26. Sonntag!
Vormittags zum Rabbinat: Lie-Liechen erhält das Weigerungszeugnis; nach Schönbrunn zu Floriz, nachdem wir in der Winkelmannstraße das Mittagessen genommen; die Auskunft Fl. bezüglich Dr. Glässner lautet, daß der Betrag in czecho-slowakischer Währung erlegt werden mü ßsse; nichtsdestoweniger ersuche ich Frl. Fanny, in der Advokaturskanzlei ebenfalls zu fragen u. mir Antwort zu geben. — 1 Längst fällige Briefe verfasst; an Halm: 2 nach einer politische gehaltenen Ein- {2163} leitung zur Klavierschule; 3 diese sei von schonster [sic] Liebe zum Stoff, zum Schüler als Adepten der Kunst u. als Mensch getragen – habe den Eindruck, daß sie sich für einen Selbstlerner besser eigne, als für den Unterricht eines Lehrers; die Masse der Lehrer sei als Masse nicht disponiert, eine solche Hingabe zu leisten, selbst nicht in diesem Falle, wo ihnen im Grunde alle Mühe vom Autor bereits abgenommen worden. Ich lobe den Hinweis auf die Diminution: so wie diese den Weg der Kunst überhaupt u. des Komponisten speziell bedeutet, so sei sie auch dem Nachschaffenden unerlässlich, wenn er den Weg mitkommen will. Dagegen tadle ich in Sachen der Artikulation die Verletzung des Originals (als ein zumindest sehr gefahrvolles Beginnen), zweitens die Kürzung Bach’scher Präludien u. Inventionen auf eigene Rechnung; u. hier speziell mache ich darauf aufmerksam, wie die Kunst der Stimmführung, da inzwischen die Wagner-Moräne niedergegangen, noch nicht neuerdings so weit erstarkt sei, daß sie wagen dürfe, Bachische fortzusetzen. Es wäre aber fruchtbar, über diesen Punkt eine mündliche Unterhaltung zu pflegen. Hoffe, nach Deutschland kommen zu können. 4 An Dr. Oppel gehe auch hier von der politischen Situation aus, u. da aus der ich den Schluss ziehe, daß es den Deutschen heute an nichts so nottue, als die ihnen eigentümliche Tiefe des Geistes zu pflegen; in diesem Sinne begrüße ich jede tiefer gedachte Arbeit, die mich aus Deutschland erreicht; gehe sodann zu seinem Traktat über die Chaconne, 5 billige den Grundgedanken, sage aber, daß es fruchtbarer gewesen wäre, wenn er, statt den Quartzug weiterhin zu verfolgen, das Geheimnis der oberen Linie sich hätte angelegen sein lassen; ein Vergleich der oberen Li- {2164} nie hier u. in verwandten Arbeiten, wie Bachs Passacaglia, Brahms’ IV. Sinfonie, würde ihn auf eine eigentümliche Technik der Verbindung geführt haben, die ihm auch bei seiner eigenen Chaconne zugute gekommen wäre. Hoffe nach Deutschland zu kommen. — 6 An Deetjen: verrate ihm, daß ich an op. 101 arbeite u. an der Idee der „Kleinen Bibliothek[“] festhalte; verspreche, ihm ein Exemplar von op. 101 zu schicken u. darin auf seine Wünsche zurückzukommen. Allerdings wäre ich für das Volk erst dann, wenn das Volk wüßte, wer es ist; erst müsse es nämlich wissen, daß auch ein Kaiser, ein Bismarck 7 ebenso zu ihm gehöre, wie irgend einer, der an einem Mark-Minimum leidet! Weg vom Westen – mit Ueberzeugung – müsse die nächste Parole sein!! Was französisch, englisch usw. sei, müsse dem deutschen Volk erläutert werden, aber nicht in der Weise eines Kretzschmar, oder Bekker, sondern in meiner Weise. —© Transcription Marko Deisinger. |
