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Von Dr. Baumgarten; (Br.= OC 52/812): die Antwort= OC 52/813 von Dr. Scheu: Hertzka wünscht mich allein zu empfangen, ohne Anwälte! — An Baumgarten; (expr. Br.): der Entwurf= OC 52/828 zu demütig – ich mache keinen Canossagang 1 , bitte klagen! — Von d’Ora die zwei kleinen Bildchen u. die Rechnung, in Summa: {2889} 174.42 Schillinge u. 50 Sch. = 224.42 Schillinge!! — Um ¼8h abends holt uns Hoboken ab. Die Wohnung, ein Sammelobjekt des Prälaten von Heiligenkreuz, ist von buchstäblich erhebender Schönheit: die Weite u. Höhe der Räume, das Wundervolle der Einrichtungsstücke müßte den Seelen einen Auftrieb verleihen – jedenfalls verlieren sich zwei Menschen wie Hoboken u. seine Frau in diesen Räumen gänzlich. Für Zwecke der Arbeit schützt er sich durch aAufstellung von spanischen Wänden, wodurch er sich ein kleines Arbeitskabinettchen schafft. Nicht weniger als vier Instrumente stehen im großen Saal, ein wundervoller Steinwayflügel, ein Streicher aus dem Jahre 1825, ein neugebautes Cembalo u. ein ebensolches Clavichord. Ein paar Proben auf den Instrumenten haben mir auch ohne Kenntnis der Pedalkünste den Verlauf der Instrumenten-Geschichte in nuce ausreichend erläutert. Das Klavier ermöglicht Registerwechsel gleichsam von Ton zu Ton, das Cembalo legt ein Register für lange Zeit fest. 2 Anschlagsnuançen, die z. B. Frau Landowska geleugnet hat, sind sehr wohl auch auf dem Cembalo ausführbar. — 3 Auf dem Eßtisch standen keine Blumen, Käse u. Obst fehlten, destomehr Getränke wurden vorgeführt! Lie-Liechen erzählt, daß die Dame eine große Toilette trug u. kostbare Steine – mir ist das alles entgangen, u. damit berühre ich einen schmerzlichen Punkt, der mir in meinem Leben viel Schaden eingetragen. Durch die starke Kurzsichtigkeit von der Außenwelt so ziemlich abgeschlossen, hatte ich den Nachteil, nicht allein für die Zwecke der eigenen Bereicherung an Wissen u. zur Hebung der Freude, sondern auch für die billigern [sic] Zwecke der geselligen Unterhaltung draußen oder im Hause Dinglichkeiten zu entbehren, die den gut-Sehenden reichlichen Stoff bieten. Diese Ausschaltung der Außenwelt raubt mir nicht nur den Gesprächsstoff, sondern zwingt mich, Ersatz dafür aus rein {2890} geistigen, mehr begrifflichen Welten heraufzuholen. Das ist es, was mich körperlich so anstrengt u. vor der Welt überflüssig schwer erscheinen läßt. Kommt dazu, daß ich diese Schwere, um sie halbwegs genießbar zu machen, in angenehmer Form darzureichen verpflichtet bin, so begreift man die Schwere der Anstrengung. In Hobokens Wohnung hätte ich wahrlich Stoff für Jahre hinaus gefunden, wenn mein Auge die Fähigkeit hätte, die Schönheiten aufzunehmen. Ich setze voraus, daß ich eben von Jugend auf des Segens guter Augen teilhaftig gewesen wäre u. also auch Bilder der Architektur, Dekoration u. dgl. in mir wohlgeordnet u. erlebt getragen hätte. Leider war mir das Eindringen in alle andern Künste außer der der Musik durch Versagen der Augen verwehrt, [illeg]wofür ich schweren Ersatz zu leisten habe. Um 12h sind wir zuhause. – Im Laufe des Gesprächs gebe ich mit wohlberechneter Absicht die Wahrheit zum Besten, daß sich der Mensch gleich der Pflanze verwurzeln müßte, wenn er nicht sich u. dem andern verloren gehen will. Der Herr u. die Dame haben zugestimmt, doch glaube ich nicht, daß sie je die volle Einsicht in diese Wahrheit zu erleben berufen sind. —© Transcription Marko Deisinger. |
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From Dr. Baumgarten; (letter= OC 52/812): the answer= OC 52/813 from Dr. Scheu: Hertzka would like to receive me on my own, without attorneys present! — To Baumgarten; (express letter): the draft= OC 52/828 [is] too humble – I shall not suffer any humiliation 1 , ask him to take legal action! — From d’Ora the two small pictures and the invoice, in total: {2889} 174.42 shillings and 50 shillings = 224.42 shillings!! — At 7:45 in the evening Hoboken collects us. His apartment, collector’s item of the Prelate of Heiligenkreuz, is an object of utterly uplifting beauty: the breadth and height of the rooms, the wonderful quality of the furnishings would only be uplifting to the soul – at any rate two people like Hoboken and his wife are completely lost in these rooms. For purposes of his work, he protects himself by erecting Spanish walls, by which he creates a small box-room. No fewer than four instruments stand in the main room: a wonderful Steinway piano, a Streicher piano built in 1825, a modern harpsichord and a similarly new clavichord. A few test playings of the instruments have given me, even without knowledge of the art of pedal construction, sufficient instruction in nuce in the course of [keyboard] instrument history. The piano makes possible a change of register almost from one tone to the next; the harpsichord maintains one register over a long stretch. 