambetta – the Neue freie Presse deals well with this: "France was, however, not lured into the ceasefire by an agreement sanctioned by its enemies by which it disarmed and dismissed its army on the basis of faith in words and signatures. The transformation of the 14 Points into a scrap of paper is a product of human culture in the age of the new League of Nations, which begins with a special alliance between America, England and France" 4 (as said: folly and incompetence!). — Wilson apparently prepared to review the decision about Bozen and Meran! 5 If the report is true, then it merely confirms that Wilson was against the decision and that he (folly!) had not studied the matter thoroughly – as he himself admits. — French freedom: "… the peace treaty has still not been published in France, and its details not known by the press or the Chamber of Deputies": 6 democracy!! [–] "Concealment of Germany's Opinions in the Paris Press"! 7 — Arbeiter-Zeitung : "The Foray into India" 8 ; "The Englishmen's Commerce in Cologne." 9 — Wiener Allgemeine Zeitung : apparent untrustworthiness of the English troops. 10 — Mainz must light up on the occasion of Foch's voyage of inspiration; in Wiesbaden, a ceremonious entry 11 – in this respect, Jean Paul's "The Three Gallic Lies …"! — The particular folly in Germany: the complete lack of recognition of national difference – to this moment, in spite of disappointments, false hope in "the people"; as always, the Germans do not wish to believe that {200} the people as such, in spite of individual examples, have a firm, immutable character. All our great poets and thinkers have recognized our national difference; only the masses sinned in this respect, and they lead themselves to ruin. Incorrigible, for example, "The League of the Intellectually Active" to Barbusse (Wiener Allgemeine Zeitung). 12 — People: their distinctive marks disposed of in the army, and now in need of reintroducing them! See the telegram from Budapest in the Wiener Allgemeine Zeitung! 13 — Perhaps the decline of culture is best defined as the loosening of all authority for the benefit of individual persons, in the hope that the individual could himself be sufficient authority, or do without such a thing. As a result of all the French, American, and English hocus-pocus, which has its special cause in the deep ignorance of the population of those countries, the whole of humanity was for so long beaten over the head until the lowest among them actually believed the lowest was the highest. And there, in the megalomania of the least important, lies the actual cause of illness in the last two decades. The contradiction of nature wreaks its vengeance; and it can only be removed by the firm grip of an authority – something that today, however, was made infinitely more difficult by the ever-widening degree of opposition. To lead the world to the imperatives of authorities, as abstract requirements, would be a task that would require the form of a Moses who at every opportunity preached and inculcated the idea of abstract divinity to the Hebrews until the people were finally able to accept it, and who did so in a way in which we have not seen since that time. — Specifically on Art! A noticeable rejection of so-called modern music frequently encountered; but in accordance with world folly, one person suggests: "back to Gregorian chant," another "back to Mozart," a third "back to melody" – by which he refers to his own or that of his son, etc. {201} The solution to the problem, that the right of the least significant people to [express] their opinion, is something that occurs to no one, given that the ignorant of today are so besotted with their minuteness, which they are themselves incapable of understanding. One can insist on understanding something and on making the necessary effort until one has understood it (see Jehudo Epstein's article in the Wiener Sonn- und Montagszeitung ) 14 and still no one has come up with the idea of asking insignificant people themselves whether the presuppositions that form their apparent point of departure are valid: whether they have thought them through correctly and intelligently, and acted accordingly, or not. To understand a bad thing is something that a thoughtful person would have to perceive as offensive and would instinctively have to demand that the insignificant persons must first come to terms with themselves before they make demands upon others. — The Strauss fiasco in Vienna already in evidence at the first performance of Fidelio – but again no one knows how to understand the causes of the interpretative mistakes, so deeply has all human capability of thinking gone astray. On the other hand, one can see the expression of a towering, all-encompassing learnedness in the works of the ancient authors! —© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Rudolf Goldscheid, "Die moralische Niederlage der Entente," in: Der Morgen, No. 20, May 19, 1919, 10th year, pp. 5-6. 2 Magna Carta: a charter of rights agreed to by King John of England at Runnymede, near Windsor, on 15 June 1215. First drafted by the Archbishop of Canterbury to make peace between the unpopular king and a group of rebel barons, it promised the protection of church rights, protection for the barons from illegal imprisonment, access to swift justice, and limitations on feudal payments to the Crown, to be implemented through a council of 25 barons. 3 Judex, Der schmerzlichste Zusammenbruch, in: Der Morgen, No. 20, May 19, 1919, 10th year, p. 7; in his diary Schenker changed the word order of the quotation. 4 "Die Woche der großen Entscheidungen. Ueberreichung der deutschen Antwort am Donnerstag, Bekanntgabe des Friedensvertrages mit Deutschösterreich in den nächsten Tagen," in: Neue Freie Presse, No. 19660, May 19, 1919, p. 1. 5 "Meldung über eine Meinungsänderung Wilsons in der Frage von Bozen und Meran," in: Neue Freie Presse, No. 19660, May 19, 1919, p. 1. 6 The statement set in quotation marks agrees in content with the following article: "Das Verbot der Publikation des Friedensvertrages in Frankreich," in: Neue Freie Presse, No. 19660, May 19, 1919, p. 2. 7 "Graf Rantzau über die Verschleierung der Meinung Deutschlands in der Pariser Presse," in: Neue Freie Presse, No. 19660, May 19, 1919, p. 1. 8 "Der Vorstoß in Indien," in: Arbeiter-Zeitung, No. 137, May 19, 1919, 31th year, p. 2. 9 "Wie die Engländer in Köln wirtschaften," in: Arbeiter-Zeitung, No. 137, May 19, 1919, 31th year, p. 2. 10 "Die Zuverlässigkeit der englischen Truppen," in: Wiener Allgemeine Zeitung, No. 12322, May 19, 1919, p. 4. 11 "Die Inspizierungsreise Fochs. Mainz muß illuminieren," in: Wiener Allgemeine Zeitung, No. 12322, May 19, 1919, p. 4. 12 "An Henry Barbusse und seine Freunde!," in: Wiener Allgemeine Zeitung, No. 12322, May 19, 1919, p. 2. 13 "‚Erkennungszeichen' für Truppenführer," in: Wiener Allgemeine Zeitung, No. 12322, May 19, 1919, p. 4. 14 Jehudo Epstein, "Einiges über die Grenzen der Künste," in: Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, No. 20, May 19, 1919, 57th year, pp. 3-5. |