26 Sunday!
To the rabbinate before lunch: Lie-Liechen receives certificate of refusal; to Schönbrunn to Floriz's, after we have eaten lunch on Winkelmannstraße; Floriz's information regarding Dr. Glässner is that the sum must be paid in Czechoslovakian currency; I nonetheless ask Fanny to ask in the law firm as well and give me an answer. — 1 Long overdue letters written; to Halm: 2 after a politically oriented introduction {2163} to the piano course; 3 the latter is carried by the deepest love for the material, to the student as one adept in art and as a person – have the impression that it is better suited for an autodidact than for instruction by a teacher; the mass of teachers is, as a mass, not disposed to show such dedication, not even in the situation where the author has basically already made the effort for them. I praise his drawing attention to diminution: the way it sheds light on the path of art in general and of the composer specifically, and is thus vital to those who will create in the future when they wish to travel down that path. On the other hand, with regard to articulation, I criticize adulteration of the original (as at least the beginning of a slippery slope), secondly the abbreviation of Bach's Preludes and Inventions on his own account; here I specifically draw attention to how the art of voice-leading, since the Wagner moraines have in the meantime come down, is currently not yet strong enough to attempt to continue with Bach-style voice-leading. It would, however, be productive to engage in dialog about this point. I hope to be able to come to Germany. 4 To Dr. Oppel also start from the political situation, and then from which I draw the conclusion that the Germans need to do nothing more desperately than cultivate their own proper intellectual depth; in this context, I welcome every more deeply considered work that reaches me from Germany; then I address his treatise on the chaconne, 5 agree with the fundamental thought, but say that it would be more productive had he focused on the secret of the upper line instead of further studying the fourth-progression; a comparison on the upper line {2164} here and in related works, such as Bach's Passacaglia, Brahm's Fourth Symphony, would have led him to a proper technique of connecting, which would have benefited him in his own chaconne as well. Hope to come to Germany. — 6 To Deetjen: let on that I am working on Op. 101 and maintain the idea of a Little Library; promise to send him a copy of Op. 101 and, on that occasion, to respond to his wishes. However, I would only be for a nation if the nation knew who it is; namely, it first has to know that an emperor, a Bismarck, 7 belongs to it just as someone who suffers from a Mark minimum! Away from the West – with conviction – should be the next slogan!! It should be explained to the German nation what French, English, etc. is, but not in the manner of a Kretzschmar, or Bekker, but as I do. —© Translation Scott Witmer. |
26. Sonntag!
Vormittags zum Rabbinat: Lie-Liechen erhält das Weigerungszeugnis; nach Schönbrunn zu Floriz, nachdem wir in der Winkelmannstraße das Mittagessen genommen; die Auskunft Fl. bezüglich Dr. Glässner lautet, daß der Betrag in czecho-slowakischer Währung erlegt werden mü ßsse; nichtsdestoweniger ersuche ich Frl. Fanny, in der Advokaturskanzlei ebenfalls zu fragen u. mir Antwort zu geben. — 1 Längst fällige Briefe verfasst; an Halm: 2 nach einer politische gehaltenen Ein- {2163} leitung zur Klavierschule; 3 diese sei von schonster [sic] Liebe zum Stoff, zum Schüler als Adepten der Kunst u. als Mensch getragen – habe den Eindruck, daß sie sich für einen Selbstlerner besser eigne, als für den Unterricht eines Lehrers; die Masse der Lehrer sei als Masse nicht disponiert, eine solche Hingabe zu leisten, selbst nicht in diesem Falle, wo ihnen im Grunde alle Mühe vom Autor bereits abgenommen worden. Ich lobe den Hinweis auf die Diminution: so wie diese den Weg der Kunst überhaupt u. des Komponisten speziell bedeutet, so sei sie auch dem Nachschaffenden unerlässlich, wenn er den Weg mitkommen will. Dagegen tadle ich in Sachen der Artikulation die Verletzung des Originals (als ein zumindest sehr gefahrvolles Beginnen), zweitens die Kürzung Bach’scher Präludien u. Inventionen auf eigene Rechnung; u. hier speziell mache ich darauf aufmerksam, wie die Kunst der Stimmführung, da inzwischen die Wagner-Moräne niedergegangen, noch nicht neuerdings so weit erstarkt sei, daß sie wagen dürfe, Bachische fortzusetzen. Es wäre aber fruchtbar, über diesen Punkt eine mündliche Unterhaltung zu pflegen. Hoffe, nach Deutschland kommen zu können. 4 An Dr. Oppel gehe auch hier von der politischen Situation aus, u. da aus der ich den Schluss ziehe, daß es den Deutschen heute an nichts so nottue, als die ihnen eigentümliche Tiefe des Geistes zu pflegen; in diesem Sinne begrüße ich jede tiefer gedachte Arbeit, die mich aus Deutschland erreicht; gehe sodann zu seinem Traktat über die Chaconne, 5 billige den Grundgedanken, sage aber, daß es fruchtbarer gewesen wäre, wenn er, statt den Quartzug weiterhin zu verfolgen, das Geheimnis der oberen Linie sich hätte angelegen sein lassen; ein Vergleich der oberen Li- {2164} nie hier u. in verwandten Arbeiten, wie Bachs Passacaglia, Brahms’ IV. Sinfonie, würde ihn auf eine eigentümliche Technik der Verbindung geführt haben, die ihm auch bei seiner eigenen Chaconne zugute gekommen wäre. Hoffe nach Deutschland zu kommen. — 6 An Deetjen: verrate ihm, daß ich an op. 101 arbeite u. an der Idee der „Kleinen Bibliothek[“] festhalte; verspreche, ihm ein Exemplar von op. 101 zu schicken u. darin auf seine Wünsche zurückzukommen. Allerdings wäre ich für das Volk erst dann, wenn das Volk wüßte, wer es ist; erst müsse es nämlich wissen, daß auch ein Kaiser, ein Bismarck 7 ebenso zu ihm gehöre, wie irgend einer, der an einem Mark-Minimum leidet! Weg vom Westen – mit Ueberzeugung – müsse die nächste Parole sein!! Was französisch, englisch usw. sei, müsse dem deutschen Volk erläutert werden, aber nicht in der Weise eines Kretzschmar, oder Bekker, sondern in meiner Weise. —© Transcription Marko Deisinger. |