2 Nuances of touch, which Landowska, for example, has denied, are very much achievable also on the harpsichord. — 2 On the dining table there were no flowers; cheese and fruit were missing; instead, more drinks were presented! Lie-Liechen recounts that the lady wore a full dress and precious jewels – all this was lost on me, and with it I touch a sore point that has brought me much hurt in my life. So alienated from the outside world by my severe nearsightedness, I had the disadvantage of having to do without material objects that offer rich material to those with good eyesight – not merely for the purposes of my own enrichment of knowledge and greater joy, but also for the more mundane purposes of social conversation at or away from home. This exclusion of the outside world not only robs me of material for conversation but also compels me to seek alternatives from purely {2890} intellectual, more conceptual worlds. This is what I find physically so strenuous, and what makes me [my work] seems so unnecessarily difficult for the world. If in addition I am obliged to proffer this difficulty in a more agreeable form, in order to make it halfway enjoyable, then one can understand the difficulty of this exertion. In Hoboken’s apartment I would have verily found material that would have lasted years, if my eyes had the capability in taking in its beauties. I am presupposing by this that I had been blessed by the joy of good eyesight even in my youth, and therefore would have taken in pictures of architecture, the decorative arts and the like well-ordered and [well] experienced manner. At midnight we return home. – In the course of the conversation I proffer, with well-calculated intention, the truth that a human being, like a plant, must take root if he does not want to get lost in himself or among others. The gentleman and the lady agreed, but I do not believe that they are destined to experience the full insight into this truth. —© Translation William Drabkin. |
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Von Dr. Baumgarten; (Br.= OC 52/812): die Antwort= OC 52/813 von Dr. Scheu: Hertzka wünscht mich allein zu empfangen, ohne Anwälte! — An Baumgarten; (expr. Br.): der Entwurf= OC 52/828 zu demütig – ich mache keinen Canossagang 1 , bitte klagen! — Von d’Ora die zwei kleinen Bildchen u. die Rechnung, in Summa: {2889} 174.42 Schillinge u. 50 Sch. = 224.42 Schillinge!! — Um ¼8h abends holt uns Hoboken ab. Die Wohnung, ein Sammelobjekt des Prälaten von Heiligenkreuz, ist von buchstäblich erhebender Schönheit: die Weite u. Höhe der Räume, das Wundervolle der Einrichtungsstücke müßte den Seelen einen Auftrieb verleihen – jedenfalls verlieren sich zwei Menschen wie Hoboken u. seine Frau in diesen Räumen gänzlich. Für Zwecke der Arbeit schützt er sich durch aAufstellung von spanischen Wänden, wodurch er sich ein kleines Arbeitskabinettchen schafft. Nicht weniger als vier Instrumente stehen im großen Saal, ein wundervoller Steinwayflügel, ein Streicher aus dem Jahre 1825, ein neugebautes Cembalo u. ein ebensolches Clavichord. Ein paar Proben auf den Instrumenten haben mir auch ohne Kenntnis der Pedalkünste den Verlauf der Instrumenten-Geschichte in nuce ausreichend erläutert. Das Klavier ermöglicht Registerwechsel gleichsam von Ton zu Ton, das Cembalo legt ein Register für lange Zeit fest. 2 Anschlagsnuançen, die z. B. Frau Landowska geleugnet hat, sind sehr wohl auch auf dem Cembalo ausführbar. — 3 Auf dem Eßtisch standen keine Blumen, Käse u. Obst fehlten, destomehr Getränke wurden vorgeführt! Lie-Liechen erzählt, daß die Dame eine große Toilette trug u. kostbare Steine – mir ist das alles entgangen, u. damit berühre ich einen schmerzlichen Punkt, der mir in meinem Leben viel Schaden eingetragen. Durch die starke Kurzsichtigkeit von der Außenwelt so ziemlich abgeschlossen, hatte ich den Nachteil, nicht allein für die Zwecke der eigenen Bereicherung an Wissen u. zur Hebung der Freude, sondern auch für die billigern [sic] Zwecke der geselligen Unterhaltung draußen oder im Hause Dinglichkeiten zu entbehren, die den gut-Sehenden reichlichen Stoff bieten. Diese Ausschaltung der Außenwelt raubt mir nicht nur den Gesprächsstoff, sondern zwingt mich, Ersatz dafür aus rein {2890} geistigen, mehr begrifflichen Welten heraufzuholen. Das ist es, was mich körperlich so anstrengt u. vor der Welt überflüssig schwer erscheinen läßt. Kommt dazu, daß ich diese Schwere, um sie halbwegs genießbar zu machen, in angenehmer Form darzureichen verpflichtet bin, so begreift man die Schwere der Anstrengung. In Hobokens Wohnung hätte ich wahrlich Stoff für Jahre