26 Sunday!
To the rabbinate before lunch: Lie-Liechen receives certificate of refusal; to Schönbrunn to Floriz's, after we have eaten lunch on Winkelmannstraße; Floriz's information regarding Dr. Glässner is that the sum must be paid in Czechoslovakian currency; I nonetheless ask Fanny to ask in the law firm as well and give me an answer. — 1 Long overdue letters written; to Halm: 2 after a politically oriented introduction {2163} to the piano course; 3 the latter is carried by the deepest love for the material, to the student as one adept in art and as a person – have the impression that it is better suited for an autodidact than for instruction by a teacher; the mass of teachers is, as a mass, not disposed to show such dedication, not even in the situation where the author has basically already made the effort for them. I praise his drawing attention to diminution: the way it sheds light on the path of art in general and of the composer specifically, and is thus vital to those who will create in the future when they wish to travel down that path. On the other hand, with regard to articulation, I criticize adulteration of the original (as at least the beginning of a slippery slope), secondly the abbreviation of Bach's Preludes and Inventions on his own account; here I specifically draw attention to how the art of voice-leading, since the Wagner moraines have in the meantime come down, is currently not yet strong enough to attempt to continue with Bach-style voice-leading. It would, however, be productive to engage in dialog about this point. I hope to be able to come to Germany. 4 To Dr. Oppel also start from the political situation, and then from which I draw the conclusion that the Germans need to do nothing more desperately than cultivate their own proper intellectual depth; in this context, I welcome every more deeply considered work that reaches me from Germany; then I address his treatise on the chaconne, 5 agree with the fundamental thought, but say that it would be more productive had he focused on the secret of the upper line instead of further studying the fourth-progression; a comparison on the upper line {2164} here and in related works, such as Bach's Passacaglia, Brahm's Fourth Symphony, would have led him to a proper technique of connecting, which would have benefited him in his own chaconne as well. Hope to come to Germany. — 6 To Deetjen: let on that I am working on Op. 101 and maintain the idea of a Little Library; promise to send him a copy of Op. 101 and, on that occasion, to respond to his wishes. However, I would only be for a nation if the nation knew who it is; namely, it first has to know that an emperor, a Bismarck, 7 belongs to it just as someone who suffers from a Mark minimum! Away from the West – with conviction – should be the next slogan!! It should be explained to the German nation what French, English, etc. is, but not in the manner of a Kretzschmar, or Bekker, but as I do. —© Translation Scott Witmer. |
Footnotes1 Jeanette writes an emdash, then continues writing without paragraph-break. 2 = DLA 69.930/8, October 27, 1919. See also: Hellmut Federhofer, Heinrich Schenker nach Tagebüchern und Briefen ... (Hildesheim: Georg Olms, 1985), pp. 139–140. 3 August Halm, Klavierübung – Ein Lehrgang des Klavierspiels nach neuen Grundsätzen, zugleich erste Einführung in die Musik (Stuttgart: Zumsteeg, 1918/19). 4 Jeanette writes an emdash, then continues writing without paragraph-break. 5 Reinhard Oppel, "Das Thema der Violinchaconne und seine Verwandten," in: Bach-Jahrbuch 15 (Leipzig 1918), pp. 97–116. 6 Jeanette writes an emdash, then continues writing without paragraph-break. 7 The Bismarck family was a German noble family descendant from Herebord von Bismarck, the first verifiable holder of the name from the 13th century. A Prussian Junker family until 1871, their most notable member was Otto von Bismarck who gained the status of Count of Bismarck. |