hinaus gefunden, wenn mein Auge die Fähigkeit hätte, die Schönheiten aufzunehmen. Ich setze voraus, daß ich eben von Jugend auf des Segens guter Augen teilhaftig gewesen wäre u. also auch Bilder der Architektur, Dekoration u. dgl. in mir wohlgeordnet u. erlebt getragen hätte. Leider war mir das Eindringen in alle andern Künste außer der der Musik durch Versagen der Augen verwehrt, [illeg]wofür ich schweren Ersatz zu leisten habe. Um 12h sind wir zuhause. – Im Laufe des Gesprächs gebe ich mit wohlberechneter Absicht die Wahrheit zum Besten, daß sich der Mensch gleich der Pflanze verwurzeln müßte, wenn er nicht sich u. dem andern verloren gehen will. Der Herr u. die Dame haben zugestimmt, doch glaube ich nicht, daß sie je die volle Einsicht in diese Wahrheit zu erleben berufen sind. —© Transcription Marko Deisinger. |
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From Dr. Baumgarten; (letter= OC 52/812): the answer= OC 52/813 from Dr. Scheu: Hertzka would like to receive me on my own, without attorneys present! — To Baumgarten; (express letter): the draft= OC 52/828 [is] too humble – I shall not suffer any humiliation 1 , ask him to take legal action! — From d’Ora the two small pictures and the invoice, in total: {2889} 174.42 shillings and 50 shillings = 224.42 shillings!! — At 7:45 in the evening Hoboken collects us. His apartment, collector’s item of the Prelate of Heiligenkreuz, is an object of utterly uplifting beauty: the breadth and height of the rooms, the wonderful quality of the furnishings would only be uplifting to the soul – at any rate two people like Hoboken and his wife are completely lost in these rooms. For purposes of his work, he protects himself by erecting Spanish walls, by which he creates a small box-room. No fewer than four instruments stand in the main room: a wonderful Steinway piano, a Streicher piano built in 1825, a modern harpsichord and a similarly new clavichord. A few test playings of the instruments have given me, even without knowledge of the art of pedal construction, sufficient instruction in nuce in the course of [keyboard] instrument history. The piano makes possible a change of register almost from one tone to the next; the harpsichord maintains one register over a long stretch. 2 Nuances of touch, which Landowska, for example, has denied, are very much achievable also on the harpsichord. — 2 On the dining table there were no flowers; cheese and fruit were missing; instead, more drinks were presented! Lie-Liechen recounts that the lady wore a full dress and precious jewels – all this was lost on me, and with it I touch a sore point that has brought me much hurt in my life. So alienated from the outside world by my severe nearsightedness, I had the disadvantage of having to do without material objects that offer rich material to those with good eyesight – not merely for the purposes of my own enrichment of knowledge and greater joy, but also for the more mundane purposes of social conversation at or away from home. This exclusion of the outside world not only robs me of material for conversation but also compels me to seek alternatives from purely {2890} intellectual, more conceptual worlds. This is what I find physically so strenuous, and what makes me [my work] seems so unnecessarily difficult for the world. If in addition I am obliged to proffer this difficulty in a more agreeable form, in order to make it halfway enjoyable, then one can understand the difficulty of this exertion. In Hoboken’s apartment I would have verily found material that would have lasted years, if my eyes had the capability in taking in its beauties. I am presupposing by this that I had been blessed by the joy of good eyesight even in my youth, and therefore would have taken in pictures of architecture, the decorative arts and the like well-ordered and [well] experienced manner. At midnight we return home. – In the course of the conversation I proffer, with well-calculated intention, the truth that a human being, like a plant, must take root if he does not want to get lost in himself or among others. The gentleman and the lady agreed, but I do not believe that they are destined to experience the full insight into this truth. —© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Canossagang (walk to Canossa): an act of penance or submission. 2 "das Cembalo legt ein Register für lange Zeit fest": the word “Zeit” here suggests not time but musical interval: one can imagine Schenker playing a scale on the harpsichord and finding that the “register” (i.e. tone quality) of the instrument is fairly constant over a large part of its compass, in comparison with the Streicher piano. 3 Jeanette enters an emdash then continues writing without paragraph-break. |